Natürlichkeit und Öko sind angesagt, da kommt auch der Wein nicht dran vorbei.
Noch nie in der mehrtausendjährigen Geschichte des Weinbaus und der Weinbereitung wurde so viel so qualitätsvoller Wein produziert wie heute. Dies liegt zum Teil an veränderten klimatischen Bedingungen, die den Wärme liebenden Reben der Gattung Vitis vinifera zu Gute kommen, zum anderen an der immer größeren Sorgfalt, die Winzer ihren Weinstöcken und den Trauben angedeihen lassen, vor allem jedoch am Siegeszug moderner Kellereitechnik.
In modernen Kellereien sieht es aus wie im Chemielabor. Überall blitzen Edelstahltanks, blinken computerisieren Schalttafeln, verrichten ausgeklügelte Apparaturen ihren Dienst. So gelingt es etwa mit Hilfe optischer Sortiermaschinen, buchstäblich jede einzelne unreife oder faulige Beere per elegantem Druckluftstoß aus dem Lesegut zu entfernen. Viele Spitzenweingüter in Bordeaux etwa nutzen diese geniale Technik, die eine mühselige Triage von Hand überflüssig macht.
Wein ist ein Kunstprodukt, das war er schon immer, und das ist kein Makel, im Gegenteil. Ein Kunstprodukt auch im Sinne von Kunstfertigkeit. Es geht darum, avancierteste Technik und Wissen so zu nutzen, damit das Beste, was im Weinberg entsteht, den Weg in die Flasche findet. Dabei bleibt immer noch genug Spielraum für die Kreativität der Kellermeister. Mit Ausnahme der großen, vor allem in der Neuen Welt angesiedelten Weinfabriken, die beständig gleichbleibende Qualitäten für den Weltmarkt liefern müssen, bleibt Wein ein handwerkliches Produkt mit mehr oder weniger ausgeprägter Individualität. Trotzdem versuchen immer mehr jüngere, vom Geist des Ökologismus benebelte Winzerinnen und Winzer, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Sie versuchen, so weit wie möglich auf Technik in Weinberg und Keller zu verzichten und meinen wieder einmal, das Ei des Columbus gefunden zu haben.
Im Weinberg bedeutet das Primat der „Natürlichkeit“ die Umstellung auf biologische oder biodynamische Wirtschaftsweise („Demeter“) unter größtmöglichem Verzicht auf synthetischen Dünger und Pflanzenschutzmittel, inklusive esoterischer Merkwürdigkeiten. Die „minimalinvasive“ Arbeitsweise setzt sich im Keller fort: kein Einsatz von Zuchthefen, sondern Spontanvergärung, keine Temperatursteuerung während der Gärung, keine „künstliche“ Schönung oder Filtrierung, wenig oder gar kein Schwefel zur Haltbarmachung. Selbst das Pumpen des Mostes ist unerwünscht. Lieber nutzt man das Gravitationsprinzip wie einst die Römer, die ihre Weingüter so an einen Hang bauten, dass Maische und Most mit Hilfe der Schwerkraft von einem Behältnis in ein anderes fließen konnten. Elektrisch betriebene Pumpen gabs bekanntlich noch nicht.
Gut wird schlecht und schlecht wird gut
Für diese minimalistische – man kann auch sagen technikfeindliche – Art der Weinbereitung hat sich ein Begriff eingebürgert, der schon einmal in einem anderen Zusammenhang verwendet wurde, aber in Vergessenheit geriet: Naturwein. In den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als es üblich war, die oft säuerlichen deutschen Tropfen mittels großzügiger Zuckerbeigabe (Chaptalisation) gefälliger und marktgängiger zu machen, versuchten sich einige Weingüter, nicht zuletzt unter dem Einfluss der Lebensreformbewegung, von dieser Praxis kellereitechnischer Eingriffe abzugrenzen.
