Der Schriftsteller Heinrich Böll (1917 - 1985) ist weitgehend vergessen. Er wird im literarischen Diskurs nur mehr als Nachkriegsschriftsteller geführt, oder, herabwürdigender noch, als Schulbuchautor. Dabei galt Böll, Literaturnobelpreisträger von 1972, in den 1970ern als Gewissen der Nation. Er dachte vor, was die Guten im Lande von verzwickten Entwicklungen des politischen Geschehens zu denken hatten.
Besonders wichtig war das in Gemengelagen wie zur Zeit des RAF-Terrors. Bevor die linken Ton-Angeber dazu den Mund aufmachten, stellten sie sich erst mal die Frage: Was sagt Böll? Der gute Mensch von Köln war das Leitmedium der 1970er. Was beweist, dass die Abgabe des eigenen Urteilsvermögens an Mediengarderoben wie denen in Hamburg oder Prantlhausen keineswegs ein neuartiges Phänomen darstellt.
Fast 50 Jahre später ist kein weiser alter Häuptling mehr verfügbar, der moralisch Beratungsbedürftige mit der Milch der zivilgesellschaftlichen Denkungsart versorgt. Dafür geigt ein ganzes Orchester aus Politikern, Gewerkschaftern, Medienschaffenden, Kirchenleuten, EEG-Lobbyisten, Klimaapokalyptikern, Islamverstehern, Werterelativierern, Migrationserklärern, Minderheitenbeschützern, Rassismus-Exorzisten und Pressure Groups für jedes nur denkbare Partikularinteresse dem Volk von früh bis spät ins Ohr, was es, das Volk, zu denken habe.
Die Transformation von Deutschland in die moralische Superflowerpowergroßmacht des Planeten, welche alle Mühseligen und Beladenen der Welt mit geöffneten Armen und gezückten Brieftaschen empfängt, gleichzeitig die Renten erhöht und die Lebensarbeitszeit verkürzt, dabei selbstfahrende Elektroautos und preiswerten Wunderstrom einführt, Armutsländer zu blühenden Landschaften promoviert und nebenher passende Toiletten für 71 Geschlechter aufstellt -, diese Erfolgsgeschichte wäre betörend.
Sofern andere Länder nicht vorher beschließen, um Deutschland einen Zaun zu ziehen und das Staatsgebiet per UNO-Resolution zur geschlossenen Anstalt zu erklären.
Die Sehnsucht der Deutschen nach „Wiedergutwerdung“
Wie Schland in diesen Zustand geraten konnte, hat der Autor Markus Vahlefeld in einem scharfsinnig geschriebenen Buch dargelegt, dessen Titel bereits die ultrakurze Inhaltsangabe ist: „Mal eben kurz die Welt retten. Die Deutschen zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung.“ Die Sehnsucht der Deutschen nach „Wiedergutwerdung“ sei es, so Vahlefeld, die sie so gefügig macht für die Akzeptanz offenkundig hirnrissiger Vorstellungen wie die von einer „Energiewende“ mittels Zappelstromerzeugung. Oder für die Annahme, eine Masseneinwanderung von Bildungsfernen aus gescheiterten Staaten mit vormittelalterlichen Bräuchen könnte den hiesigen Lehrlings-, Ärzte-, Ingenieure- und Facharbeitermangel beheben.
Selbst die Tatsache, schreibt der Autor, dass gemäß einer Auswertung der Hamburg Media School von 34.000 Beiträgen zur „Flüchtlingsproblematik“ 82 Prozent positiv aufgeladen waren und nur sechs Prozent dieses Thema problematisiert hatten, könne allein nicht erklären, weshalb große Teile der schonetwaslängerhierlebenden Bevölkerung noch immer, wenn auch vielleicht nur mehr drittelherzig, der Durchhalteparole traut: „Wir schaffen das.“
Nicht mal die den Darbietungen einer Propagandakompanie ähnlichen Berichte öffentlich-rechtlicher Fernsehsender aus der Hochzeit der Flüchtlingsströme – gezeigt wurden vorzugsweise Frauen mit kulleräugigem Kindern, nicht die weitaus überwiegenden Scharen junger, häufig aggressiv auftretender Jungmänner –, nicht mal diese „moralische Generalmobilmachung“ (Vahlefeld) der Medien zugunsten der Kanzlerin hätte für sich genommen bewirken können, dass ein allgemeiner Aufschrei angesichts der sperrangelweit offenen Schotten unterblieb.
