Kinder gehören zu den treuesten Abnehmern der Pommes-Industrie, auch wenn sie selten – zur Geschmackbildung unerlässlich – in den Genuss wirklich guter Pommes Frites kommen. Bei Ikea wären sie dennoch fast von der Speisekarte geflogen.
Das Königreich Belgien ist ein seltsames Land. Seine Bewohner fahren mit komischen, roten Nummernschildern herum, sie haben einen König, den niemand kennt und Regierungen, die ständig am Abgrund stehen wegen der schwer überbrückbaren Unterschiede dreier verfeindeter Sprachgruppen, der deutschen, der französischen und der flämischen, sowie den Ansprüchen von Heerscharen afrikanischer Einwanderer des einstigen belgischen Kolonialreiches. Mittendrin eine Hauptstadt, die aussieht wie eine Kreuzung von Rotenburg ob der Tauber und Bukarest zur Zeit des Ceausescu-Regimes.
Gastronomisch spielen die Belgier freilich in der allerersten Liga, vor allem in Brüssel kommt man kaum vorbei an den vielen Sternerestaurants, wo sich die Spesenritter der EU-Bürokratie zu Lasten europäischer Werktätiger zu verköstigen pflegen. Schlankheitsapostel und Öko-Asketen sollten die Stadt meiden – an jeder Straßenecke stolpert man in einen Süßigkeitenladen, aus dessen Schaufenstern einen die berühmten belgischen Pralinen anlachen, die vor allem eins sind: groß und süß. Dann gibt es überall Verkaufsstände für karamellisierte Waffeln (Gaufres de Liège), die auch locker eine Hauptmahlzeit ersetzen und – Pommesbuden.
Wie die Belgier zu dem Ruf gekommen sind, die Pommes frites erfunden zu haben, weiß ich nicht. Natürlich gibt es für die Genese der „Vlaamse frites“ eine hübsche Geschichte. Angeblich geht aus einem Dokument aus dem Jahre 1781 hervor, dass Pommes Frites in einem Jahr mit schlechtem Fischfang entstanden sein sollen. Die Belgier hätten ihren Fisch, so heißt es, immer in viel Fett ausgebacken. In einem langen Winter seien einmal die Fischvorräte zur Neige gegangen und weil Seen und Flüsse zugefroren waren, sei man auf die rettende Idee verfallen, Kartoffeln, die „ursprüngliche Beilage“, zu frittieren statt der Fische. Ich halte diese Geschichte für zweifelhaft, allein schon deswegen, weil reichlich Fett zur damaligen Zeit Luxus war.
Der Ursprung der Pommes Frites wird wohl im Dunkeln bleiben. Dafür ist das Geheimnis ihrer Herstellung allgemein bekannt: Man schneidet Kartoffeln in längliche Schnitze und wirft sie in siedendes Fett, anschließend werden sie gesalzen und mit Mayonnaise oder Tomatenketchup verzehrt, gerne im Gehen. So weit, so einfach. Doch wie immer liegt der Unterschied im Detail. Original belgische Pommes, die als die besten der Welt gelten, werden vor dem Frittieren zunächst längere Zeit gewässert und dann zweimal hintereinander ins heiße Fettbad geworfen. Diese Prozedur soll gewährleisten, dass sie außen schön knusprig und innen noch flaumig-weich sind und der kartoffelige Geschmack nicht verloren geht.
Europaweiter Aufstand der Steppkes
Natürlich kann man auch bei einem vorderhand simplen Rezept alles falsch machen, angefangen bei der Kartoffelsorte – die Belgier nehmen dafür traditionell Bintje, eine Kartoffelsorte, die zwischen dem Typ „mehlig kochend“ und „vorwiegend festkochend“ einzuordnen ist. Entscheidend ist auch die Qualität und Frische des Fetts, das zum Frittieren benötigt wird, wobei es nicht unbedingt das in Belgien oft verwendete Rindernierenfett sein muss. Neuerdings gibt es Heißluftfritteusen, die ohne schwimmendes Fett funktionieren sollen. In ihnen wird das Gargut, ähnlich wie bei den sogenannten Ofenpommes, mehr gedörrt als frittiert – keine echte Alternative zur klassischen Fritteuse.
In der berühmten Maison Antoine Accueil an der Place Jourdan in Brüssel-Etterbeek gibt es zu den dort kredenzten Pommes eine Rekord verdächtige Auswahl von Saucen, von der klassischen Mayo über modische Currytunke bis zur scharfen Sauce Samourai. Eine besondere Spezialität in Belgien und Nordfrankreich sind Moules Frites. Dabei handelt es sich wohlgemerkt nicht um frittierte Miesmuscheln, sondern um in herkömmlicher Weise in einem Weißweinsud gegarte Muscheln, zu denen eine Riesenportion Pommes Frites serviert wird: eigentlich nur etwas für den ganz großen Hunger zwischendurch.
Auf jeden Fall braucht es dazu mehrere Gläser des ebenfalls berühmten belgischen Bieres. Belgisches Bier. Die Vielfalt an Biersorten ist in Belgien, das kein rigoroses Reinheitsgebot kennt, ungleich größer als hierzulande. Ich mag am liebsten die gehaltvollen Trappistenbiere, denen in der Flasche Hefe für eine zweite Gärung zugesetzt wird, etwa die Marke La Trappe aus der Trappistenabtei Tilburg mit Alkoholgradationen von bis zu elf Volumenprozent. Gewöhnungsbedürftig sind belgische Biere, die mit Fruchtkonzentraten versetzt sind und nach Himbeere, Erdbeere oder Schwarzer Johannisbeere schmecken. Eher etwas für Kinder, um sie möglichst früh an Bier und Wein heranzuführen und vom genussschädlichen Antialkoholismus abzubringen.
Kinder gehören traditionell zu den treuesten Abnehmern der Pommes-Industrie, auch wenn sie selten – zur Geschmackbildung unerlässlich – in den Genuss wirklich guter Pommes Frites kommen. Sollte das Beispiel einer Würzburger Ikea-Filiale Schule machen, die Pommes Frites vom Speiseplan ihres Schnellrestaurants strich und durch Salzkartoffeln ersetzte, die angeblich mit viermal weniger klimaschädlichem CO2 belastet sein sollen, dürfte ein bundes-, wenn nicht europaweiter Aufstand der Steppkes ins Haus stehen. Annalena und der Robert sollten es sich sehr gut überlegen, ob sie auf den Zug aufzuspringen und nach dem Duschen auch den Pommes-Konsum aus Gründen des Klimaschutzes reglementieren sollten. Das könnte nämlich nicht nur erhebliche Einbußen bei den Jungwählern bringen, sondern auch eine scharfe Protestnote der belgischen Botschaft. Die Belgier mögen für ihre Witze bekannt sein – beim Essen hört für sie der Spaß auf, definitiv.
Georg Etscheit schreibt jetzt auch für www.aufgegessen.info, den von ihm mit gegründeten gastrosophischen Blog für freien Genuss.