Vor allem in den In-Vierteln der Großstädte etablieren sich junge Leute mit hippen Geschäftsideen rund um Brot und Brötchen. Das ist nicht schlecht. Ohne die übliche Extraportion Haltung wäre es noch besser.
Vielleicht erinnert sich der eine oder andere Leser noch an einen Film, der 1976 zuerst im Kino, dann auch im Fernsehen zu sehen war. Er hieß Das Brot des Bäckers und war das viel beachtete Regiedebüt des Schweizer Regisseurs Erwin Keusch. Der große Günter Lamprecht, der drei Jahre später von Rainer Werner Fassbinder für seinen Film „Die Ehe der Maria Braun“ und dann als Franz Biberkopf in seiner Verfilmung von Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ verpflichtet wurde, spielte in dem als „Jugendfilm“ ausgewiesenen Streifen den Bäcker Baum, der in die Mühlen des – wie man heute sagen würde – Strukturwandels gerät.
Baum ist Inhaber einer Bäckerei in der fränkischen Provinz, einem für damalige Zeiten typischen Familienbetrieb. Als Handwerker alten Schlages hält Baum eisern an den Traditionen und Qualitätsvorstellungen seines Standes fest und verweigert sich jeder Vergrößerung und Modernisierung. Als in der Nähe ein Supermarkt eröffnet, wird er in einen Preiskrieg verwickelt, den er nicht gewinnen kann. Spät entschließt sich Baum, in einen modernen Maschinenpark zu investieren, doch die Schulden drücken, und der wirtschaftliche Erfolg bleibt aus. In einem nächtlichen Amoklauf verwüstet er die Brotabteilung des Supermarktes und steht schließlich, als Verlierer und Gewalttäter geächtet, vor den Scherben seiner Existenz.
Erzählt wird diese teils traurige, teils heitere Geschichte von der Verdrängung der Kleinen durch die Großen aus der Perspektive von Baums etwas melancholischem Lehrling Werner, gespielt von dem jungen Bernd Tauber, der nach Abschluss seiner Lehre und einem unglücklichen Techtelmechtel mit Baums hübscher Verkäuferin in einer Brotfabrik unterkommt, am Ende jedoch in den Heimatort seines einstigen Lehrherren zurückkehrt und versucht, Baums Söhnen bei der Rettung des elterlichen Betriebs zu helfen. Wie die Geschichte ausgeht, bleibt offen.
Spätestens nach einem Tag kommt die Wahrheit ans Licht
Der Konzentrationsprozess, der in „Das Brot des Bäckers“ noch in seinen Anfängen beschrieben wird, dauert unvermindert an. Vor 60 Jahren gab es noch 55.000 Handwerksbäckereien in Deutschland, davon sind bis heute gute 10.000 übriggeblieben. Wo einst selbst in einer kleinen Stadt eine Handvoll Bäckereien auskömmlich nebeneinander existierten, gibt es höchstens noch eine einzige. Ausgestattet mit einem kapitalintensiven Maschinenpark kann ein derartiger Betrieb mit relativ wenig Personal zahlreiche Filialen bestücken. Filialbäckereien dieser Art beherrschen heute den Markt in der Fläche. Neuerdings berufen sie sich gerne wieder auf alte Traditionen, nennen sich „Privatbäckerei“ oder „Handwerksbäckerei“ und schwadronieren über ihre „Backstube“, die in Wahrheit eine Fabrikhalle ist, angesiedelt irgendwo im Industriegebiet.
Die Erzeugnisse einer solchen Brot- und Kuchenfabrik sind so gut oder so schlecht, wie es die Massenfertigung erlaubt. Ohne Backmischungen mit allerlei chemischen Zusätzen, die für die reibungslose Verarbeitung in den Maschinen, für Stabilität, Haltbarkeit und Geschmack sorgen, geht gar nichts. Ein paar Stunden, am besten noch warm aus dem vollautomatischen Aufbackofen, kann solcherart fabriziertes Backwerk sogar ganz gut schmecken. Doch spätestens nach einem Tag kommt die Wahrheit ans Licht, wenn man statt eines Messers ein Beil bräuchte, um ein Fabrikbrot, eine Fabriksemmel oder Fabrikbrezel noch mundgerecht portionieren zu können. Oft schmecken die Teiglinge von der Brötchenstraße aber schon im „ofenfrischen“ Zustand nach mit Luft gefüllter Pappe, und beim Aufschneiden verteilt sich die trocken-krümelige Kruste auf dem Frühstückstisch und dem Küchenboden.
Qualitätsmäßig noch weiter unten angesiedelt sind die Produkte der echten Discountbäcker und der Backstationen bei Aldi, Lidl, Netto & Co., die seit ein paar Jahren wie Pilze aus dem Boden schießen. Hier stammen die Teiglinge tiefgefroren von irgendwoher, manchmal aus Osteuropa, wo die Löhne niedrig sind, oder gar aus China. Selbst das, was zuweilen als „Handsemmel“ oder „Rosenbrötchen“ firmiert, kommt oft aus der „Tiefkühlbäckerei“, die den Vorgang des „Backens“ nur noch im Namen trägt. „Mit der Produktinnovation Rosenbrötchen setzt Harry handwerkliche Backkunst vollautomatisch um. Innerhalb kürzester Zeit entwickelt sich dieses Produkt zum Bestseller im Segment „Zum Fertigbacken“, heißt es auf der Webseite von Harry-Brot, dem größten Backwarenhersteller in Deutschland. „Handwerkliche Backkunst vollautomatisch umsetzen“ – ein Widerspruch in sich, der echtem Handwerk Hohn spricht.
