Ich weiß nicht, seit wann der Bärlauchwahn unser Land im Griff hat. Vielleicht ist es fünfzehn, zwanzig Jahre her, als man das penetrante Kraut zum kulinarischen Geheimtipp erklärte, der sich mittlerweile zu einer veritablen Bärlauch-Pandemie ausgewachsen hat.
Ich war unlängst bei Freunden zu einem Überraschungsmenü eingeladen. Die Dame des Hauses fragte mich, ob es Dinge gäbe, die ich nicht äße, was ich verneinte. „Ich bin Allesfresser“, sagte ich unvorsichtigerweise, weil ich die Ausschließeritis beim Essen hasse. Der eine mag kein Fleisch, der andere keinen Fisch, der Dritte hat angeblich eine Nussallergie, der Vierte ist Abstinenzler und beim Fünften, der sich gerade einer Lowcarb-Diät unterzieht, ist die Liste der Essverbote und Essgebote noch lange nicht zu Ende. Nur wenn man mir frittierte Heuschrecken, Schlangenragout oder Hundeeintopf servierte, würde ich um Dispens bitten.
Und bei Hammelaugen. Ich weilte einmal als Teil einer Reisegruppe in Kasachstan, wo wir von Wolgadeutschen, die unter Stalin in diese gottverlassene Gegend deportiert worden waren, zu einem Festmahl empfangen wurden. Als besondere Geste der Gastfreundlichkeit sollte die Leiterin unserer Gruppe vor versammelter Mannschaft ein Hammelauge verspeisen. Unter sichtbaren Qualen kam sie dieser Aufforderung nach. Hätte sie sich geweigert, wäre das ein Affront gewesen. Ich schwor mir, nie mehr in Länder mit solch archaischen Ess-Traditionen zu reisen.
Wie sich am Abend der Einladung herausstellte, sollte es als Hauptgericht Entenbrust geben. Volltreffer, ich liebe Entenbrust! Zubereitet nach der Sous-vide-Methode, was ein besonders zartes Fleischerlebnis versprach. Als Nachtisch Mousse au chocolat, auch einer meiner Favoriten, aromatisiert mit einem geräucherten Tee aus China. Und zum Entree eine Cremesuppe. Ich stattete der fleißigen Köchin einen Besuch in ihrem Reich ab und lupfte vorwitzig den Deckel des Topfes, dessen Inhalt auf dem Herd vor sich hin schmurgelte, worauf mir ein Schwall penetranten Laucharomas entgegenschlug. In mir keimte ein schrecklicher Verdacht. Aber vielleicht lag ich ja falsch und die Hausfrau hatte eine köstliche Spinatsuppe nur ein wenig zu stark geknofelt. Könnte auch Sauerampfer, sein, versuchte ich mir einzureden. Aber dafür ist jetzt nicht die Zeit und extra viel Knoblauch gehört auch da nicht hinein.
Ein Nachschlag blieb mir gnädigerweise erspart
„Das ist eine Bärlauchsuppe, Du magst doch Bärlauch?“ Nach einer Schrecksekunde entfuhr mir: „ICH HASSE BÄRLAUCH!“ „Aber du hast doch gesagt, dass du alles essen kannst.“ „Alles außer BÄRLAUCH“, erwiderte ich, woraufhin der Hausherr säuerlich anmerkte: „Da musst du jetzt durch.“ Wohlan, jetzt galt es, der kulinarischen Herausforderung die Stirn zu bieten. Schnell und genusslos löffelte ich ein Tellerchen von der Bärlauchsuppe in mich hinein, merkte tapfer an, dass sie „gar nicht so schlecht schmecke“. Ich glaube, etwas in dieser Art hatte auch unsere Gruppenleiterin gesagt, nachdem sie von dem Hammelauge gekostet und eine erste Attacke akuten Brechreizes niedergekämpft hatte. Ein Nachschlag blieb mir gnädigerweise erspart.
Ich weiß nicht, seit wann der Bärlauchwahn unser Land im Griff hat. Vielleicht ist es 15, 20 Jahre her, als man das penetrante Kraut, das bis dahin relativ unbeachtet jeden März oder April austrieb, blühte und wieder verdorrte, zum kulinarischen Geheimtipp erklärte, der sich mittlerweile zu einer veritablen Bärlauch-Pandemie ausgewachsen hat. Seither verbreitet das mit Knoblauch und Schnittlauch verwandte Gewächs Angst und Schrecken in deutschen Küchen, treibt langjährige Ehepaare auseinander, entzweit Freunde und Verwandte, macht Häuser unbewohnbar.
