Von Herbert Ammon.
Bundestagspräsident Norbert Lammert will die Regeln für die Benennung des Alterspräsidenten ändern. Der Alterspräsident des Bundestags fungiert in seiner Rolle nur in zwei Akten: Er hält die Eröffnungsrede bei der konstituierenden Sitzung des neugewählten Parlaments. Sodann präsidiert er bei der Wahl des Bundestagspräsidenten sowie von dessen/deren Stellvertretern. Dank der Würde seines Alters bürgt er bei der Eröffnung der Sitzungsperiode für die Tradition und Würde des Hohen Hauses.
Lammert möchte das ändern. Er begründet dies mit dem unkalkulierbaren Risiko, ein in parlamentarischen Dingen, in der Leitung einer größeren Versammlung, Unerfahrener könnte sich bei der Eröffnung des Parlaments verheddern. Er möchte deshalb den seit 1972 parlamentserfahrenen Wolfgang Schäuble auf dem Stuhl des Alterspräsidenten sehen.
Hinter derlei demokratischer Umsicht steckt ein höherer Zweck. Es besteht hohe Wahrscheinlichkeit, dass der niedersächsische AfD-Kandidat Wilhelm von Gottberg (auf Platz vier der Landesliste) in den Bundestag gewählt wird und dank hohen Alters bei der ersten Sitzung fungieren dürfte. Indes, der AfD die würdevolle Aufgabe der Parlamentseröffnung zuzuerkennen, sie vor den Augen der Nation moralisch aufzuwerten, scheint für den CDU-Politiker Lammert unvereinbar mit der bis dato praktizierten parlamentarischen Demokratie. Im Ältestenrat bekundeten Vertreter der Fraktionen bereits Verständnis für Lammerts innovativen Vorschlag.
Der Unterschied zwischen Waffenstillstand und Friedensvertrag
Lammert verkündete auch einen Beschluss zur symbolischen Befestigung der parlamentarisch-demokrsatischen Tradition in Deutschland: Zwei Liegenschaften des Deutschen Bundestages sind nach Otto Wels und nach Matthias Erzberger benannt worden. Am 23. März 1933, am Tag der Abstimmung über das sogenannte Ermächtigungsgesetz, hatte Otto Wels als Fraktionsführer der SPD unter den Drohungen der Nazis die Zustimmung seiner Partei mit den Worten verweigert: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen - unsere Ehre nicht.“
Als Staatssekretär zum Leiter der deutschen Delegation berufen, unterzeichnete der Zentrumspolitiker Erzberger - in den ersten Jahren des Ersten Weltkriegs noch Annexionist, gehörte er im Juli 1917 zu den Initiatoren der Friedensresolution im Reichstag - am 11. November 1919 im Eisenbahnwaggon bei Compiègne den Waffenstillstand. In den Auseinandersetzungen um die am 7. Mai 1919 von den Alliierten verkündeten Friedensbestimmungen befürwortete Erzberger mangels politischer und militärischer Alternativen die Annahme des Vertrags. Dieser wurde am 28. Juni im Spiegelsaal von Versailles von Außenminister Hermann Müller (SPD) und Verkehrsminister Johannes Bell (Zentrum) - unter Protest - unterzeichnet.
Erzberger zählte für die nationalistische Rechte zu den „Novemberverbrechern“ und zu den „Verzichtspolitikern“. Am 26. November 1921 wurde er von zwei Freikorpsleuten der „Organisation Consul“ ermordet.
Lammert begründete die Würdigung Erzbergers mit dessen Verdiensten bei Kriegsende: Während sich die Generäle ihrer Verantwortung entzogen, habe es Erzberger auf sich genommen, im Wald von Compiègne den Waffenstillstand zu unterzeichnen, "um das sinnlose Gemetzel in Europa nach vier entsetzlich langen Jahren endlich zu beenden." (Anmerkung H.A.: Hätten im Herbst 1918 noch irgendwelche militärischen Chancen bestanden, wäre das Gemetzel wohl noch weiter gegangen.) Danach setzte sich Erzberger für die Idee des Völkerbunds und die Unterzeichnung des von seinen Gegnern als „Friedensdiktat“ bezeichneten Friedensvertrags von Versailles ein, was ihm den Haß seiner reaktionären Gegner eintrug. Mit seinem Handeln habe sich Erzberger als um die soeben begründete Republik und die parlamentarische Demokratie in Deutschland “nachhaltige“ Dienste erworben. Unerwähnt ließ Lammert Erzbergers Leistung als Finanzminister 1919/20 bei der Reichsfinanzreform.
Im FAZ-Bericht (vom 24.03.2017, S. 4) wird die Ehrung Erzbergers wie folgt referiert: Er habe beim Waffenstillstand im Wald von Compiègne auf sich genommen, den Versailler Vertrag zu unterschreiben, "um das sinnlose Gemetzel in Europa nach vier entsetzlich langen Jahren endlich zu beenden."
Der Bericht in der „Qualitätszeitung“ liefert eine eklatante journalistische Fehlleistung: Der/die Autor/in vermengt – aus Eile, aus Fahrlässigkeit? - die Begriffe. Eine Endredaktion, die die Peinlichkeit zu korrigieren hätte, findet anscheinend nicht mehr statt. In der vorliegenden Form kommt es auf die historischen Fakten, auf Chronologie und Begriff anscheinend nicht an. Was zählt da der Unterschied zwischen Waffenstillstand und Friedensvertrag?
Herbert Ammon ist Historiker und politischer Publizist. In den 1980er Jahren engagierte er sich in der damaligen Friedensbewegung. Er ist insbesondere mit dem Buch „Die Linke und die nationale Frage“ bekannt geworden, das er zusammen mit Peter Brandt herausgab. Ammon ist Mitgründer und Mitglied im Kuratorium der Deutschen Gesellschaft e. V.. Sein Blog „Unz(w)eitgemäße Betrachtungen“ erscheint als Kolumne in „Globkult“.