Rainer Grell / 25.04.2017 / 15:07 / Foto: US Army Band / 4 / Seite ausdrucken

Brutalstmögliche Aufklärung und dröhnendes Schweigen

Diese Schlagzeile brachte die „Welt“  im August 2010. „‘Brutalstmögliche Aufklärung‘: Koch-Sätze, die bleiben“.  In der Tat: Wer spricht heute noch von Roland Koch (er begegnet uns allenfalls noch als Merkel-Opfer), aber der Satz hat das Zeug zum geflügelten Wort oder ist es vielleicht schon. Damals waren übrigens Ungereimtheiten in der Finanzierung der hessischen CDU Ziel der geforderten Aufklärung.

Wenn Politiker „Aufklärung“ fordern, haben sie meistens allerdings nicht solche Petitessen oder gar Aufklärung im Sinne von Voltaire und Kant vor Augen. Vielmehr geht es darum, Licht in das Dunkel eines islamistischen Anschlags oder einer Straftat aus dem „rechten Spektrum“ zu bringen. Brutalstmöglich muss diese Aufklärung zwar nicht unbedingt sein, aber „rückhaltlos“ und „schnellstmöglich“ auf jeden Fall. In der Zeit der schier unübersehbaren Ratgeber (ultimativ: „Scheiß drauf!: Ein Ratgeber für alle, die ihr Leben verändern wollen. Wie Du neu anfängst, alte Muster ablegst und endlich ein glückliches Leben führst ... ändern, Selbstbewusstsein stärken“) gibt es einen solchen auch auf diesem Feld: „Rückhaltlose Aufklärung: Politiker-Deutsch für Anfänger“ – gebraucht bereits ab 4,76 Euro zu haben.

Und damit bin ich beim Thema. Kaum ist irgendetwas passiert (natürlich nicht irgendwas, sondern etwas Gravierendes), wie in diesen Tagen der Anschlag auf den voll besetzten BVB-Mannschaftsbus, schon melden sich Politiker aller Couleur zu Wort, drücken ihre Empörung oder gar ihre Abscheu vor dem „feigen“ Anschlag aus und fordern eben dessen unvermeidliche Aufklärung. Bleiben wir mal bei Letzterem. Der Ruf nach rückhaltloser, schnellstmöglicher Aufklärung hat mittlerweile die Form eines Rituals angenommen. Was würde eigentlich ohne dieses Ritual passieren? Klar: Polizei und Staatsanwaltschaft würden die Hände in den Schoß legen und warten, bis der Vorgang in Vergessenheit geraten ist. Der Weckruf des Innenministers verhindert, dass derartiges passiert. Oder?

Schaumschlägerei oder Ausdruck des Misstrauens

Die Strafverfolgungsbehörden in Deutschland unterliegen dem so genannten Legalitätsprinzip. Das heißt, sie sind verpflichtet, Straftaten zu verfolgen, „sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen“ (§ 152 Absatz 2, §§ 160, 163 Strafprozessordnung). Eines besonderen Hinweises oder gar einer Aufforderung durch den Innenminister, den Justizminister oder die Bundeskanzlerin oder einen Ministerpräsidenten bedarf es dazu nicht. Kommen die Strafverfolgungsbehörden ihrer gesetzlichen Verpflichtung, „den Sachverhalt zu erforschen“, nicht nach, machen sie sich wegen Strafvereitelung im Amt strafbar (§ 258a Strafgesetzbuch).

Danach sind entsprechende Aufforderungen entweder nichts weiter als politische Schaumschlägerei oder – horribile dictu – Ausdruck des Misstrauens der politischen Führung, dass die Strafverfolgungsbehörden es mit der Beachtung des Legalitätsprinzips eventuell nicht so genau nehmen könnten. Beinahe skurrile Formen nimmt das Aufklärungsritual an, wenn es in Form einer Zusicherung von einem politischen Repräsentanten wie dem Bundespräsidenten zelebriert wird (wie beim Treffen mit Angehörigen der Opfer der sogenannten NSU-Morde am 18. Februar 2013), der damit nun beim besten Willen nichts zu tun hat. Wenn es nicht gerade ein so geachteter Politiker wie Joachim Gauck gewesen wäre, hätte das Stichwort „Populismus“ mit Sicherheit die Runde gemacht. Aber vermutlich wollte das Staatsoberhaupt nur ein „Zeichen“ setzen oder ein „Signal“ aussenden, als er erklärte, er werde "genau verfolgen, ob staatliche Stellen ausreichend aufklären".

„Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären“, wie Schiller uns im „Wallenstein“ hinterlassen hat. Denn in dem Moment, in dem die ritualisierte Aufforderung an die Strafverfolgung unterbliebe, könnte der aufmerksame Bürger Verdacht schöpfen: Beim letzten Anschlag haben sich alle in dem Ruf nach rückhaltloser Aufklärung überboten, und jetzt hört man gar nichts. Da stimmt doch was nicht! Wer also einmal mit diesem Blödsinn angefangen hat, kann damit schwerlich irgendwann wieder aufhören.

Bürger werden nicht durch vollmundige Erklärungen geschützt

Ähnlich verhält es sich mit der Empörung über einen terroristischen Anschlag oder über einen Anschlag auf ein Asylbewerberheim. Glaubt denn jemand ernsthaft, irgendein Politiker würde den Anschlag gutheißen, nur weil er es unterlassen hat, diesen lauthals zu verurteilen? Die rituellen Reaktionen, verbunden mit der ausführlichen Darstellung in den Medien, verschaffen den Tätern vielmehr genau die Publizität, die sie anstreben. 

Als kürzlich eine Frau beim Zelten auf einer Wiese in einer Flusslandschaft in Bonn vor den Augen ihres Freundes vergewaltigt wurde, vermutlich von einem abgelehnten Asylbewerber, herrschte wohltuende Stille im politischen Raum. Die Polizei machte ihre Arbeit und veröffentlichte alsbald ein Phantombild.

Wir haben uns so daran gewöhnt, dass nach einem Terroranschlag die verbale politische Reaktion auf dem Fuße folgt, dass wir es vermissen würden, geschähe dies einmal nicht. Auf mich wirkt das besonders peinlich, wenn man gleichzeitig hört, wie Politiker seit Jahren Personal im Sicherheitsbereich abbauen. Es gehört zu den vornehmsten und vorrangigsten Aufgaben des Staates, seine Bürger zu schützen. Dies geschieht nicht durch vollmundige Erklärungen, sondern durch Taten auf den verschiedenen Ebenen staatlichen Handels: Legislative, Exekutive, Judikative. Und zwar nicht nur ein halbes Jahr vor den Wahlen oder wenn es gegen „rechts“ geht, sondern Tag für Tag – ohne Ansehen der Person (deswegen trägt Justitia ja die Augenbinde).

Ach ja, beinahe hätte ich es vergessen: Hat schon jemals ein Politiker die Morddrohungen verurteilt, die Leute wie Hamed Abdel-Samad, Hans-Peter Raddatz, (der zwischenzeitlich verstorbene) Udo Ulfkotte, Mouhanad Khorchide und viele andere im Namen der „Religion des Friedens“ mitten in Deutschland bekommen haben? Oder gab es von irgendeinem Innenminister oder Justizminister die Forderung, diese Drohungen auf brutalstmögliche Weise aufzuklären und die Täter „die ganze Härte des Rechtsstaats“ spüren zu lassen? Wenn nein: Warum eigentlich nicht?

Leserpost

netiquette:

Wilfried Cremer / 25.04.2017

Gewalt im Namen des Islam wird wenig kritisiert, weil sonst der Vorwurf kommt: Wir Muslime sind die neuen Juden. Solche Worte aber sind für deutsche Spießerohren wie das Quietschen von Besteck auf Porzellan.

Heiko Stadler / 25.04.2017

Rückhaltlose Aufklärung ist ein guter Anfang. Man könnte aber noch viel mehr tun. Zum Beispiel könnte das Familienministerium für 104 Millionen Euro eine Aktion gegen den sich immer stärker ausbreitenden Linksextremismus machen. Man könnte aber auch eine Stiftung gründen, die mit 600 Millionen Euro pro Jahr versorgt wird, die gegen die Hassprediger im Internet, wie zum Beispiel Indymedia, vorgeht. Wichtig ist, dass man sich dabei auch arabisch- und türkischsprachige Texte ganz genau anschaut, denn die Opfer sind oft ethnische Minderheiten, wie zum Beispiel Juden, Kurden oder Schiiten, die meist von ihren ehemaligen Landsleuten, vor denen sie geflohen sind, bedroht werden.

Gertraude Wenz / 25.04.2017

Herr Grell, Sie haben so Recht! Es ist beschämend, wie mit zweierlei Maß gemessen wird. Und das Allerbeschämendste: Sie-die Politiker- merken es nicht mal.

Thomas Schade / 25.04.2017

Der Ruf nach “vollständiger Aufklärung” von Straftaten lässt vermuten, dass die Rufer dem Rechtstaat selbst nicht trauen.

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