Georg Etscheit / 25.08.2024 / 12:00 / Foto: Bildarchiv Pieterman / 16 / Seite ausdrucken

Cancel Cuisine: Der Naturweinkult

Natürlichkeit und Öko sind angesagt, da kommt auch der Wein nicht dran vorbei.

Noch nie in der mehrtausendjährigen Geschichte des Weinbaus und der Weinbereitung wurde so viel so qualitätsvoller Wein produziert wie heute. Dies liegt zum Teil an veränderten klimatischen Bedingungen, die den Wärme liebenden Reben der Gattung Vitis vinifera zu Gute kommen, zum anderen an der immer größeren Sorgfalt, die Winzer ihren Weinstöcken und den Trauben angedeihen lassen, vor allem jedoch am Siegeszug moderner Kellereitechnik.

In modernen Kellereien sieht es aus wie im Chemielabor. Überall blitzen Edelstahltanks, blinken computerisieren Schalttafeln, verrichten ausgeklügelte Apparaturen ihren Dienst. So gelingt es etwa mit Hilfe optischer Sortiermaschinen, buchstäblich jede einzelne unreife oder faulige Beere per elegantem Druckluftstoß aus dem Lesegut zu entfernen. Viele Spitzenweingüter in Bordeaux etwa nutzen diese geniale Technik, die eine mühselige Triage von Hand überflüssig macht.

Wein ist ein Kunstprodukt, das war er schon immer, und das ist kein Makel, im Gegenteil. Ein Kunstprodukt auch im Sinne von Kunstfertigkeit. Es geht darum, avancierteste Technik und Wissen so zu nutzen, damit das Beste, was im Weinberg entsteht, den Weg in die Flasche findet. Dabei bleibt immer noch genug Spielraum für die Kreativität der Kellermeister. Mit Ausnahme der großen, vor allem in der Neuen Welt angesiedelten Weinfabriken, die beständig gleichbleibende Qualitäten für den Weltmarkt liefern müssen, bleibt Wein ein handwerkliches Produkt mit mehr oder weniger ausgeprägter Individualität. Trotzdem versuchen immer mehr jüngere, vom Geist des Ökologismus benebelte Winzerinnen und Winzer, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Sie versuchen, so weit wie möglich auf Technik in Weinberg und Keller zu verzichten und meinen wieder einmal, das Ei des Columbus gefunden zu haben.

Im Weinberg bedeutet das Primat der „Natürlichkeit“ die Umstellung auf biologische oder biodynamische Wirtschaftsweise („Demeter“) unter größtmöglichem Verzicht auf synthetischen Dünger und Pflanzenschutzmittel, inklusive esoterischer Merkwürdigkeiten. Die „minimalinvasive“ Arbeitsweise setzt sich im Keller fort: kein Einsatz von Zuchthefen, sondern Spontanvergärung, keine Temperatursteuerung während der Gärung, keine „künstliche“ Schönung oder Filtrierung, wenig oder gar kein Schwefel zur Haltbarmachung. Selbst das Pumpen des Mostes ist unerwünscht. Lieber nutzt man das Gravitationsprinzip wie einst die Römer, die ihre Weingüter so an einen Hang bauten, dass Maische und Most mit Hilfe der Schwerkraft von einem Behältnis in ein anderes fließen konnten. Elektrisch betriebene Pumpen gabs bekanntlich noch nicht.

Gut wird schlecht und schlecht wird gut

Für diese minimalistische – man kann auch sagen technikfeindliche – Art der Weinbereitung hat sich ein Begriff eingebürgert, der schon einmal in einem anderen Zusammenhang verwendet wurde, aber in Vergessenheit geriet: Naturwein. In den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als es üblich war, die oft säuerlichen deutschen Tropfen mittels großzügiger Zuckerbeigabe (Chaptalisation) gefälliger und marktgängiger zu machen, versuchten sich einige Weingüter, nicht zuletzt unter dem Einfluss der Lebensreformbewegung, von dieser Praxis kellereitechnischer Eingriffe abzugrenzen.

1910 wurde der Verband deutscher Naturweinversteigerer gegründet, Vorläufer des heutigen Verbandes Deutscher Prädikatsweingüter. Mit der Novellierung des deutschen Weingesetzes Ende der sechziger Jahre wurde der Begriff Naturwein durch Prädikatswein ersetzt. Heute feiert die Bezeichnung im Gewande grüner Weltanschauungen ihre Wiederauferstehung. Damit einher geht eine Änderung der Ansichten darüber, wie Wein zu schmecken hat. Gut wird schlecht und schlecht wird gut. Die Umwertung traditioneller Werte ist eine Grundbedingung woker Gesellschaftsdekonstruktion.

