Richard Wagner / 08.03.2012 / 07:57 / 0 / Seite ausdrucken

Cabaret Voltaire im Kreml

Es war Churchill, der Russland ein Rätsel innerhalb eines Geheimnisses nannte, umgeben von einem Mysterium. Ob das nun bloß britischer Humor war oder auch russische Wahrheiten enthielt, wollen wir an dieser Stelle nicht weiter ergründen. 
  Wir wollen uns auch nicht fragen, wer nun eigentlich die Präsidenten-Wahl in Russland gewonnen hat. Und auch nicht, wer Putin wirklich ist, ob Spieler oder Schachfigur oder gar beides.
  Sicher ist: Die Reflexion über Russland füllt ganze Bibliotheken. Es waren zunächst Ausländer, vor allem ausländische Diplomaten, die, meist in Briefform, versuchten, sich und anderen Köpfen des Westens das Phänomen Russland zu erklären. Eine der scharfsinnigsten Deutungen im Geiste der Aufklärung verdanken wir dem Franzosen de Custine. Wem es um eine Beschreibung ohne Umschweife geht, der wird auch heute noch in dem Werk ziemlich schnell fündig. Aber auch einheimische Kritiker, Russen, waren stets zahlreich mit Publikationen präsent, und auch sie sind nicht viel weiter gekommen als die Ausländer.
  Es ist der Gegenstand, der die Reflexion begrenzt. Russland ist heute immer noch mehr als ein Staat und weniger als ein Imperium. So sehen die Russen in den Vereinigten Staaten ein begehrtes Auswanderungsziel. Umgekehrt vermag man sich kaum vorzustellen, dass es Amerikaner gibt, die in Russland leben.
  Es ist nicht schwer herauszufinden, was die Gründe dafür sind. Sowjetrussland vermittelte seinen Bürgern lange Zeit den Eindruck, dass es die soziale Sicherheit auf niedrigem Niveau garantiere und dass die Vereinigten Staaten die unternehmerische Freiheit vorbehaltlos fördern würden.
  Die Gründer der Vereinigten Staaten waren Denker des 18. Jahrhunderts, von Aufklärung und Emanzipation geprägt.  Ihnen ging es um eine Gesellschaft, deren zentraler Wert die individuelle Freiheit bilden sollte. Sie orientierten sich am Prinzip.
  Dass die Utopie sich später, im 20. Jahrhundert, ausgerechnet in der Autokratie Russlands einnisten konnte, ist nur auf den ersten Blick ein paradoxer Vorgang. Die Gerechtigkeit ist zunächst einmal tatsächlich eine Frage für den Apparat, dem Einzelnen kommt es auf seine Freiheit an. Die Einführung der Sozialgesetzgebung im Deutschen Kaiserreich wurde von Bismarck, einem bekennenden Konservativen, durchgesetzt. Peter der Große ordnete die Modernisierung Russlands als Zar an. Was aber ist dieses modernisierte Russland, was könnte es sein?
  Das heutige Russland hat keine sichtbare Geschichte, weil es keine brauchbare Idee von dieser Geschichte hat. Seine Identität hat es zwar weitgehend Byzanz zu verdanken, es hat die Ostkirche aber nur beerbt. Bei allem, was später geschah, in Renaissance, Barock und Aufklärung, war Russland kein Akteur.
  Es hat in seiner Selbstwahrnehmung zwar keine Geschichte, aber eine große Vergangenheit. Von ihren Details spricht man ungern, man widmet sich lieber ihren angeblichen Gefährdungen. Es ist zumindest erstaunlich, wer und was alles diesen größten Flächenstaat der Erde aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Dieses kollektive Gefühl der Bedrohung rührt wohl aus seiner eurasischen Zwischenstellung her. Weil es nicht ganz europäisch sein kann, und asiatisch nicht sein will, hat man sich eine Zwischenstellung ausgedacht, die man für gewichtiger hält als die eindeutige Zuordnungsmöglichkeit. Dieser Gedanke macht so manches plausibel. Das Eurasische ist Russlands Freibrief.
  Lenin verbrachte den Ersten Weltkrieg bekanntlich in Zürich. Er wohnte dort in der Spiegelgasse 14. In der Nummer 1 befand sich das Cabaret Voltaire, wo die künstlerische Avantgarde tagte und die Dadaisten ein und aus gingen. Die Dadaisten waren die Verkörperung des Bankrotts der Avantgarde, während die Leninisten bald schon den Dadaismus der Französischen Revolution geben sollten. Lenin ist im Übrigen als Gegner der Demokratie in die Schweiz gekommen und als solcher hat er das Land auch wieder verlassen.
  Russland liegt, kulturhistorisch betrachtet, nicht in Europa. Sein Selbstverständnis beruht aber auf dem Bezug zu diesem. Russland hat zumindest im 19. Jahrhundert sogar einen gewichtigen Beitrag zur europäischen Kultur geleistet, und zwar mit den großen russischen Romanen der Epoche. Es beginnt mit Gontscharow und seinem Oblomow. Gontscharow war Schriftsteller und Angestellter der Zensur. Sein Roman handelt von einem Grundgefühl der russischen Gesellschaft. Es wird bald danach Oblomowismus genannt werden, und es meint die Lethargie und die Antriebslosigkeit. Heute ist man noch einen Schritt weiter. Oblomow wählt Putin.
