Eines Morgens, es ist schon eine Weile her, weckte mich mein Radiowecker mit folgender Nachricht: Die Inhaberin einer Würstchenbude in München hat vom Finanzamt einen Umsatzsteuerbescheid über gut zwei Milliarden Euro erhalten. Sie meldete den Irrtum natürlich sofort, aber beim Finanzamt war man nicht so schnell bereit, diesen einzugestehen. Also nahm die Steuerschuldnerin anwaltliche Hilfe in Anspruch. Bei einem Streitwert von rund zwei Milliarden Euro hätte diese – laut Radiomeldung – etwa zwei Millionen Euro gekostet. Indes der Anwalt war bescheiden und wollte sich schon mit 600.000 Euro zufrieden geben. Auch das war dem Finanzamt aber zu viel. Also zog man vor Gericht.
Doch egal wie der Streit ausgegangen ist: Die viel zitierten Steuerzahler, also wir alle, sind die Dummen, denn wir müssen die Zeche zahlen. Auf die Ursache des Fehlers angesprochen, habe das Finanzamt lediglich versichert, man habe die internen Abläufe verbessert. Ein kluger Kopf beim Rundfunk hat ausgerechnet, dass die Inhaberin der Würstchenbude einen Jahresumsatz von zehn Milliarden Würstchen, mit Brötchen versteht sich, hätte haben müssen, um auf diese Steuerschuld zu kommen. Die 800 Millionen Hungernden dieser Welt hätten es ihr gedankt. Die wahre Schuld betrug übrigens etwas über 100 Euro.
Was lernen wir aus dieser Meldung, die immerhin die segensreiche Funktion hatte, mich sofort hellwach zu machen? Albert Einstein hatte recht mit seiner Bemerkung: „Zwei Dinge sind grenzenlos: Das Universum und die menschliche Dummheit. Beim Universum bin ich mir noch nicht sicher.“ Damit hätten wir eine Ursache der Bürokratie ausgemacht. Den Weg zu der zweiten eröffnet uns ein Gedanke des französischen Philosophen und Lyrikers Paul Valéry: „Zwei Dinge bedrohen die Welt: Die Ordnung und die Unordnung“. Fazit: Bürokratie ist unvermeidlich, aus ihren Klauen gibt es kein Entrinnen, nicht für Bürger, nicht für Politiker und schon gar nicht für die Bürokraten selbst.
Was ist eigentlich Bürokratie genau? Was meinen wir, wenn wir über Bürokratie klagen?
„Die Bürokratie ist ein gigantischer Mechanismus, der von Zwergen bedient wird.“ Mit diesem Satz von Honoré de Balzac, dessen ungeheures, unvergleichlich intuitives Wissen kein Geringerer als Stefan Zweig gerühmt hat, ist an sich schon alles gesagt. Nein, dies noch nicht: „Ein Bürokrat ist ein Mensch, der schon als Säugling unter der unendlichen Weite seines Laufstalls gelitten hat“ (Arnulf Rating, Kabarettist).
Das deutsche Wort „Bürokratie“ stammt – wie nicht wenige deutsche Wörter – aus zwei Sprachen: zur Hälfte aus dem Französischen und zur anderen Hälfte aus dem Griechischen. „Bureau“ bezeichnet im Französischen den Schreibtisch, aber auch das Arbeitszimmer, die Amtsstube, eine Gleichsetzung übrigens, die wir auch im Arabischen kennen, dort bedeutet „maktab“ (ﻣﻛﺗﺐ) ebenfalls Schreibtisch und Arbeitszimmer. Bureau leitete sich seinerseits ursprünglich von „bure“ ab, einem groben Wollstoff, mit dem man Schreibtische bezog. Aus dem Bezug wurde dann der Tisch selbst und daraus wiederum, weil er das wesentliche Utensil bildete, der gesamte Arbeitsraum. Den Wortteil „kratie“ kennen wir beispielsweise aus Demokratie, Aristokratie und Theokratie; er bedeutet „Herrschaft“ vom griechischen „krateia“. Bürokratie heißt demnach „Herrschaft des Arbeitszimmers oder der Amtsstube“.