Immer häufiger besinnen sich Winzer, die dem Naturwein-Gedanken huldigen, auf längst überwunden geglaubte Methoden der Weinbereitung. Besonders beliebt sind die ursprünglich aus Georgien, der mutmaßlich ältesten Weinbaunation der Welt, stammenden Quevri, im Boden eingegrabene Tonamphoren, in denen auch weiße Moste auf ihren Schalen vergoren werden und dabei sich selbst überlassen bleiben. Diese Art der Nichtbehandlung gilt Naturweinadepten als Nonplusultra der Natürlichkeit.

Die Ikone Joško Gravne

Das Ergebnis sind meist oxidativ („Sherryton“), zuweilen bitter schmeckende Weißweine ohne Finesse oder Sortentypizität mit einem mehr oder minder orangenen Farbton, weswegen man sie auch als Orange Wines bezeichnet. Oft sind sie leicht trüb, was nicht als Fehler, sondern gewünschte Eigenschaft im Sinne minimalistischer Weinbereitung gilt. Sie erinnern oft mehr an einen überständigen Traubensaft, wenn auch mit deutlich höherer Alkoholgradation, und sind zumindest als Essensbegleiter völlig ungeeignet. Bei Rotweinen, die ohnehin auf den Schalen vergoren werden, ist der Unterschied weniger signifikant.

Als Pionier der Amphorenweine oder ähnlicher Arten der Weinbereitung und „Ikone“ der Naturweinbewegung gilt der friulanische Winzer Joško Gravner, dessen sündteure Bouteillen seit den ersten Tagen der von ihm angestossenen Weinrevolution die Gemüter scheiden. Das angrenzende Slowenien ist mittlerweile eine Hochburg der Naturweinproduzenten, doch auch in anderen Regionen Europas, etwa in Südfrankreich, sind die orangefarbenen Tropfen im Kommen. Und natürlich in Georgien, dessen Weinszene gerade kräftig gehypt wird. Die Naturweinbewegung habe „völlig überkommene Fehler-Vorstellungen nachhaltig aufgebrochen“, habe „konventionellen Wein als lebloses Klischee entlarvt“ und „Wein insgesamt aufregend neu definiert“, schreibt ein Bioweinhändler, der früh auf den Trend aufgesprungen war.

Auch Biertrinker bleiben nicht verschont vom Kult des Ursprünglichen. In der Craftbeer-Szene gilt als letzter Schrei, was „normale“ Braumeister fürchten wie die Pest: eine Kontamination der Maische mit Milchsäurebakterien, die das Bier umkippen und sauer werden lassen. Heute greift, wer sich auf der Höhe der Zeit fühlt, freiwillig zum Sauerbier. Das hat vor allem noch in Belgien eine gewisse Tradition und wird, gemäß dem Prinzip kreativen Nichtstuns, in offenen Bottichen mit Hefen der Umgebungsluft spontan vergoren. Das Ergebnis ist eigentlich nur genießbar, weil die Belgier, die das deutsche Reinheitsgebot nicht kennen, oft noch Früchte wie Himbeeren oder Kirschen mitverarbeiten. Ob man da noch von Bier sprechen kann, steht auf einem anderen Blatt.

Georg Etscheit schreibt auch für www.aufgegessen.info, den von ihm mitgegründeten gastrosophischen Blog für freien Genuss.

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Leserpost

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Michael Brüggemann / 25.08.2024

Mache einen großen Bogen um alle Bio- und Naturweingüter und bleibe bei meinem jahrelang als gut befundenen Winzer, der nach der Methode vorgeht: So viel Eingriffe in den Wein wie nötig und so wenig wie möglich. Die jahrelangen vorderen Plätze bei den Landesweinprämierungen geben ihm Recht.

H. Krautner / 25.08.2024

Der Begriff “Bio” bei Produkten ist ein Marketingkonzept, mehr nicht. Bei Personen, die Bioprodukte bevorzugen oder sogar nur Produkte mit dieser Bezeichnung verzehren, hat der Begriff “Bio” eine Art Placebo-Effekt. Das ist ja ganz OK so, denn ein Placebo-Effekt ist ja etwas Positives und deshalb sollen solche Konsumenten auch diese Produkte kaufen.

Nikolaus Neininger / 25.08.2024

In den 80ern war ich beim Bund in der Pfalz. Dort rollten im Spätsommer immer die großen Tanklastzüge mit Most aus Italien an…. Mittlerweile mag das besser sein - aber damals war der Pfälzer Wein entweder “natur” (mit nachher sehr schmalem Mund) oder “lieblich”...  +++ Ein guter Bekannter hat an der Mittelmosel ein Wenigut und verkauft auch einen sehr leckeren Rotwein. Da die Trauben aber an verschiedenen Stellen wachsen, darf er dies nicht als Prädikatswein verkaufen, der deutschen Weingesetzgebung sei Dank… In Frankreich steht auch auf den teuersten Flaschen nur die “Domaine” drauf - Mischungen aus verschiedenen Rebsorten der Lagen sind dort erlaubt.  +++ Ein gaanz alter Witz dazu: Der alte Winzer liegt im Sterben und ruft seine Söhne zusammen. “Ich will euch jetzt noch ein Geheimnis verrraten: Man kann Wein auch aus Trauben herstellen…”

Frank Mora / 25.08.2024

Mein Tag ist gerettet. Komme gerade vom Klo, wo die aktuelle ADAC-Motorwelt beim Drücken geholfen hat. Ich zitiere aus dem Interview mit Schauspieler Henning Baum: Ausgabe 03-2024, S. 90 ” Als nächstes probiere ich… ob ich es schaffe, zwei Wochen auf veganes Essen zu verzichten und dafür jeden Abend einen anderen Rotwein zu trinken.” Henning, you made my day.

