Naturverbundene Großstädter meinen, ein Leben im Einklang mit der Schöpfung zu führen, wenn sie sich allerlei wildes Grünzeug aneignen, das früher unter Unkraut lief, um damit zu Hause Hildegard von Bingen nachzueifern.
Als ich vor ein paar Tagen eine Frau mittleren Alters dabei beobachtete, wie sie am Fuße eines Straßenbaumes Löwenzahnblätter sammelte, wurde mir ganz blümerant zumute. An dieser Stelle pflegt nämlich mein Poldi immer sein kleines Geschäft zu machen. Auch andere Hunde benutzen die Stelle als Möglichkeit, sich geruchsmäßig bemerkbar zu machen, ihr „Revier“ zu markieren. Ich weiß auch, dass Hundepipi eine ziemlich zähe Flüssigkeit ist, die man nur mit Mühe abwaschen kann. Ist wohl von der Natur so gewollt. Ob das der Dame auch bewusst war, wenn sie aus den selbst gesammelten Kräutern einen Salat herstellt und womöglich Freunde und Bekannte mit dieser Speise beglückt?
Das Kräutersammeln auf innerstädtischen Grünflächen und in Parks hat Konjunktur, seit die Grünflächenämter aus ökologischen Rücksichten immer seltener mähen und natürlich keine Unkrautvertilger mehr ausbringen dürfen. Naturverbundene Großstädter meinen, ein Leben im Einklang mit der Schöpfung zu führen, wenn sie sich allerlei wildes Grünzeug aneignen, das früher unter Unkraut lief, um damit zu Hause Hildegard von Bingen nachzueifern, die als Urmutter der Kräuterei gilt und neuerdings auch als „wertvolle Orientierung zum Umgang mit dem Klimawandel“ herhalten muss.
Natürlich schwärmen sie auch aus in die freie Natur, wo die Gefahr, verpinkelten oder von Taubenkot verunreinigten Löwenzahn, Sauerampfer oder Brennnesseln zu erwischen, zwar deutlich geringer ist. Das ändert aber nichts daran, dass die meisten dieser Kräuter, sei es nun Giersch, Spitzwegerich, Huflattich, Brennnessel, Löwenzahn, Knoblauchsrauke oder Rainfarn wenig kulinarische Qualitäten haben und nicht in den Kochtopf oder die Salatschüssel, sondern auf den Komposthaufen gehören. Sie sind oft einfach nur bitter.
Der Kräutergarten, ein Biotop für Esoteriker
Bei Recherchen im Internet stößt man gleich im Dutzend auf selbsternannte Experten, meist sind es Frauen fortgeschrittenen Alters, die nach erfolgreicher Trennung vom lästigen Ehegatten ihre Berufung zur Kräuterhexe entdeckt haben. Sie schreiben Bücher („Die Magie der Kräuter“), bieten meist gegen Entgelt Kräuterwanderungen und Kräuterkochkurse an und bieten Selbstgesammeltes und daraus hergestellte Produkte feil, etwa auf Festivals wie den „Kräutertagen“ im hessischen Kurort Schlangenbad.
Darüber berichtete dann der Hessische Rundfunk und zitierte die dort porträtierte Kräuterexpertin mit leicht wirrem Zeug. Sie meinte etwa, dass im eigenen Garten oft genau jene Pflanzen gediehen, die der Körper gerade nötig habe, „die einem gut tun, die einem helfen, einen unterstützen wollen“. Als wenn die Pflanzen spürten, was „ihrem“ Menschen fehle. Natürlich gab es vonseiten der grünen Reporterin keinen Widerspruch zu diesem Exkurs in Sachen Esoterik.
Auch auf den Seiten von München Tourismus wird dem Übersinnlichen gehuldigt. In einer dort veröffentlichten Reportage über eine geführte Kräuterwanderung in München-Giesing „erzählt Caroline nicht nur viel Spannendes rund um essbare Pflanzen, sondern auch jede Menge Geschichten aus der Mythologie und Märchenwelt.“ Natürlich schwinge beim Thema Wildkräuter immer noch eine gewisse Portion Spiritualität mit, heißt es dort verständnisheischend. „So erzählt Caroline uns, dass in den Blüten Elfen und Feen wohnen und dass es besonders gut ist, frisch geerntete Pflanzen zu essen, weil diese noch viel Sonnenenergie enthalten. Nun kann man darüber streiten, was eigentlich realitätsferner ist: Dass ich keine einzige Pflanze in meiner Umgebung benennen kann oder dass jemand an Feen glaubt.“ Realitätsfern ist nur letzteres.
Fast alles kann, nichts muss
An der schlimmsten Ausgeburt der Grünzeugküche, dem Bärlauch, habe ich mich schon abgearbeitet. Der stinkende Knoblauchersatz bahnte vor gut zwanzig Jahren der Kräuterküche den Weg, die längst die Gourmetliga erfasst hat. Als Pionier gilt der aus Frankreich stammende Koch Jean-Marie Dumaine, der als einer der Ersten in Deutschland in seinem Gourmetrestaurant „Vieux Sinzig“ in Sinzig bei Koblenz eine Kräuterküche zelebrierte und mehrere Bücher zum Thema schrieb. Dumaine bewegte sich dabei immer auf dem soliden Boden der französischen Kochkunst, doch waren auch seine Kreationen – er hat sich 2018 in den Ruhestand verabschiedet – nicht immer die reine Offenbarung.
Für „vergessene“ Kräuter gilt dasselbe wie für vergessene Opern, vergessene Romane oder vergessene Musikstücke – sie sind meist zu Recht der Vergessenheit anheimgefallen. Im Umkehrschluss gilt, dass die gängigen Küchenkräuter berechtigterweise ihren Platz in der Küche haben, auch wenn man sie nicht zwanghaft über alles und jedes streuen sollte. Eine Schüssel Salat kommt sehr gut ohne gehackten Schnittlauch aus, vor allem wenn es sich um Feldsalat handelt. Ehe man mit einer Dröhnung Kräutern etwas Geschmacklosem aufzuhelfen versucht, sollte man sich lieber fragen, ob es nicht besser wäre, ein geschmackvolles Ausgangsprodukt zu verwenden. Dann erweisen sich die meisten Dreingaben als unnötig.
Georg Etscheit schreibt auch für www.aufgegessen.info, den von ihm mitgegründeten gastrosophischen Blog für freien Genuss.