Borkenschokolade ist eine zartblättrige Verführung, die an die vielfach gefältelte und gewölbte Rinde eines Baumes erinnert – nicht zu verwechseln mit der großindustriell hergestellten „Luftschokolade“.
In meiner losen Serie über „Seelentröster“ in unerfreulichen Zeiten möchte ich mich diesmal einer Spezialität widmen, die wohl nur eingeweihten Süßmäulern ein Begriff ist. Schon mein Vater, der zu dieser Spezies zählte, schwärmte so sehr dafür, dass er die Tütchen immer vor uns gierigen Kindern zu verstecken suchte. Doch als Experten für Süßigkeiten aller Art stöberten wir seine Schätze schnell auf, meist verborgen hinter Büchern seiner Bibliothek. Manchmal hatte er sie selbst vergessen und es staubte beim Reinbeißen.
Ich spreche von Borkenschokolade, einer zartblättrigen Verführung, die an die vielfach gefältelte und gewölbte Rinde eines Baumes erinnert. Hergestellt wird sie, indem man eine dunkle oder helle Schokoladenmasse zwischen steinernen Walzen zu einem dünnen Film ausrollt, der dann auf der letzten Walze mittels einer Metallschiene gestaucht wird, wobei sich die charakteristischen Wülste bilden.
Die so hergestellten Stangen werden nach dem Abkühlen in mundgerechte Stücke geschnitten und sollten mit einem Happen verzehrt werden, weil sie die Eigenschaft haben, beim Abbeißen in viele, feine Stückchen zu zerbröseln.
Urlaub auf der Insel Ischia
Nicht verwechseln sollte man diese süße Delikatesse mit großindustriell hergestellter „Luftschokolade“, die in ihrem weichen Biss vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit mit Borkenschokoladen hat, ansonsten aber nur ein billiger Marketinggag ist. Bei Luftschokolade wird flüssige Schokolade meist mit Di-Stickstoffoxid, besser bekannt als Lachgas, aufgeschäumt. Auf diese Weise gelingt es, das Volumen bei gleichbleibendem Wareneinsatz zu erhöhen. Ein gutes Geschäft, denn die Tafeln mit den kleinen Luftbläschen kosten oft sogar mehr als normale Schokolade.
Die Quelle der väterlichen Borkenschokolade war mir als Kind unbekannt. Ich selbst entdeckte die zarte Blätterschokolade erstmals während eines Urlaubs auf der Insel Ischia im Golf von Neapel. Einmal setzten wir bei hohem Seegang mit dem Aliscafo nach Neapel über, was die Lust auf alles Essbare erst einmal bremste. An einem der Boulevards der quirligen Stadt, der Via Toledo, wurde ich auf einen altertümlich aussehenden Laden aufmerksam.
Es war kurz vor dem Osterfest und in der Auslage stapelten sich prächtig verpackte Ostereier, Vulkane („Vesuvio“) aus mit crema gianduia (Nougatcreme) gefüllter Schokolade und – voluminöse Riegel von Borkenschokolade, auf italienisch Foresta („Wald“) genannt. Die süditalienische Borke schmeckte, wenn ich mich recht erinnere, anders als jene, die ich in meiner Kindheit stibitzt hatte, auf jeden Fall süßer.
Borkenschokolade scheint eine italienische Erfindung zu sein
Der Laden gehörte zur alt eingesessenen Schokoladenfabrik Gay Odin, gegründet 1894 von Isidoro Odin, einem piemontesischem Chocolatier und Konditor schweizerischen Ursprungs. Eine neapolitanische Institution mit Filialen in Rom und Mailand, deren Erzeugnisse auch im Internet erhältlich sind. Dort gibt es sogar eine Colomba pasquale, überzogen mit heller und dunkler Borkenschokolade und ein „Uovo die Pasqua Foresta“, bei dessen Anblick einem schon das Wasser im Munde zusammenläuft. Leider braucht man, um aus Deutschland ordern zu können, eine italienische Steuernummer.
Borkenschokolade scheint eine italienische Erfindung zu sein, jedenfalls geht das aus der Geschichte der Bologneser Schokoladenmanufaktur Majani hervor, gegründet 1796 und ab 1878 offizieller Lieferant des Königshauses von Savoyen mit dem Recht, das königliche Wappen auf dem Ladenschild in Bologna zu führen.
1832 wurde von Majani die legendäre „Scorza"-Schokolade erfunden, benannt nach ihrer Ähnlichkeit mit einer Baumrinde, angeblich die erste „feste“ Schokolade, die in Italien hergestellt wird – zuvor ergötzte man sich an Trinkschokolade wie sie heute noch in vorbildlicher Form im legendären Caffee Pedrocchi in Padua serviert wird. Im Jahre 1911 wurde bei Majani die berühmte „Cremino Fiat" geboren wurde, ein vierschichtiger Nougatwürfel, ursprünglich gedacht als Werbung für ein neues Fiat-Automodell.
Die Berliner Schokoladenmanufaktur Erich Hamann
Ob nun Majani wirklich Erfinder der Borkenschokolade ist, sei dahingestellt. Zumindest beweist die Existenz von Traditionshäusern wie Gay Odin, Majani oder dem erst 1990 gegründeten Unternehmen Amedei mit der „Amedei Porcellana“ als angeblich teuerster Schokolade der Welt, dass Italien trotz der den wärmeempfindlichen Süßigkeiten eigentlich abträglichen klimatischen Bedingungen ein Schokoladenland ist, das der Schweiz durchaus Paroli bieten kann.
In Deutschland ist es nicht ganz einfach, an gute Borkenschokolade heranzukommen. Die beste Quelle ist wohl die Berliner Schokoladenmanufaktur Erich Hamann, wo Andreas Hamann, Enkel des Gründers die Spezialität mit einer mehr als hundert Jahre alten Maschine produziert, einem Ungetüm, das wie eine Druckmaschine aussieht. Borkenschokolade ist, wie man heute sagt, ein signature product des Hauses und erhältlich in einer hellen und dunklen Variante.
Das Ladengeschäft der Manufaktur in der Brandenburgischen Straße in Berlin-Wilmersdorf unweit des Kurfürstendamm ist nicht nur ein Dorado für Liebhaber vorzugsweise dunkler Schokoladenspezialitäten, sondern auch eine Stilikone der klassischen Moderne. Entworfen wurde das Interieur 1928 von dem Bauhaus-Künstler Johannes Itten. Neue Sachlichkeit in Holz, Chrom und Glas. Ein Ort für Eskapisten, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint.
Georg Etscheit schreibt auch für www.aufgegessen.info, den von ihm mit gegründeten gastrosophischen Blog für freien Genuss.