Die Demokratie ist in Gefahr und muss sich wehren. So jedenfalls sieht es die Bundesregierung. Offenbar um die Stoßrichtung des geplanten Demokratiefördergesetzes zu untermauern, hat sie es nun „Gesetz zur Förderung der wehrhaften Demokratie“, getauft.
Das Konzept der „Wehrhaften Demokratie“ geht auf den deutsch-jüdischen Verfassungsrechtler Karl Löwenstein zurück. Er argumentierte, der Aufstieg der Nationalsozialisten in der Weimarer Republik hätte verhindert werden können, wenn man damals weniger Achtung vor demokratischen Rechten gehabt hätte. In einem 1937 veröffentlichten Beitrag schrieb er: „Die mangelnde Militanz der Weimarer Republik gegen subversive Bewegungen, auch gegen solche, die eindeutig als subversiv verstanden werden, bildet im Nachkriegsdilemma der Demokratie Beispiel wie Warnung […]. Es muss offen gesagt werden, dass der Nationalsozialismus von der katastrophalen Erfahrung der Weimarer Republik zu profitieren wusste. Das Einparteiensystem war die logische Antwort auf die demokratische Toleranz der zerstörten Republik.“
Wie der britische Publizist Daniel Ben-Ami erklärt, hat dieses Prinzip, demzufolge Demokratien in der Lage sein müssen, sich auch mit „undemokratischen Maßnahmen zu verteidigen“ und „die Öffentlichkeit vor der Artikulation bestimmter Ansichten abgeschirmt werden muss“, in Deutschland seine weltweit „höchste institutionelle Form“ ehrhalten.
Gefährliche Meinungen
Das „Gesetz zur Förderung der wehrhaften Demokratie“ zielt ganz in diesem Sinn darauf ab, die Bürger vor den negativen Einflüssen zu schützen, die von denjenigen ausgehen, die „Hass und Hetze“ schüren oder „Falschnachrichten“ verbreiten. Die Menschen sollen dafür weniger anfällig werden, indem staatlich geförderte Initiativen ein gewichtiges Gegensprachrohr bilden und gezielte Aufklärungsarbeit betreiben. Man wolle, so Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, „Menschenfeindlichkeit von vornherein den Nährboden“ entziehen und verhindern, dass die Corona-Krise von „Hetzern“ missbraucht werde, „um neue Wellen von Hass und Verschwörungstheorien zu verbreiten“. Die Bürger bräuchten ein „stärkeres Bewusstsein für Rassismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen“ und bei ihnen sei „Anerkennung und Wertschätzung einer vielfältigen und chancengerechten Gesellschaft“ zu bewirken.
Auch das 2017 unter Federführung des damaligen Justizministers Heiko Maas eingeführte Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) beabsichtigt ebenfalls, die Allgemeinheit gegenüber Hass und Hetze abzuschirmen. Erreicht werden soll dies jedoch nicht, indem wie beim „Wehrhafte Demokratie Gesetz“ die Resilienz der Bürger gefördert wird, sondern indem alles unterdrückt wird, was als „Hass und Hetze“ eingestuft werden kann. Das hat man mit dem NetzDG erreicht, indem man nicht etwa direkt gegen Nutzer vorgeht, sondern indem ausschließlich den Plattformbetreibern Strafen angedroht werden, wenn sie dem ein Podium bieten.
Aufgrund des NetzDG können sie wegen Beihilfe zur Hasskriminalität bestraft werden und zwar auch dann, wenn der Täter nie vor einem ordentlichen Gericht angeklagt wird. So generiert das Gesetz eine unsichere Rechtslage. Gewollt – oder zumindest billigend in Kauf nehmend – entfaltet es eine deutlich größere Löschwirkung, als dies bei staatlicher Rechtsdurchsetzung gegenüber den Tätern der Fall wäre. Im Zweifel sollen auch solche Postings, die durch die Meinungsfreiheit gedeckt wären, schnellstmöglich von den Plattformbetreibern in Eigenregie gelöscht oder blockiert werden. Damit wird sogar in Kauf genommen, dass den Strafverfolgungsbehörden strafrechtlich relevante Inhalte, die zur Verfolgung der Täter führen könnten, verborgen bleiben.