1910 wurde der Verband deutscher Naturweinversteigerer gegründet, Vorläufer des heutigen Verbandes Deutscher Prädikatsweingüter. Mit der Novellierung des deutschen Weingesetzes Ende der sechziger Jahre wurde der Begriff Naturwein durch Prädikatswein ersetzt. Heute feiert die Bezeichnung im Gewande grüner Weltanschauungen ihre Wiederauferstehung. Damit einher geht eine Änderung der Ansichten darüber, wie Wein zu schmecken hat. Gut wird schlecht und schlecht wird gut. Die Umwertung traditioneller Werte ist eine Grundbedingung woker Gesellschaftsdekonstruktion.
Immer häufiger besinnen sich Winzer, die dem Naturwein-Gedanken huldigen, auf längst überwunden geglaubte Methoden der Weinbereitung. Besonders beliebt sind die ursprünglich aus Georgien, der mutmaßlich ältesten Weinbaunation der Welt, stammenden Quevri, im Boden eingegrabene Tonamphoren, in denen auch weiße Moste auf ihren Schalen vergoren werden und dabei sich selbst überlassen bleiben. Diese Art der Nichtbehandlung gilt Naturweinadepten als Nonplusultra der Natürlichkeit.
Die Ikone Joško Gravne
Das Ergebnis sind meist oxidativ („Sherryton“), zuweilen bitter schmeckende Weißweine ohne Finesse oder Sortentypizität mit einem mehr oder minder orangenen Farbton, weswegen man sie auch als Orange Wines bezeichnet. Oft sind sie leicht trüb, was nicht als Fehler, sondern gewünschte Eigenschaft im Sinne minimalistischer Weinbereitung gilt. Sie erinnern oft mehr an einen überständigen Traubensaft, wenn auch mit deutlich höherer Alkoholgradation, und sind zumindest als Essensbegleiter völlig ungeeignet. Bei Rotweinen, die ohnehin auf den Schalen vergoren werden, ist der Unterschied weniger signifikant.
Als Pionier der Amphorenweine oder ähnlicher Arten der Weinbereitung und „Ikone“ der Naturweinbewegung gilt der friulanische Winzer Joško Gravner, dessen sündteure Bouteillen seit den ersten Tagen der von ihm angestossenen Weinrevolution die Gemüter scheiden. Das angrenzende Slowenien ist mittlerweile eine Hochburg der Naturweinproduzenten, doch auch in anderen Regionen Europas, etwa in Südfrankreich, sind die orangefarbenen Tropfen im Kommen. Und natürlich in Georgien, dessen Weinszene gerade kräftig gehypt wird. Die Naturweinbewegung habe „völlig überkommene Fehler-Vorstellungen nachhaltig aufgebrochen“, habe „konventionellen Wein als lebloses Klischee entlarvt“ und „Wein insgesamt aufregend neu definiert“, schreibt ein Bioweinhändler, der früh auf den Trend aufgesprungen war.
Auch Biertrinker bleiben nicht verschont vom Kult des Ursprünglichen. In der Craftbeer-Szene gilt als letzter Schrei, was „normale“ Braumeister fürchten wie die Pest: eine Kontamination der Maische mit Milchsäurebakterien, die das Bier umkippen und sauer werden lassen. Heute greift, wer sich auf der Höhe der Zeit fühlt, freiwillig zum Sauerbier. Das hat vor allem noch in Belgien eine gewisse Tradition und wird, gemäß dem Prinzip kreativen Nichtstuns, in offenen Bottichen mit Hefen der Umgebungsluft spontan vergoren. Das Ergebnis ist eigentlich nur genießbar, weil die Belgier, die das deutsche Reinheitsgebot nicht kennen, oft noch Früchte wie Himbeeren oder Kirschen mitverarbeiten. Ob man da noch von Bier sprechen kann, steht auf einem anderen Blatt.
Georg Etscheit schreibt auch für www.aufgegessen.info, den von ihm mitgegründeten gastrosophischen Blog für freien Genuss.