Robert von Loewenstern / 21.05.2020 / 14:00 / Foto: Achgut.com / 61 / Seite ausdrucken

Broder verliert gegen Roth. Das Recht auch

Ein alter Juristenspruch – besonders gerne von Anwälten strapaziert – lautet: „Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand.“ Jetzt denken Sie vielleicht, prima, läuft bei mir, wenn ich mal segeln gehe oder vor Gericht stehe. Denn Gott ist die Liebe. Beziehungsweise polyamourös, wie man heute sagt. Er liebt alles, was nicht bei drei auf dem Baum ist. Hinzu kommt, Gott ist nicht nur maximal zugewandt, sondern auch allwissend und allmächtig. Kurz: Gott weiß Bescheid, kann machen, was er will, und er mag Sie.

Wer in Gottes Hand ist, genießt Premiumbetreuung. Ein besserer Rechtsbeistand ist kaum vorstellbar. Denken Sie. Leider meint die Juristenweisheit das genaue Gegenteil: Gott ist Glückssache. Vor Gericht und auf hoher See sind Sie weder sicher noch geborgen. Es kann alles passieren. Sie sind den Gewalten ausgeliefert und wissen nie, wie es ausgeht. Gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht, vernünftig oder bescheuert.

Richter sind Menschen. Das sehen sie selbst nicht unbedingt so – ähnlich wie Politiker, Journalisten, Virologen und andere gefühlte Götter. Aber Richter schlampen, Richter irren, Richter machen Fehler. Der Beweis liegt auf der Hand: Würden Richter alles richtig machen, gäbe es nur eine Instanz. Obere Gerichte bräuchte man nicht. Braucht man aber doch, um Quatsch-Entscheidungen zu korrigieren. Für höhere Gerichte gilt Generalverdacht auf gesteigerte Kompetenz. Der bestätigt sich oft. Aber nicht immer.

Geschäftsmodell: Hetze und Falschbehauptungen

Nehmen wir zum Beispiel das Oberlandesgericht Dresden. Das ist – den Amts- und Landgerichten übergeordnet – die höchste Instanz der sogenannten ordentlichen Gerichtsbarkeit in Sachsen. Besagtes OLG fasste vor Kurzem einen Beschluss „in Sachen Henryk M. Broder, c/o Achgut Media GmbH, gegen Claudia Roth, Deutscher Bundestag“. Der Vizepräsidentin des bundesdeutschen Parlaments sollte eine falsche Tatsachenbehauptung untersagt werden. Das in der juristischen Nahrungskette weit oben stehende und somit höchst kompetenzverdächtige Gericht entschied jedoch zugunsten der Grünen-Politikerin.

Ausgangspunkt war ein Interview der „Augsburger Allgemeinen“ mit Renate Künast und Claudia Roth, die „im Internet angefeindet werden wie nur wenige andere Frauen“. Auf die Frage „Was bleibt noch, wenn der juristische Weg keinen Erfolg hat, wenn das Berliner Landgericht meint, Verunglimpfungen wie ,altes grünes Dreckschwein’ seien hinzunehmen?“antwortete Roth:

„[…] Wir müssen die Stichwortgeber benennen, all diese neurechten Plattformen, deren Geschäftsmodell auf Hetze und Falschbehauptungen beruht – von Roland Tichy über Henryk M. Broder bis hin zu eindeutig rechtsradikalen Blogs. Und ja, die Brandbeschleuniger sitzen zum Teil auch in unseren Parlamenten. Also: dagegenhalten, laut und deutlich. Denn zuerst kommt das Sagbare, dann das Machbare. Dem Angriff auf die Menschlichkeit folgt der Angriff auf den Menschen.“

Das wollte Broder (und Tichy in separatem, beim OLG Stuttgart anhängigen Verfahren) nicht hinnehmen und beantragte daher, der Frau Bundestagsvizepräsidentin im Wege der Einstweiligen Verfügung die Äußerung zu verbieten, sein „Geschäftsmodell beruhe auf … Falschbehauptungen“.

Die Grüne rührt eine braune Soße an

Wie dem Interviewausschnitt zu entnehmen ist, verfuhr die Roth-Grüne nach einem bewährten Rezept, das gerne auch von „Haltungsjournalisten“ öffentlich-rechtlicher Provenienz genutzt wird: Alles von liberal-konservativ bis rechtsextrem kommt in einen großen Topf, dann wird kurz umgerührt, und fertig ist die braune Soße. Von da ist es nur ein kleiner Sprung zur Unterstellung, Broders Achgut und „Tichys Einblick“ würden mitschießen, wenn Neonazis morden. Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags betreibt also das, was sie dem politischen Gegner vorwirft: Hetze.

