Beliebt ist Boris Johnson in Brüssel ja nicht. Schon als Korrespondent für den Daily Telegraph hat er das Europäische Establishment mit seinen frechen und nicht immer akkuraten Berichten aus der EU-Hauptstadt geärgert. Als Galionsfigur des Brexit war er dann endgültig unten durch. Umso erstaunlicher ist es, dass Brüssel nun als Wahlhelfer für den ungeliebten Briten auftritt.
Wirklich? Naja, als unfreiwilliger Wahlhelfer natürlich. Aber das hat Tradition. Die EU-Kommissare haben mit ihren ständigen, oft kleinlichen Einmischungen in das Inselleben ja kräftig dabei mitgeholfen, im selbstbewussten Königreich eine Brexit-Stimmung zu schüren. Ohne diese unfreiwillige Mithilfe aus Brüssel wäre es wahrscheinlich gar nicht zum Brexit gekommen. Und nun tun sie es wieder. Mit plumper Hand helfen Eurokraten, Boris Johnson aufs Podest zu heben.
Wie schaffen sie das? Ganz einfach: Indem sie den Engländern ausgerechnet jetzt, mitten im Wahlkampf, ein Strafverfahren an den Hals hängen. Man kann sich vorstellen, wie eine solche Bombe in England ankommt. Die strafwürdige Tat: Johnson spielt die Komödie nicht mit, noch schnell vor dem Brexit einen Kommissar nach Brüssel zu schicken.
Dabei hat Boris Johnson seine Gründe für die Zurückhaltung. Erstens wählen die Briten noch vor Weihnachten ein neues Parlament und damit eine neue (alte) Regierung. In so einer twilight zone zwischen zwei Regierungen ist die noch amtierende nach englischer Sitte tatsächlich in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt, wie Johnson betont. Aber die Eigenheiten der englischen Politik werden auf dem Kontinent allzu oft nur als Kuriosität wahrgenommen und nicht als Produkt einer lange gewachsenen Demokratie. Und dann ist da noch der gesunde Menschenverstand: Welchen Sinn hat es eigentlich, einen Kommissar für ein paar Monate nach Brüssel zu schicken, als Vertreter eines Landes, das dabei ist, sich aus Brüssel zu verabschieden?
Politischer Menschenverstand entfernte Verwandte
Aber Recht und Gesetz und der gesunde oder auch nur politische Menschenverstand sind bestenfalls entfernte Verwandte. Das EU-Recht verlangt in der Tat, dass jedes Mitgliedsland einen Kommissar nach Brüssel schickt. Egal ob die Mitgliedschaft kurz vor dem Verfallsdatum steht. Also hat Brüssel nach streng juristischer Logik gegen Britannien ein sogenanntes Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.
Etwas Besseres hätte Boris Johnson im Wahlkampf gar nicht passieren können. Seht her, kann er nun allen Zweiflern sagen, Brüssel zeigt mal wieder sein wahres Gesicht. Die EU bestraft uns dafür, dass wir unseren traditionellen demokratischen Sitten und dem gesunden Menschenverstand folgen. Sie will uns zwingen, ein Heidengeld für eine Lachnummer auszugeben. Da hilft nur eins: Brexit. Nix wie weg. Besser heute als morgen. Wählt mich. Ich mach das schon.
Und die Liberaldemokraten, die für einen Verbleib in der EU plädieren, stehen da, wie begossene Pudel. In so einem Laden, der uns ständig auf die Nerven geht, sollen wir bleiben? Wollt ihr das wirklich? Die spinnen doch die Eurokraten.
Auf solche Fragen haben die europafreundlichen Liberaldemokraten sicher viele kluge Antworten. Aber Boris Johnson hat in dieser aktuellen Debatte klar den Platzvorteil. Brüssel hat ihm eine Steilvorlage geliefert. Er muss nur noch den Fuß hinhalten und zack.
Ob er schon ein nettes Dankschreiben nach Brüssel geschickt hat? Oder hat er etwa ganz bewusst die Entsendung eines Kommissionskandidaten verweigert, um die Brüsseler zu dieser wunderbaren Strafmaßnahme zu provozieren? Zuzutrauen wäre es ihm. Er war lange genug selber dort und kennt seine Pappenheimer. Wenn das so ist, dann ist das ein gelungener Coup: Eine bevormundende und rachsüchtige EU – mehr kann sich ein Brexit-Wahlkämpfer kaum wünschen.