Ich kannte einen jüngeren Mann, der vollständig dem Bärlauch verfallen war und einmal im Jahr einen ganzen Sack des Krautes sammelte, um daraus einen Jahresvorrat an Bärlauchpesto zu fabrizieren. Der Gestank hielt sich wochenlang in Küche und Haus und vergrämte nachhaltig alle Besucher. Sicher könnte man mit einem Schälchen Bärlauchcremesuppe auf dem Fenstersims problemlos Vampire in die Flucht schlagen. Knoblauch finde ich, ist für diesen Zweck eigentlich zu schade. Denn dessen scharfer Geschmack und Geruch verliert sich beim Erhitzen fast völlig, außerdem entwickelt Knoblauch, wie Lauchstangen, eine aparte Süße, weshalb diese Gemüsesorten zu meinen Leibspeisen zählen. Nur roh ist Knoblauch ähnlich furchterregend wie Bärlauch.
Wo er wächst, bildet er gerne Massenvorkommen
Leider ist die Bärlauchpflanze hierzulande, vor allem in Süddeutschland, keineswegs selten, wo er in den Allgäuer Alpen laut Wikipedia sogar auf bis zu 1.400 Metern Seehöhe anzutreffen ist. Wo er wächst, bildet er gerne Massenvorkommen wie in München im Englischen Garten, den man unbedingt meiden sollte, wenn der Bärlauch zu blühen beginnt und es in der ganze Isaraue riecht wie beim schlechten Griechen. Unerfahrene Sammler verwechseln die Bärlauchblätter zuweilen mit jenen des giftigen Maiglöckchens, der Herbstzeitlose oder des Aronstabes. Die Tatsache, dass selbstgesammelter Bärlauch eine tödliche Gefahr darstellen kann, ist leider immer noch viel zu wenig bekannt.
Kaum ein Restaurant, das in der Bärlauchsaison keine einschlägigen Speisen offeriert. Unter dem Unheil verheißenden Motto „Alles vom Bärlauch“ komponieren finstere Köche Bärlauchmenüs, angefangen beim notorischen Bärlauchsüppchen über Bärlauch-Risotto bis hin zu mit Bärlauch gefüllten Saltimbocca oder einem „frühlingshaften Schweinerollbraten mit Bärlauch-Senf-Füllung“, zu dem sich Bärlauchspätzle gesellen. Bärlauch-Desserts harren offenbar noch ihrer Erfindung – Bärlauch-Panna-Cotta jedenfalls ist keine Süßspeise, sondern eine pikante Beilage. Auch in dem zum Menü gereichten Baguette schimmert giftgrün das schreckliche Kraut. Spätestens nach dem als Digestiv gereichten Bärlauchschnaps ist man reif für den Bärlauchentzug, eine schmerzhafte Prozedur, die, wie ich hörte, den Qualen einer Entwöhnung von harten Drogen nahekommt.
Selbstredend gibt es Bärlauch-Kochbücher im Dutzend und landauf, landab, dem unseligen Kraut gewidmete Festlichkeiten, wie die Eberbacher Bärlauchtage, die Marktschellenberger Bärlauchwochen oder das Bärlauchfest Kloster Lorch:
„Mitten in der Bärlauchsaison duften die Wälder ringsum nach Knoblauch und überall ergrünt der Bärlauch die noch kargen Waldböden. Die ideale Zeit den Besuchern den Bärlauch, Kräuter, Heilpflanzen und viele andere Pflanzen mit Wirkstoffen näher zu bringen.“
Wann endlich wird sich Gesundheitsminister Karl Lauterbach dazu durchringen, den Konsum von Bärlauch zu regulieren? Als erster Schritt sollten Bärlauchprodukte, analog zu Zigarettenpackungen, Warnhinweise tragen: „Bärlauch macht einsam!“ „Bärlauch ruiniert Ihre Geschmacksnerven!“, „Bärlauch macht obdachlos!“ „Bärlauch kann töten!“