Der Begriff „bureaucratie“ wurde von dem französischen Regierungsbeamten (Marineministerium) und Wirtschaftswissenschaftler (ihm wird das Motto zugeschrieben: „Laissez faire, laissez passer, le monde va de lui-même") Vincent de Gournay (1712 – 1759) geprägt, der die Tendenz zu immer mehr Schreibstuben und Kanzleien beobachtete (Werner Bruns, Zeitbombe Bürokratie. So verwalten wir uns zu Tode, S. 29).
Was fangen wir mit diesen Begriffsbestimmungen und Erklärungen an? Und vor allem: Was ist daran so aufregend und bedeutungsvoll, dass der Abbau von Bürokratie zur politischen „Chefsache“ geworden ist, mit der Bundeskanzler, Ministerpräsidenten und Minister, jeweils beiderlei Geschlechts, in Wahlkämpfen Stimmen zu gewinnen versuchen? Und warum ist „Bürokrat“ zum Schimpfwort geworden?
Bürokratie ist keine europäische Erfindung sondern total international
Schauen wir uns zunächst mal an, wie Verwaltungssysteme funktionierten, bevor sie „vom Schreibtisch aus“ betrieben wurden. An dieser Stelle ist es wichtig zu erkennen, dass wir uns von einer eurozentrierten Betrachtungsweise lösen müssen, zu der wir natürlicherweise neigen. Henry Jacoby (Die Bürokratisierung der Welt, Seite 23) weist darauf hin, dass „Bürokratie keine europäische Erfindung ist. Bürokratie hat es überall dort gegeben, wo es Aufgaben für große Gruppen von Menschen in einem großen Raum zentral zu lösen gab.“ Mag der Begriff „Bürokratie“ auch europäischen Ursprungs sein, sein Inhalt ist es keineswegs.
Zwar hat irgendjemand, der den Europäern schmeicheln wollte, mal gesagt, dass in Europa bereits eine Hochkultur herrschte, als die Bewohner Amerikas, womit wohl die Indianer gemeint waren, noch auf Fellen schliefen. Aber er hätte natürlich auch sagen können, dass die heute als rückständig geschmähten Araber über öffentliche Bäder, Krankenhäuser und Bibliotheken verfügten, als in den europäischen Städten noch ein Gestank herrschte, wie ihn Patrick Süskind für Paris in seinem Buch „Das Parfüm“ so anschaulich beschrieben hat. Entsprechendes ließe sich über das Reich der Inka, der alten Perser, Ägypter, Inder oder Chinesen und natürlich der Römer sagen. „Ägypten ist schon im 12. Jahrhundert vor Christus ein wahrer Beamtenstaat mit allen charakteristischen Zügen einer bürokratischen Verwaltung“ (Otto Hintze, Beamtentum und Bürokratie, S. 28).
Der persische König Dariusch I. (522 bis 486 vor Christi Geburt), den wir bezeichnenderweise überwiegend unter seinem griechischen Namen Dareios kennen, herrschte über ein riesiges Reich, das „nur durch eine bewundernswert funktionierende Verwaltung zusammengehalten werden“ konnte, wie Heidemarie Koch in ihrem lesenswerten Buch „Es kündet Dareios der König ...“ schreibt. „Befand sich beispielsweise ein Beamter auf Reisen, so führte er mit sich einen gesiegelten Reisepaß. Auf diesem war vermerkt, in wessen Auftrag er reiste, welche Strecke er zurückzulegen hatte und was er an Mehl, Wein und auch Fleisch für seinen persönlichen Unterhalt und gegebenenfalls für den seiner Begleitung und Dienerschaft zu erhalten hatte. Über diese Ausgaben wurden dann gleich wieder Buch geführt.“ Von jedem in Keilschrift auf kleine Tontafeln geritzten Beleg wurden zwei Abschriften gefertigt. „Ein Exemplar verblieb bei der Poststation, eine Abschrift ging an die Intendatur des Verwaltungsbezirks und eine weitere direkt an die Zentrale in Persepolis.“
Tontafeln und Sechsaugen-Prinzip in Persien
„Doch das achämenidische Kontrollsystem“, schreibt Koch weiter, „erschöpfte sich nicht im Sammeln dieser Einzelbelege. Alle zwei Monate mußte eine zusammenfassende Abrechnung aller Einzelposten angefertigt werden. Diese erleichterte auch der Zentrale in Persepolis die Überprüfung.“ Schließlich wurden noch „Jahresendabrechnungen“ erstellt. „In ihnen werden sämtliche Einnahmen und Ausgaben eines Jahres zusammengestellt. Diese Tontafeln müssen natürlich ein viel größeres Format haben. Für die Richtigkeit dieser Gesamtabrechnungen sind drei Beamte verantwortlich.“ Und so weiter und so weiter. Also, Bürokratie schon vor zweieinhalbtausend Jahren. Und wer weiß, wie es Tausend Jahre davor bei den Chinesen ausgesehen hat!