Roth stellt die Achse des Guten und „Tichys Einblick“ in eine Reihe mit „eindeutig rechtsradikalen Blogs“ – was den Schluss nahelegt, dass es sich bei Achgut und „TE“ ebenfalls um irgendwas mit rechtsradikal handelt, nur nicht ganz so „eindeutig“. Hätte Roth zwischen Broder/Tichy einerseits und „rechtsradikalen Blogs“ andererseits unterscheiden wollen, hätte sie das „eindeutig“ weggelassen. Hat sie aber nicht. Sie wollte ganz bewusst die Verbindung schaffen.

Bei solchen Zeitungsinterviews handelt es sich schließlich nicht um Eins-zu-eins-Verschriftlichungen des spontan gesprochenen Wortes. Da wird zunächst vom Medium redigiert, dann eine erste Fassung den Interviewten vorgelegt, die (gegebenenfalls mit Hilfe ihrer Pressestellen) prüfen, streichen, ergänzen, umformulieren und freigeben. Was am Ende dieses Prozesses das Licht der Öffentlichkeit erblickt, ist mehrfach abgestimmt und genau so gemeint, wie es da steht.

Ein Doppelzentner Dummheit und mehr

Wie Claudia Roth einen Zusammenhang zwischen den angeblichen „Stichwortgebern“ und „Brandbeschleunigern“ Broder/Tichy und extremistischen Verbrechern konstruiert, kann man mit vollem Recht perfide und abstoßend finden. Aber widerwärtig ist noch lange nicht rechtswidrig.

Dasselbe gilt für den Vorwurf der „Hetze“. Kann man machen, sagen Gerichte landauf, landab. Und weil sie’s können, gönnen sich auch die Mitglieder des 4. Senats am OLG Dresden was und werfen ihrerseits Henryk Broder „Hetze“ vor. Er hatte Claudia Roth nämlich aus gegebenem Anlass vor einiger Zeit attestiert, sie sei „ein Doppelzentner fleischgewordene Dummheit, nah am Wasser gebaut und voller Mitgefühl mit sich selbst“. Diese „farbenfrohe Darstellung“ (© Broder-Anwalt Joachim Steinhöfel) könne „unschwer“ als „Hetze“ eingestuft werden, so die Richter.

Ob unschwer oder einen Doppelzentner schwer, eines muss man Frau Roth zugestehen: Sie war nicht dumm genug, gegen das Brodersche Diktum juristisch vorzugehen. Dabei hätte sie möglicherweise gute Aussicht auf Erfolg gehabt. 

Richter als Roths Ratgeber

Das meint jedenfalls das Oberlandesgericht Dresden. Quasi amtlich bescheinigt es Claudia Roth, „dass die zahlreichen Äußerungen des Antragstellers über die Antragsgegnerin […] mitunter auch die Grenze zur Schmähkritik erreichen, wenn nicht gar überschreiten, wie dies beispielsweise bei der […] Beschreibung der Antragsgegnerin als ,Doppelzentner fleischgewordene Dummheit‘ der Fall ist“.

„Schmähkritik“ hört sich vergleichsweise harmlos an, ist aber in diesem Zusammenhang ein entscheidender Begriff. Eine Äußerung, die als „Schmähkritik“ eingestuft wird, ist strafbare Beleidigung oder üble Nachrede, so die Rechtsprechung. Ungefragt erteilt das Gericht Claudia Roth also kostenlose Rechtsberatung. Die indirekte Aussage: Wenn die Frau Roth den Herrn Broder wegen des „Doppelzentners Dummheit“ anzeigen würde, hätte sie keine schlechte Chance, damit durchzukommen.