Meist muss man sich anstellen
Doch keine Bewegung ohne Gegenbewegung. Zwar hält der Niedergang der verbliebenen handwerklichen Kleinbetriebe unvermindert an, doch etablieren sich vor allem in den In-Vierteln der Großstädte junge Leute, manchmal Quereinsteiger, mit hippen Geschäftsideen rund um Brot und Brötchen. Sie lassen alte Backtraditionen aufleben, besinnen sich wieder auf Qualität, wenn auch zuweilen unter etwas penetranten ideologischen Vorzeichen. Ihre wichtigsten Insignien sind ein trendiges Ambiente, „diverses“ Personal, Mini-Sortimente („Verkauf bis zum letzten Brot“) und ein gehobenes Preisniveau. Regional und ökologisch versteht sich von selbst.
Ein solcher In-Bäcker ist Julius Brantner. Vor zwei Jahren hat der gebürtige Schwarzwälder in einem Eckhaus im Münchner Univiertel seine Biobäckerei eröffnet. Die Auswahl ist überschaubar, drei bis vier Sorten dunkles Brot gibt es, zwei Sorten Brötchen, pro Sorte wird ein Exemplar zur Ansichtnahme auf dem Tresen präsentiert, davor ein zierliches Kärtchen mit Zutatenliste und Preis. Einmal gab es sogar Weißbrot und Zimtschnecken, die sofort ausverkauft waren.
Meist muss man sich anstellen, um an eine dieser raren Pretiosen zu gelangen, vor einem Latte-Mütter mit Cargorad und Australien Sheperd, der als ultimativer Modehund längst den einst notorischen Golden Retriever abgelöst hat, hinter einem junge, tätowierte Baseballkappenträger mit Skatebord unterm Arm. Am frühen Abend sind die Brot-Stellagen meist schon wie leergefegt. Die Angebotsverknappung ist dem ökologischen Anspruch geschuldet, nichts wegzuwerfen, aber funktioniert auch als Marketingtrick, weil Dinge, die rar sind, attraktiver erscheinen. Die schöne, neue Ökowelt, sie erinnert manchmal frappierend an die verflossene DDR.
Warteschlangen, Gedudel, hippe Typen
Im Netz und beim Front-Backing auch in natura durch die Schaufensterscheibe zu begutachten, ist bei Brantner das multikultimäßig perfekt durchstrukturierte Personal, inklusive mutmaßlich geflüchteter Menschen aus dem Lande Perpetum. Dem Mehl sieht man nicht an, dass es, wie auf einem Aushang zu lesen, aus einer „regionalen Mühle“ kommt, dem für die Teigherstellung nötigen Wasser nicht, dass es im Mangfalltal vor den Toren Münchens gewonnen wurde, was aber völlig egal ist, weil das Münchner Trinkwasser ohnehin zu großen Teilen aus ebendiesem Mangfalltal stammt. Sei es drum, klappern gehört auch zum Brothandwerk.
Brantners Brot schmeckt sehr ordentlich, da beißt die Maus keinen Faden ab. Und es hält sich dank Natursauerteig und mehrstufiger Teigführung locker eine Woche lang. In dieser Zeit ist die Chance recht groß, Nachschub ergattern zu können. Aber Achtung: Montags ist Ruhetag, von wegen Work-Life-Balance! Zum flotten Ambiente gehört noch das ständige Pop-Gewummere und das Duzen des Publikums in Wort und Schrift. Immerhin muss man seine Bestellung noch nicht auf Englisch radebrechen.
Da ist man in Berlin schon weiter, wo zumindest in der Kreuzberger Lifestyle-Bäckerei „Albatross“ der „Englisch-Sprech keine Zeitgeist-Marotte“ sein soll, wie der Gastrojournalist Manfred Kriener im „journal culinaire“ (Ausgabe 31/2020) befindet, sondern der „internationalen Zusammensetzung des Personals“ entspreche. Auch hier Warteschlangen, Gedudel, hippe Typen mit bunten Haaren hinterm Tresen und noch hippere davor, zusätzlich vegane Angebote. Da kann Brantner in München noch nacharbeiten. Berlin ist ohnehin auch in Sachen In-Bäckereien deutschlandweit führend, sie tragen zuweilen lustige Namen wie „Mehlwurm“ oder einfach „Die Backstube“ und machten schon früh gegen die „Weißmehlscheiße“ mobil.
Ja, da wünscht man sich doch wieder zurück in die Zeiten der Bäckerei Baum. Sicher war damals nicht alles besser, auch damals gab es gutes und schlechtes Brot, wahrscheinlich mehr schlechtes als gutes. Aber es war Brot und kein Lifestyle-Produkt. Und daneben die spießigen Ochsenaugen, die nach Backpulver schmeckenden Amerikaner, die Quarktaschen und Nusshörnchen. Hinterm Tresen stand die Bäckersfrau in der Kittelschürze, die den Kindern zuweilen ein Gutti aus dem Bonbonglas zuschob: „Hier, mein Sonnenschein.“ Schrecklich normal war das und in jedem Fall bekömmlicher als die Extraportion Haltung unserer Tage.