  Als Lenin 1917 in Petrograd wie ein Brandbeschleuniger in den revolutionären Gärungsvorgang eingreift, hat sein Erfolg so gut wie gar nichts mit seiner politischen Analyse zu tun, die sich dem Imperialismus als höchstem Stadium des Kapitalismus widmete. Viel mehr hat der Machtantritt dieses Fanatikers mit der Selbstzerstörung der Großmächte zu tun, die es nicht verstanden hatten, der Eskalation vorzubeugen. Während aber in den Ländern des Westens die bürgerliche Welt zur Verabschiedung notiert wurde, hat in Russland ein Putsch stattgefunden, er richtete sich gegen die Demokratisierungsversuche der republikanischen Regierung Kerenski. 
  Russland hat aber nicht nur seine Lenins hervorgebracht, die Väter des Gulags, des Zwangsarbeitssystems, sondern auch seinen Solschenizyn. Er wird dieses System als verbrecherisch entlarven.
  Russland hatte zwar keine kritische Öffentlichkeit, dafür aber ein unnachahmliches Pathos, sobald es seit dem 19. Jahrhundert um die soziale Frage ging. Die Leidensfähigkeit und ihre Darstellung, sowohl, was die Bauernschaft angeht, als auch die Intelektuellen, die Volkstümlichen, Narodniki und andere, findet in den Ländern Europas kein Pendant. Russland wird nicht nur von den europäischen Völkern als Ausnahmefall betrachtet, es sieht sich selbst gerne so.
  Ein anderes Beispiel: Vor 20 Jahren waren die beiden Nachbargebiete Litauen und Kaliningrader Oblast Teil der Sowjetunion. Litauen war davor einer der drei unabhängigen baltischen Staaten gewesen, der Kaliningrader Oblast im nördlichen deutschen Ostpreußen, das Schnäppchen, das die russische Kriegsflotte sich am Ende des Zweiten Weltkriegs gönnte. Sieht man sich heute Litauen an, so stellt man fest, es waren zwar mancher Verzicht und noch mehr Leistung erforderlich für den Stand der Dinge, es sind aber auch entsprechende Erfolge aufzuweisen. Litauen ist seit 2004 Mitglied der EU. Der Kaliningrader Oblast hingegen ist auch heute noch Aufmarschbasis der Ostseeflotte Russlands, ihr eisfreier Hafen. Darüber hinaus gibt es dort eine eher informell zu bezeichnende Wirtschaft, die weitgehend Schmuggel- und Schwarzmarktcharakter trägt und zum Reprtoire des homo sovieticus gehört.
  Das Ende des Kommunismus hat die Gesellschaft Russlands nicht wirklich in Bewegung gesetzt. Es hat der Nomenklatura nicht das Heft aus der Hand genommen, sondern die Ausstrahlung der Macht beeinträchtigt. Zarismus und Bolschewismus ordneten das Land und seine Verhältnisse vom Kreml aus.
  Russland hat keine Parteien, es hat den Kreml. Parteien sind im Grunde nichts weiter als Wahlvereine, in denen man sich zusammenrauft, um einen Politiker in den Sattel zu heben.
  Am Ende einer Diktatur überleben vor allem deren Repressions- Instrumente, Polizei, Armee, Geheimdienste, der Staatsapparat. Die Staatspartei hingegen löst sich meistens auf. Sie symbolisierte das alte Regime, sie war seine Flagge. Die Geschwindigkeit, mit der sie sich auflöst, ist auch ein Zeichen der Inkonsistenz des Gesellschaftlichen. Vor diesem Hintergrund ging es seither immer nur um den jeweiligen Mann im Kreml. Zunächst war es Boris Jelzin, dann kam er, Putin. Der frisch fröhlich alkoholisierte ehemalige Parteifunktionär Jelzin brachte regelmäßig die Verhältnisse zum Tanzen. Auf die Diktatur folgte nicht die Demokratie sondern Samba und Chaos.
  Jelzins Privatisierungen bestätigten ein weiteres Mal die russiche Skepsis über die Rolle des Eigentums. Während die Staatsangestellten auf ihre Gehälter warten mussten, weil dieser Staat zahlungsunfähig war, machten sich die Glücksritter, die Oligarchen, vor aller Augen, ein schönes Leben am Pool. So hatten sie es im Kino gesehen. Nichts erscheint leichter an solchen Wendepunkten der Geschichte, als alles ins Patriotische zu verwandeln und zu verrücken.
  Während die Menschen ihre bislang geltenden Sicherheiten verloren und im Gegenzug
Versprechungen bekamen, wurde die Freiheit immer öfter zur Freiheit, Bankkonten zu eröffnen. Während die Privatisierung mit Mafiamethoden durchgeführt wurde und ganze Seilschaften aus dem Apparat, aus KGB und Armee, zu Milliardären machte, entdeckte der von der Parade ausgeschlossene homo sovieticus die Nostalgie.
  Damit waren die Voraussetzungen für den Auftritt eines Putin geschaffen. Er versprach endlich wieder für Ordnung zu sorgen. Das ist das Prinzip Putin. Dagegen zu stellen wäre die Meinungsfreiheit, wie sie von den Straßen-Demonstranten neuerdings gefordert wird. In Russland gab es stets eine kleine feine Opposition. Jetzt gibt es zum ersten Mal den allgemeineren Protest. Ob er mit Polizeimethoden unterdrückt werden kann, oder ob er sich bürgergemäß organisieren ließe, ist offen. Was nach Oblomow und dem homo sovieticus kommt, oder kommen könnte, lässt sich heute noch nicht sagen. Selbst mit Churchill nicht.

(Die gedruckte Version in Die Tagespost, Würzburg, http://www.die-tagespost.de)

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