Wir können also durchaus als Zwischenbilanz festhalten, dass das Phänomen „Bürokratie“ wesentlich älter ist als der Begriff, der dieses Phänomen bezeichnet. Er bedeutet nicht mehr und nicht weniger als eine rationale, systematische, nachvollziehbare und damit kontrollierbare Methode der Verwaltung. Diese stellt sich einfach als notwendig heraus, sobald das zu verwaltende Gebiet und die Zahl der darin lebenden Menschen eine kritische Größe überschreiten, die ohne bürokratische Hilfen nicht mehr beherrschbar ist. In diesem Sinne ist Bürokratie zunächst wertfrei nichts weiter als ein Hilfsmittel oder eine Methode, ein Bündel von Maßnahmen, mit denen das erstrebte Ziel möglichst effektiv erreicht werden kann. So wird „Bürokratie“ auch heute noch nicht selten als Synonym für „Verwaltung“ gebraucht, ohne dass damit von vornherein ein negativer Beigeschmack verbunden ist.
Wer sich über unsere heutige Bürokratie beklagt, tut gut daran, sich einmal die Regelungen aus der „guten alten Zeit“ in den polizeistaatlich geprägten deutschen Staaten anzuschauen, namentlich in Preußen, aber auch in Bayern, Württemberg, Sachsen und im habsburgischen Österreich. Als Polizeistaat bezeichnen wir einen Staat, der in sehr starker, aus heutiger Sicht zu starker, Weise in das Leben seiner Bürger reglementierend eingreift. Das kann in zwei Richtungen gehen: in Richtung „Wohlfahrtsstaat“ und in Richtung „Überwachungsstaat“, schlimmstenfalls in beide. Dabei wurde Polizei im Sinne der klassischen Formulierung in § 10 II 17 ALR, des Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 (erst 1931 durch Einführung des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes [PVG] abgelöst), verstanden: „Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der dem Publico oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Policey.”
Die Polizey des 18. und frühen 19. Jahrhunderts unterschied sich nicht nur in ihrer Schreibweise von der heutigen Polizei. Die Polizey war nicht allein für Überwachung und Bestrafung, sondern auch für Gesetzgebung und die private wie allgemeine "Glückseligkeit" zuständig. Sie leitete sich vom griechischen "politeia" – Staat, Verfassung – ab und erhob die öffentliche Sorge für die "Wohlfahrt" der Einzelnen wie des ganzen Gemeinwesens zu ihrem Anliegen. Die Polizey verkörperte damit die gesamte innere Staatsverwaltung, und ihr Gegenstandsbereich wurde nahezu grenzenlos. So gab es eine "Moralpolizey" neben der "Kultur- oder Bildungs-Polizey", es existierte die "medizinische Polizey" ebenso wie die "Armenpolizey" oder die "Bevölkerungspolizey", die "Polizey der Sittlichkeit", die "Polizey der Erziehung" und viele mehr. Der ganze Komplex der Erziehung und Bildung, der Religion und des sittlichen Verhaltens war in den Bereich der Polizey mit einbezogen.
Wer mehr wissen möchte lese den informativen Beitrag „Die Polizey und die Mütter“ von Sabine Toppe im Forschungsmagazin der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, dem der vorstehende Absatz entnommen ist.
In der nächsten Folge morgen lesen Sie: Hat Amerika es besser?
Der Verfasser hat 37 Jahre in der öffentlichen Verwaltung in Baden-Württemberg gearbeitet, davon 35 Jahre im Innenministerium in Stuttgart. In den Jahren 1973/74 war er Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Innere Verwaltungsreform“, die frischen Wind in die Amtsstuben bringen sollte.