Dahinter stecke mehr, meint Vahlefeld. Nämlich eine seit Jahrzehnten von Lehranstalten und Medien in die Gehirne implantierte Vorstellung, die deutsche Geschichte mit Auschwitz habe das Land im späten Ergebnis zu einer Art Besserungsanstalt veredelt, deren Insassen sich ständig mit neuen Guttaten bewähren müssten, nein dürften. Das sei der tiefere Grund für eine groteske Situation: „Die bis dato nur von linksextremen Splittergruppen zu hörenden Slogans ‚no borders’ und ‚kein Mensch ist illegal’ wurden unter einer CDU-Kanzlerin zur offiziellen Regierungspolitik.“ Wer hartleibig insistiere, es gebe „keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung“ (Peter Sloterdijk), werde flugs auf die Achse des Bösen verbannt.
Die „Quäkeridylle“ der Ökohysteriker
Wie ein Exkurs wirkt zunächst Vahlefelds Kapitel über das „linke Denken“. Ein Blick zurück ins Oberstübchen des grünlinken Gesellschaftsverständnisses hilft jedoch, das aktuelle Geschehen im Tollhaus D ansatzweise zu begreifen. Vahlefeld nennt das Etikett linksliberal, das am gegenwärtigen Zeitgeist baumelt, puren Schwindel. Zu Recht: links (staatshörig, gängelungsgeneigt, verbotsverliebt) und liberal (der Freiheit des Individuums gegenüber staatlichen Zumutungen verpflichtet) sind Antagonismen.
Das Wort wurde überhaupt nur geprägt, um den nach Erfolglosigkeit müffelnden Begriff links ein bisschen aufzupeppen. In Amerika firmieren Linke übrigens nicht als left-wingers, was sie tatsächlich sind, sondern lieber als liberals, wie in dem wunderbar weinerlichen „The Logical Song“ der Collegecombo „Supertramp“ von anno 1979 anzuhören. Auch Al Gore hält sich für einen Liberalen.
Linksliberal (aka weltuntergangsängstlich, stets um alles besorgt, vor allem um die eigene Gesundheit) sei das neue links, schreibt Vahlefeld, nicht zu verwechseln mit dem alten links, das für Arbeit, Fortschritt, Zukunftsoptimismus stand. Linksliberal müsste eigentlich grünlinks heißen, denn Linksliberale hätten diverse Versatzstücke aus dem grünen Fundus gemopst. Etwa die „Kultur des Weniger“, die Anbetung der Ökologie, die Geringschätzung der Freiheit. Die „Quäkeridylle“ (Vahlefeld) der Ökohysteriker, die allem das Primat der Umweltverträglichkeit überstülpen – sogar pupsende Kühe werden auf diese Weise zu Klimaverbrechern – ist von den einstigen Landkommunen-Schraten ausgehend längst tief ins Sozenmiljöh eingesickert.
Ja, die neue Linke – vor allem ihr akademischer Zweig – ist ganz gut darin, Tatbestände durch Sprachregelungen zu verändern, ja auf den Kopf stellen zu wollen. Indem die „herrschende“ Sprache zum bloßen gedanklichen Konstrukt erklärt wird, tut sich mittels semantischer Umtopfung ein weites Feld für neue Deutungshoheiten auf. Vahlefeld erklärt das am Begriff „strukturelle Gewalt“, ersonnen 1969 von einem schwedischen Friedensforscher.
