Maroni sind Nüsse! Doch im Gegensatz zu Hasel- und Walnüssen haben sie deutlich weniger Fett, dafür mehr als vierzig Prozent Stärke und bis zu fünf Prozent Zucker. Infolge ihrer sättigenden Eigenschaften galten sie vor Einführung der Kartoffel als „Brot der Armen“.
Die kulinarische Weihnachtszeit beginnt nicht nur mit den obligatorischen Paletten industriell gefertigten Weihnachtsgebäcks nebst Schoko-Hohlkörpern, die schon im Sommer produziert wurden, sondern mit den Maroniständen in den Fußgängerzonen. An den Feiertagen ist es dann eine offenbar unverrückbare Tradition, Weihnachtsgänse mit einer derben Mischung aus sauren Äpfeln und Esskastanien zu füllen, eine der am wenigsten delikaten Methoden, so etwas Delikates wie Maroni zuzubereiten. Folgerichtig ist die Füllung oft das einzige, was von einem opulenten Gansessen übrigbleibt.
Sehr beliebt sind Maroni hierzulande auch als obligatorische Beilage zu Wildgerichten, nebst Rotkohl und Preiselbeerkompott. Doch damit sind die Möglichkeiten, die in rohem Zustand ungenießbaren Esskastanien in schmackhafte Speisen zu verwandeln, lange nicht erschöpft. Sie eignen sich genauso gut für feine Suppen und Desserts oder, ganz einfach, als Sättigungsbeilage zu Fleischgerichten anstelle von Kartoffeln.
Zu Mehl vermahlen, kann man aus Kastanien auch Brot und Kuchen backen - wie einen toskanischen Castagnaccio - oder Pasta herstellen. Dabei ist ein gewisser Anteil „normalen“ Getreidemehls zumindest beim Brotbacken unerlässlich ist. In Italien, wo die Wärme liebende Pflanze prächtig gedeiht, ist Kastanienmehl ein fester Bestandteil der „cucina povera“, der Arme-Leute-Küche. Die erfährt heute in veredelter Form eine Wiedergeburt und begeistert ob ihrer Einfachheit und Konzentration auf den puren Geschmack vor allem gut situierte Städter.
Auch wenn sie nördlich des Alpenbogens als „Wintergemüse“ gelten, kann man Maroni das ganze Jahr hindurch essen, wenn man auf bereits geschälte und vorgekochte Ware aus dem Glas oder der Vakuumpackung zurückgreift, was eine Menge Arbeit erspart. Ich würde immer Maroni aus dem Glas bevorzugen, weil sie nicht so zerdrückt sind wie die aus dem Vakuumbeutel. In Frankreich gibt es sie in jedem Supermarkt, bei uns, in Gläsern, nur im Biomarkt.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Botanisch handelt es sich bei den Früchten des Edelkastanienbaumes nicht um „Gemüse“. Maroni sind Nüsse! Im Gegensatz zu Hasel- und Walnüssen haben sie deutlich weniger Fett, dafür mehr als vierzig Prozent Stärke und bis zu fünf Prozent Zucker. Infolge ihrer sättigenden Eigenschaften galten sie vor Einführung der Kartoffel als „Brot der Armen“. Ein großer Kastanienbaum mit 150 bis 200 Kilogramm Früchten könne, so sagte man im einst bitter armen Südtirol, eine ganze Familie ernähren.
Ursprünglich im Kaukasus beheimatet
Die Esskastanie ist ein sehr schöner und wuchsstarker Baum mit großen, lanzettartigen Blättern, die im Herbst in leuchtendem Gelb, Rot und Orange erglühen. Dann öffnen sich auch die stacheligen Fruchtbecher und lassen ihre dunkelbraun glänzenden Früchte, meist drei an der Zahl, zu Boden fallen. Zuweilen kann man die halb geöffneten, hellgrünen Stachelbälle beim Blumenhändler kaufen, als Dekoware. Dabei sollte man nicht auf die Idee kommen, sie mit bloßen Händen allzu fest anzufassen.
Wildwachsend war die Edelkastanien ursprünglich im Kaukasus beheimatet und wurde spätestens von den alten Griechen im ganzen Mittelmeerraum kultiviert. Die Römer sollen sie als Proviant für ihre Soldaten geschätzt haben: In deren Tornistern schafften sie den Sprung über die Alpen, nach Frankreich, aber auch nach Deutschland und Österreich.