Zweifel am Bürger
Die enorme Dynamik, die dieser von staatlichen wie auch privaten Institutionen und Initiativen vorangetriebene Kampf gegen „Hass und Hetze“ und „Falschnachrichten“ in den letzten Jahren erreicht hat, speist sich aus der in weiten Teilen der Gesellschaft geteilten Einschätzung, dass die große Masse der Wähler nicht über die intellektuelle Reife verfügt und moralisch nicht hinreichend gefestigt ist. Sie bildeten einen „Nährboden“, indem sie sich von dumpfen Parolen beeinflussen und verführen ließen. Ihnen wird kaum zugetraut, sich in einem Umfeld von Hass- und Hetzbotschaften, Falschnachrichten und Filterblasen eine eigene, unabhängige Meinung bilden zu können.
Sorgenvoll drückte dies Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Weihnachtsansprache 2018 aus: „Immer mehr Menschen ziehen sich zurück unter ihresgleichen, zurück in die eigene Blase, wo alle immer einer Meinung sind – auch einer Meinung darüber, wer nicht dazugehört.“ Die Bürger versinken vermeintlich in Echokammern, seien anfällig für Verschwörungstheorien, ließen sich mit Worten zu Taten hinreißen, und quasi automatisch verschiebe sich daher das Meinungsklima in Richtung der Hetzer.
Der Regierungsentwurf für das „Gesetz zur Förderung der wehrhaften Demokratie“ läuft sogar darauf hinaus, die derart suspekten Bürger durch den Aufbau eines neuen sozialen Gefüges zu neutralisieren oder gar obsolet zu machen. Mit dem gesetzlich auf zunächst vier Jahre ausgelegten 1,1-Milliarden-Programm, so die SPD, gehe es darum, eine strukturell abgesicherte und dauerhafte Förderung von Initiativen sicherzustellen, die sich „gegen Nazis und für die Demokratie“ einsetzten. Derart gesetzlich abgesichert und langfristig finanziert, könnten die Initiativen nun Strukturen ausbauen und weiterentwickeln, die einer lebendigen, weltoffenen und bunten Zivilgesellschaft eine stabile Basis gäben, „quasi als Bollwerk gegen fremdenfeindliche und rassistische Umtriebe“, wie Scholz betont. Die Idee, dass souveräne Bürger ihre Demokratie selbst gestalten, wird zugunsten eines institutionellen Gefüges aufgelöst, das man als Demokratie bezeichnet.
Masse als Problem
Die große Tragik der Demokratie besteht darin, dass das antidemokratische Infragestellen der Moral und Vernunft der Bürger von keiner relevanten gesellschaftlichen Strömung kritisiert und zurückgewiesen wird. Es ist im gesamten politischen Spektrum tief verankert. Die Geringschätzung der Bürger beruht, wie der britische Soziologe Frank Furedi in einer exzellenten Analyse im Buch „Democracy Under Siege“ zeigt, auf einer langen Tradition und auf Konzepten, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg in der westlichen Welt durchgesetzt haben.
Ab den 1920er und 1930er Jahren begann die Massenpsychologie eine große politische Relevanz zu entwickeln. Sie geht auf Gustave Le Bon zurück, der die Krisenzeit der Februarrevolution 1848 und der Pariser Kommune von 1871 erlebte und sich mit dem irrationalen und zerstörerischen Verhalten urbaner Mobs befasste. Die Massenpsychologie betonte die Existenz „einer vermeintlichen Diskrepanz zwischen rationalen Institutionen und einer irrationalen Öffentlichkeit“ und diente dazu, den Aufstieg von Faschismus und Autoritarismus mit der psychischen Veranlagung der Menschen zu erklären.