H. Krautner / 25.08.2024

Großer fachlicher Fehler im Artikel: Deutscher Wein wurde nicht mittels Zuckerbeigabe (Chaptalisation)  gefälliger und marktgängiger gemacht. Der Zucker wurde vor der Gärung zugegeben und diente allein der Erhöhung des Alkoholgehaltes. Deshalb, weil es der Alkoholerhöhung diente, nannte man das in Deutschland nicht Chaptalisation, sondern mit der deutschen Bezeichnung Anreicherung. Die Franzosen machte das gleiche und dort nannte man es Chaptalisation. Diese Begriff klang in den Ohren der deutschen Weinfans von französischen Weinen wie eine besondere Qualitäsaussage, und sie wussten gar nicht was das bedeutet. Deshalb waren deutsche Weinkonsumenten französischer Weine stets der Meinung, nur deutsche Winzer setzen bei der Gärung Zucker zu und sie lehnten deshalb den Verzehr von deutschen Weinen kategorisch ab. Ähnlich war es sehr lange mit dem Begriff Cuvee. In den Ohren der deutschen Franzosenweintrinker klang das wie Musik und sie empfanden das als ein Qualitätsmerkmal. Meistens wussten sie gar nicht, was ein Cuvee (Verschnitt von verschiedenen Rebsorten ist).  Wollte jedoch ein deutscher Winzer einen Wein verkaufen und hat auf dem Etikett vermerkt, das dieser Wein aus einem Verschnitt von zwei oder sogar drei verschiedenen Rebsorten bestand, dann lehnten die selben Leute diesen als minderwertigen Wein ab. Bis vor ca. 20 Jahren war es für deutsche Winzer nur möglich Weine zu verkaufen, die aus einer einzigen Rebsorte produziert waren.

H. Krautner / 25.08.2024

In der Vergangenheit musste ein Winzer etwas von seinem Handwerk verstehen um guten Wein zu produzieren. Es war eine gute schulische und praktische Berufsausbildung erforderlich, um guten Wein machen zu können. Heute ist das nicht mehr notwendig. Es ist ziemlich egal, wie das Ergebnis aussieht und wie es es schmeckt. Das Ergebnis schmeckt, auch wenns nicht schmeckt.    Letztlich ist das alles ein Spiegelbild unserer heutigen Gesellschaft.

Gerd Maar / 25.08.2024

@ Wilfried Cremer: Die Römer haben zudem ihren Wein mit Bleiacetat gesüßt. Und in Rosport an der Sauer wurde der Blei-Säure- Akkumulator erfunden. Zufall?

L. Luhmann / 25.08.2024

Öko, Bio, Fair Trade, Vegan und Green sind für mich ausschließlich hassenswerte politische Kurzparolen der Khmer Vert.—- “Natürlichkeit”? Ist das nicht voll nazi?——“Im Weinberg bedeutet das Primat der „Natürlichkeit“ die Umstellung auf biologische oder biodynamische Wirtschaftsweise („Demeter“) unter größtmöglichem Verzicht auf synthetischen Dünger und Pflanzenschutzmittel, inklusive esoterischer Merkwürdigkeiten.” - “Nachdem es gelungen war, die Gunst und Fürsprache des Hitlerstellvertreters Rudolf Heß zu erlangen, wurde auch die Belieferung des Rudolf-Heß-Krankenhauses mit Demeter-Gemüse aufgenommen.[8] 1937 stellte Bartsch fest, „dass sich die führenden Männer der Demeter-Bewegung rückhaltlos mit ihren Kenntnissen und Erfahrungen dem nationalsozialistischen Deutschland zur Verfügung gestellt haben.“ - Ob die das wissen, das mit der Natürlichkeit und Demeter?—- “Die Umwertung traditioneller Werte ist eine Grundbedingung woker Gesellschaftsdekonstruktion.” - Sag ich doch! Da kommen die Braunen im grünen Gewand! - Ich würde den orangenen “Wein” jedoch gerne mal kosten. Und das Sauerbier ebenfalls ... Ich habe bei mir vor einem Monat einen Kasten “Beck’s UNFILTERED” entdeckt. Der stand im kühlen Keller und das Bier war im November 2022 abgelaufen. Was soll ich sagen? Das Bier schmeckt noch immer ganz fein und komplex.

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