Die Freie und Hansestadt Hamburg hat eine ganze Reihe bedeutender Politiker hervorgebracht. Allen voran der Weltökomom Helmut Schmidt, der die Attitüde des „elder statesman“ schon mit der Muttermilch aufgesogen haben musste. Hätte er Maske getragen und Ellenbogenküsschen verteilt? Oder im Kasinoton geraunzt: Macht Euch nicht in die Hose. Corona ist nicht Ebola! Auch Klaus von Dohnanyi, kurze Zeit Bundesbildungsminister unter Willy Brandt und von 1981 bis 1988 Erster Bürgermeister seiner Heimatstadt, war ein seriöser, ernst zu nehmender Vertreter der politischen Klasse. Angela Merkel wurde zwar in Hamburg geboren, doch zog es ihren Vater kurz nach ihrer Geburt ins Arbeiter- und Bauernparadies der DDR, wo Angela verhängnisvoller Weise keine Möglichkeit mehr hatte, den freien, pragmatischen Kaufmannsgeist der Hansestadt einzuatmen.
Jetzt schickt sich mit Olaf Scholz abermals ein Hamburger an, die Geschicke des Landes zu bestimmen, wobei man noch nicht so genau weiß, ob er in einer Ampelkoalition Koch oder Kellner wird, womit wir beim eigentlichen Thema dieser Kolumne angelangt sind. Dass Scholz wie die meisten seiner Vorgängerinnen und Vorgänger kein großer Feinspitz ist, wie die Österreicher einen Gourmet nennen, wurde schon in einer früheren Ausgabe thematisiert. Überhaupt ist Hamburg, wie der ganze, protestantisch geprägte Norden und Osten Deutschlands, kulinarische Diaspora, von einigen wenigen gastronomischen Leuchttürmen (Landhaus Scherrer, The Table, Hafencity) abgesehen – die Metapher stimmt in diesem Fall. Doch ob Scholz dort regelmäßig einkehrt, um sich feinschmeckerisch weiterzubilden, muss bezweifelt werden.
Dabei gibt es durchaus eine autochthone Hamburger Küche, die, wie sollte es anders sein, fischlastig ist. Zu nennen wäre die Scholle Finkenwerder Art, die in der Regel recht fettig daherkommt und deren weiches, musartiges Fleisch nicht wirklich überzeugt. Eine echte Delikatesse sind dagegen Nordseekrabben, auch Granat genannt, die man auf „Büsumer Art“ zusammen mit Rührei genießt. Nicht zu vergessen Labskaus, eine ziemlich unappetitlich aussehende Pampe aus mit Corned Beef (Pöckelfleisch) angereichertem Kartoffelbrei, obenauf Spiegelei und Hering. Als Kind liebte ich Labskaus, der von einer aus Kiel stammenden Nenntante, Tochter eines Kapitäns, meisterhaft zubereitet wurde, für mich ohne Fisch. Angeblich wurde die Speise, die passierter Krankenhauskost in der Tat zum verwechseln ähnlich sieht, von infolge Skorbuts zahnlose gewordenen Seeleuten erfunden.
Eine der schönsten Kreationen der Nordlichter ist für mich die Hamburger Aalsuppe, deren aufwändige Zubereitung weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Ich aß sie einige Male in einem Restaurant namens Fischerhaus direkt am Hamburger Hafen im Stadtteil St. Pauli. Der große Gastraum hatte beinahe unverfälscht den rustikalen Charme der 50er bis 70er Jahre bewahrt, die Speisekarte ebenfalls. Was man da alles essen konnte: Labskaus mit Spiegelei und Roter Beete, Büsumer Krabben in Rührei auf Vollkornbrot, Bratheringe, sauer eingelegt, mit Bratkartoffeln, natürlich Scholle Finkenwerder Art mit Speckwürfeln und Kartoffelsalat oder Büsumer Art mit Krabben und Salzkartoffeln, gekochter Angel-Schellfisch mit Senfsauce sowie Aal grün mit Dillrahmsauce. Dazu gab es wunderbares Pilsener Urquell vom Fass, mit dem man auch die fettigste Scholle genussvoll herunterspülen konnte. Vielleicht das beste Bier der Welt!
Auch wenn die Leistungen der Küche des Fischerhauses nicht immer restlos überzeugten, wo fand man noch eine solche Liste fast ausgestorbener Speisen? Nicht zu vergessen „Original Hamburger Aalsuppe mit Schwemmklöschen und Backpflaumen“, eine pikante Verschwisterung bzw. Verbrüderung unterschiedlichster Zutaten und Geschmäcker: süß, salzig, Fisch und Fleisch, herrührend von der aus Schinkenknochen oder Kasseler Rippchen hergestellten Suppenbasis, dazu ein zarter Rauchgeschmack, der vom Schinken kommt und vom Räucheraal. Schwemmklößchen sind schon allein eine Rarität, weil sie aus mit Muskat gewürztem, salzigen Brandteig hergestellt werden, aus dem man normalerweise Windbeutel bäckt.
Eine echte Hamburger Aalsuppe zu kochen, ist ziemlich aufwändig, wobei der Name wohl nicht von dem gleichnamigen Fisch stammt, sondern von plattdeutsch „aals“ – alles (drin) – die Suppe war wohl einst eine Resteverwertung. Hier das Rezept.
Leider ist das Fischerhaus derzeit geschlossen. Das Traditionsrestaurant im Erdgeschoss werde erneuert, modernisiert und „erhalte Neugestaltungen“, heißt es etwas unbeholfen auf der Webseite. Da ist zu befürchten, dass abermals ein Oase des Unzeitgemäßen auf der Strecke bleibt. Wenn unter einer von den Grünen dominierten Regierung Scholz nicht ohnehin das Fischessen aus Gründen des Ressourcenschutzes verboten wird.