Das zweite ideologische Konzept, das bis heute eine Rolle spielt, geht zurück auf Joseph de Maistre, einen konservativen Kritiker der französischen Revolution. Er fürchtete die Energie, die von leidenschaftlich agierenden Massen ausgehen kann. Daher betrachtete er den Einfluss egalitärer und demokratischer Ambitionen als zivilisatorische Bedrohung. Wie Furedi ausführt, kam es in der Phase zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg zu einer Transformation des konservativen Narrativs, das sich auch im Liberalismus verfing. Eine negative Einschätzung von Massenkultur überlagerte sich mit einem Vertrauensverlust in politische Reformen und die Demokratie.
„Verstandesmäßig Kinder oder Unzivilisierte“
Die öffentliche Meinung geriet unter Beschuss und wurde routinemäßig als Synthese irrationaler Mythen und Vorurteile abgewertet. Diese Auffassung wurde 1922 in der einflussreichen Studie „Die öffentliche Meinung“ des amerikanischen Journalisten Walter Lippmann vehement vertreten: Der Teil der „absolut ungebildeten“ Wählerschaft sei viel größer, als man vermuten würde, und diese Menschen seien „verstandesmäßig Kinder oder Unzivilisierte“ und damit natürliche Opfer von Manipulation.
Einen ebenfalls großen Einfluss entfaltete die Kritik der Frankfurter Schule, der Denker wie Herbert Marcuse, Theodor Adorno und Max Horkheimer angehörten. Sie kritisierten die Massenkultur, da sie die Menschen ihrer Fähigkeit zum kritischen Denken beraube, und entwickelten eine paternalistische Sicht auf die Masse, die vor ihrem eigenen irrationalen Verhalten geschützt werden müsse. Marcuse, der in den 1960er Jahren einen großen Einfluss auf die Neue Linke hatte, behauptete, die hypnotische Macht der Massenmedien indoktriniere und konditioniere die Menschen, so dass sie zu passiven Opfern deren Manipulationen würden.
Bis zur Mitte der 1930er Jahre hatte die Enttäuschung über demokratische Politik so weit geführt, dass sogar die Demokratie als ursächlich für die destruktiven und irrationalen Kräfte betrachtet wurde, die sich weltweit entfalteten. Im seinem 1935 erschienenen Buch „Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus“ behauptet der einflussreiche Soziologe Karl Mannheim, die Demokratie habe das Terrain für die Ausbreitung totalitärer Bewegungen bereitet, denn im „Zustand der vermassten Gesellschaft, in dem die nicht geformten und in das Gesellschaftsgefüge nicht eingeordneten Irrationalismen in die Politik gedrängt werden […] erfüllt sich dann [mit den Mitteln der Demokratie] das Gegenteil von dem, was der ursprüngliche Sinn der Demokratisierung war.“
Die Aushöhlung der Demokratie wird heute vorangetrieben, indem man die Bürger ihrer moralischen Autorität beraube, so Furedi. Da die Legitimität von Regierungen auf öffentlicher Zustimmung und demokratischen Institutionen beruhe, werde die institutionelle Form der Demokratie nicht angegriffen, sondern sogar vehement verteidigt. Der Propagandakrieg gegen die Demokratie nehme wegen der notwendigen rhetorischen Bejahung der Demokratie eine „stille Form“ an. Indem er „die Fähigkeit der Menschen infrage stellt, die Rolle eines intelligenten und verantwortlichen Bürgers einzunehmen“, bahnt er den Weg für eine Demokratie ohne Volk.
Mehr von Alexander Horn lesen Sie in seinem gemeinsam mit anderen Autoren verfassten aktuellen Buch „Experimente statt Experten: Plädoyer für eine Wiederbelebung der Demokratie“.