In Deutschland gibt es größere Esskastanienbestände vor allem in der Pfalz entlang des Rheins. Dort sind Maroni ein fester Bestandteil der Regionalküche geworden. Die Metzgerei „Hambel“ in Wachenheim, wo sich einst Bundeskanzler Helmut Kohl mit seinem geliebten „Saumagen“ eindeckte, bietet diese Spezialität auch in einer Variante an, bei der die Fleisch-Kartoffel-Füllung mit Kastanien verfeinert wird.
Maroni zu Hause im Backofen rösten?
Die einfachste Art, Maroni zu genießen, ist es, sie als Wegzehrung an einem der in fast allen größeren Städten verbreiteten Marionistände zu kaufen. In Deutschland werden sie meist auf mit Gas beheizten Blechen geröstet. Das ist, wie es sich in Deutschland gehört, sicher und sauber. Besser schmecken sie, wenn sie auf einem halb offenem Holzfeuer braten. In Österreich gibt es noch diese uralte Art der Zubereitung auf Straßen und Plätzen. Sie verweist auf die Tradition der aus dem Gebiet des heutigen Slowenien kommenden Maronibrater. Die meisten stammten aus Gotschee, einer deutschen Sprachinsel im damaligen Herzogtum Krain. Sie besaßen seit Beginn des 17. Jahrhunderts ein Wanderhändler-Privileg für Maroni.
Mehr als 300 Gotscheer Maronibrater soll es um 1900 in Wien gegeben haben. Mit dem Ruf „Brennhaße Kästen“ – in Südtirol heißen Kastanien auch heute noch „Keschten“ – warben sie neben ihren primitiven, mit Holz geheizten Röstöfen um genusswillige Kunden. Verpackt wurden die heißen Brocken in „Stanitzl“ genannte, papierne Spitztüten. Maronibrater wurden zu populären Figuren insbesondere des Wiener Straßenlebens und fanden sogar Eingang in die Literatur.
Wer die Arbeit nicht scheut, kann frische Kastanien auch bei sich zu Hause im Backofen rösten. Dafür muss man ihre zähe Schale an der gewölbten Seite mit einem scharfen Messer anritzen, was manchmal blutige Finger zur Folge hat. Dann brät man sie auf einem Backblech etwa eine halbe Stunde, wobei man die Luft im Ofen mittels einer Schale Wasser anfeuchten sollte, damit die Maroni nicht austrocknen. Alternativ kann man die Maroni schälen und in Wasser gar kochen, allerdings sollte man vor Verzehr oder Weiterverarbeitung noch die braune, Gerbstoff reiche Haut entfernen. Das ist alles zugegebenermaßen eine ziemliche Sauerei, die man sich ersparen kann, wenn man zu guten Konserven greift.
„Vermicelles“
Möchte man Maroni als Beilage essen, sollte Zucker mit Butter und vielleicht noch ein wenig Fleisch- oder Gemüsefonds karamellisieren lassen und die Kastanien darin „glacieren“. Man kann auf diese Weise zubereitete Maroni nicht nur zu Wild reichen, sondern auch zu einem Kalbsbraten oder einem schönen, durchwachsenen Schweineschnitzel. Dazu vielleicht noch etwas frisches Stangenbrot, wie bei den Franzosen, wo die Küche der Auvergne, des Limousin und der Ardèche viele Kastanienrezepte kennt. Darunter eine Kastaniensuppe: Kastanien mit Wurzelgemüsen und Gewürzen in Wasser garkochen, das Gemüse pürieren und mit Eigelb und Sahne aufmixen. Ein Schuss weißen Portweins veredelt diese Suppe mit Suchtfaktor zu einer recht feinen Speise fernab der Arme-Leute-Küche.
Vor allem in der Schweiz gibt es ein Kastaniendessert, das seinesgleichen sucht, allerdings extrem gehaltvoll ist. Es heißt „Vermicelles“, was so viel bedeutet wie „Würmchen“ und aussieht wie bräunliches Spaghetti-Eis. Es handelt sich um süßes Maronipüree, das mit Kirschwasser und Vanille aromatisiert und zusammen mit Schlagrahm auf einer Baiserunterlage serviert wird.
Bei den Schweizern ist diese Süßspeise so beliebt, dass man Maronipüree vorgefertigt in jedem Supermarkt bekommt, oft in wurstähnlichen Hüllen, die man nur noch in eine passende Vermicelles-Presse stecken muss. Man sollte die Kastanien-Wurst nur nicht mit in ähnlicher Weise abgepacktem Fensterkitt verwechseln, auch wenn die Masse ausgehärtet über ähnliche adhäsive Eigenschaften verfügt.
Georg Etscheit schreibt auch für www.aufgegessen.info, den von ihm mit gegründeten gastrosophischen Blog für freien Genuss.