Der stellte dem altmodischen Gewaltbegriff, welcher physische Gewalt meint, die angebliche Gewalt der Strukturen entgegen, welche Menschen daran hindert, so zu sein und zu leben, wie sie’s gerne hätten: „Strukturelle Gewalt ist die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist.“
Der frömmelnde Begriff „Schutzsuchende“
Wenig erstaunlich, dass in Ländern wie Schweden oder Deutschland große Teile der veröffentlichten Meinung, aber auch ein Teil der so grundierten Richterschaft, kuschelweich mit Straftätern umgehen, die es vorgeblich oder wirklich schwer gehabt haben im Leben. Und selbstredend haben nach schwedischer Lesart neun Zehntel der Weltbevölkerung das unabdingbare Menschenrecht, ihrer strukturellen Gewalt zu entfliehen und sich in Gegenden niederzulassen, die friedlicher, sozialer und klimatisch angenehmer sind. „Die akademische Linke glaubt“, schreibt Vahlefeld, „mit der Herrschaft über die Begriffe und Worte auch die Herrschaft über die Gesellschaft insgesamt erringen zu können.“
Der Erfolg dieser Bemühungen ist beträchtlich. Man kann das an der Karriere eines Begriffs festmachen. Bei den Strömen von Menschen, die während der Jugoslawienkriege in den 1990ern nach Deutschland kamen (und die sich zu einem erheblichen Teil bis heute nicht wirklich integriert haben), sprachen die Medien noch von „Asylanten“ oder „illegalen Zuwanderern“. Beide Zuschreibungen fallen mittlerweile schwer unter Naziverdacht.
Ab dem Merkel-Dekret 2015 begann sich mediendeckend das Wort „Flüchtling“ pauschal für alle durchzusetzen, die es irgendwie ins Land geschafft haben. Weil das –„ing“ angeblich sächlich-abwertend klang, benutzte eine Reihe von Journalisten bald das Wort „Geflüchtete“, und zwar nicht nur in der „taz“. Neuerdings taucht öfters der frömmelnde Begriff „Schutzsuchende“ auf, welcher den Leser mit der Nase drauf schubsen möchte, um was es verdammt noch mal geht. Wahrscheinlich ist das aber nicht das Ende der Fahnenstange. Da nun häufiger Fälle publik werden, in denen Menschen vor Schutzsuchenden Schutz suchten - übrigens auch echte Schutzsuchende -, muss was Neues her. Wie wäre es mit „Opfer struktureller Gewalt“?
Vahlefelds eleganter Flug über das Kuckucksnest D (der deutsch-englische Autor, geboren 1966 in Hongkong, kennt seine Adornos, Horkheimers, Blochs, schreibt stringent und kultiviert), hat eine interessante Punktlandung gemacht. Sein auf eigenes Risiko im Selbstverlag publiziertes Buch, das ohne nennenswerte Werbung auskommen musste und noch von keinem großen Medium einer Rezension für wert befunden wurde (kein Wunder bei dem Testat, das er großen Teilen der Medien ausstellt), geriet zum Bestseller. Über 10.000 verkaufte Exemplare in ein paar Monaten – für eine politische Bestandsaufnahme mehr als Ritterschlag.
Wie kommt so was zustande? Ich habe da eine Ahnung. „Mal eben kurz die Welt retten“ ist bei allem Irrsinn, den es auflistet und einordnet, durchaus kein düsteres Deutschland-am-Ende-Werk. Durch die Zeilen schimmert, jedenfalls für mich, irgendwie die Hoffnung, dass Aufklärung etwas bewirken kann. Dass vielleicht nicht alles gut, womöglich aber doch ein bisschen besser werden könnte, als es derzeit möglich scheint. Hier geht’s zur ultimativen Revue des Spätmerkelismus.
Markus Vahlefeld: Mal eben kurz die Welt retten - Die Deutschen zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung, Mai 2017. Erhältlich im Buchhandel, auf amazon oder direkt auf markus-vahlefeld.de