Dass das OLG Dresden die buntlaunige Broder-Formulierung ohne Not und im Vorbeigehen in die Nähe der Strafbarkeit rückt, ist ein einigermaßen erstaunlicher Vorgang. Erst letztes Jahr stellte das Bundesverfassungsgericht klar, dass „hinsichtlich des Vorliegens von Schmähkritik strenge Maßstäbe anzuwenden“ seien. Maßgeblich sei hierfür „nicht einfach eine wertende Gesamtbetrachtung, sondern die Frage, ob die Äußerung einen Sachbezug hat. […] Insoweit sind Anlass und Kontext der Äußerung zu ermitteln. Wenn die Äußerung – wie in der Regel – im Kontext einer Sachauseinandersetzung steht, bedarf es einer Abwägung, die die Bedeutung der Äußerung unter den konkreten Umständen des Einzelfalls gewichtet.“

Waraum machen sie es? Weil sie können

Broders Formulierung vom „Doppelzentner fleischgewordene Dummheit“ stand unzweifelhaft „im Kontext einer Sachauseinandersetzung“ (hier noch einmal der Link zum Nachlesen). Eine „Abwägung, die die Bedeutung der Äußerung unter den konkreten Umständen des Einzelfalls gewichtet“, haben sich die OLG-Richter jedoch erspart.

Klar, das durften sie. Um intellektuell herausgeforderte Fleischhaufen ging es im vorliegenden Verfahren schließlich nicht – was man beim Lesen des Beschlusses leicht vergessen kann angesichts der Ausführlichkeit, die die Richter dem Thema widmen. Da mag sich manchem Beobachter der Eindruck aufdrängen, das Gericht habe dem pöhsen Provozierer Henryk B. einfach mal kräftig einen einschenken wollen. Nur so, weil man’s kann.

Ihre innige Verbundenheit mit der grünen Frohnatur demonstrieren der Vorsitzende Richter und die beiden beteiligten Richterinnen im Anschluss ein weiteres Mal. Der Vollständigkeit halber geben sie Claudia Roth noch einen nützlichen Tipp für die Zukunft mit auf den Weg: „Gegenüber derartigen Angriffen wäre die Antragsgegnerin sogar berechtigt, mit entsprechend grobschlächtigen Gegenäußerungen in der Presse zu reagieren und sich in vergleichbarer Weise über den Antragsteller zu äußern.“

Sind alle gleich oder manche gleicher?

Zusammengefasst: Wenn der Herr Broder die Frau Roth einen „Doppelzentner Dummheit“ nennt, dann ist das mit einiger Wahrscheinlichkeit strafbar, insinuiert das hohe Gericht. Im nächsten Moment wechselt der Spruchkörper des OLG Dresden geschmeidig in ein längst überwunden geglaubtes, archaisches Rechtsverständnis. Plötzlich gilt Blutrache, Auge um Auge, Zahn um Zahn, basierend auf der Tora, dem Alten Testament oder Dschingis Khans Kochbuch, je nach Geschmack oder sonstiger persönlicher Präferenz.

Kaum verhohlen legt das Gericht seiner neuen besten Freundin Claudia Roth nahe, sie könne doch einfach mit gleicher Münze zurück- respektive heimzahlen – und damit nach den Gesetzen der Logik ebenfalls die Grenze des Legalen „erreichen, wenn nicht gar überschreiten“. Nüchtern-juristische Fragen drängen sich auf: Hallo? Ernsthaft? Geht’s noch, lieber Senat? Was gilt denn nun? Darf man, oder darf man nicht? Sind alle gleich oder manche gleicher?

Falls Sie jetzt verwundert sind, wundern Sie sich nicht, ich bin es auch. Sei’s drum. Richter haben halt so ihre Freiheiten.

Das OLG sorgt sich um Roths Befindlichkeiten und Interessen

Davon abgesehen: Auch wenn das OLG Dresden sich noch so rührend um Befindlichkeiten und Interessen von Claudia Roth sorgt – es ist grundsätzlich keine gute Idee, sich gegen verbale Attacken per Marsch zum Gericht zu wehren. Jedenfalls dann nicht, wenn es sich um das sumpfige Terrain der Beleidigungen oder üblen Nachreden handelt und wenn man selbst in der Öffentlichkeit steht.

Die Problematik: Erstens, man verliert sehr leicht. Zweitens, falls man gewinnt, verliert man häufig trotzdem (der berühmte Streisand-Effekt). Und drittens, wenn man verliert, verliert man noch mehr (der doppelte Streisand-Effekt, sozusagen). Dann kriechen unweigerlich auch die letzten Untoten aus ihren Löchern. Jeder Hinz und Kunz fühlt sich fortan bemüßigt, bis in alle Ewigkeit die vergeblich inkriminierte Formulierung zu wiederholen, selbstverständlich mit dem Zusatz „gerichtlich bestätigt“.

Die nötige Differenzierung wird dabei gerne unterschlagen. Beispiel Björn „Bernd“ Höcke: Egal, was man von dem thüringischen AfD-Vorsitzenden halten mag, kein Gericht hat jemals geurteilt, dass er ein Faschist ist. Entschieden wurde lediglich, dass man ihn als Faschisten bezeichnen darf. Dieses Missverständnis, auch in vergleichbaren Fällen von den Medien gerne erzeugt oder unterstützt, wurde im Fall Höcke sogar gerichtlich aufgeklärt.

Heutzutage geht fast alles

Im Kern geht es bei den Beleidigungsurteilen immer um eine Abwägung zwischen konkurrierenden Rechtsgütern. Auf der einen Seite steht das Grundrecht der Meinungsfreiheit, auf der anderen Seite stehen die Persönlichkeitsrechte des Angegriffenen, abgeleitet aus der in Artikel 1 des Grundgesetzes betonierten Menschenwürde. Eine Persönlichkeit ist bei zahlreichen Zeitgenossen zwar nicht auf Anhieb zu erkennen, aber unsere Verfassung ist da großzügig. Sie geht davon aus, dass jeder eine hat. 

Weniger großzügig sind die Gerichte mit den Persönlichkeitsrechten. Über die Jahre verschoben sie die Gewichte immer weiter in Richtung Meinungsfreiheit. So darf heute in der öffentlichen Auseinandersetzung jeder jeden praktisch alles nennen, ob „Nazi“ oder „Faschist“, „Hetzer“ oder „Pack“, „Stück Scheiße“ oder „Sondermüll“. Nur ein traditionelles „Arschloch“ kann immer noch 375 Euro kosten, aber das wird sich bestimmt auch bald ändern.

Seinen unseligen Höhepunkt erreichte das richterliche Laissez-faire mit dem – zu recht – breit kritisierten „Drecksfotzen“-Beschluss des Landgerichts Berlin. In zahlreichen wüsten Beschimpfungen, die enthemmte Sonderlinge in sozialen Medien über Renate Künast ausgekübelt hatten, sah die 27. Zivilkammer keine strafbaren Beleidigungen, sondern zulässige Meinungsäußerungen. Nach heftigem Shitstorm und Beschwerde durch Künast zogen die Berliner Richter zwar den Schwanz ein. Aber nur ein bisschen.

„Stück Scheiße“ ist ok, „Drecksfotze“ eher nicht

Sechs der 22 Unflätigkeiten waren plötzlich doch Beleidigungen. Allerdings nicht etwa, weil man sich beim ersten Versuch geirrt hatte. Nein, es lagen vielmehr – Überraschung! – neue Erkenntnisse vor, wonach bei einem Teil der Beschimpfungen dann doch irgendwie kein „Sachbezug“ gegeben sei, so das kreative Landgericht. Deshalb ist zwar „Stück Scheiße“ weiterhin ok, aber „Schlampe“ und „Drecksfotze“ im konkreten Fall eher nicht.

Im Umkehrschluss: Jeder, der halbwegs nachvollziehbar auf irgendeine Aussage von Renate Künast (oder sonst wem) verweist, stellt „Sachbezug“ her und darf weiterhin in beliebiger Weise Frau Künast (oder sonst wem) mangelhafte Intimhygiene unterstellen. Vorläufig – eine Überprüfung durch das Berliner Kammergericht steht noch aus.

Die seltsame Rechtsprechung im Bereich Beleidigung und üble Nachrede kennen Henryk Broder und Roland Tichy natürlich. Als erfahrene Kämpfer im öffentlichen Ring haben sie über viele Jahre kräftig ausgeteilt und heftig eingesteckt. Wie es sich für gute Boxer gehört. Deshalb kamen sie gar nicht erst auf die Idee, im Zuge der Roth-Diffamierungen das Minenfeld angeblicher oder tatsächlicher „Schmähkritik“ zu betreten.

Was Tatsachen von Werturteilen unterscheidet

Die Nähe zum Rechtsradikalismus und die „Hetze“, die Claudia Roth den beiden Publizisten im Interview mit der „Augsburger Allgemeinen“ andichtet, hat Henryk Broder folgerichtig nicht bemängelt. Der Unterlassungsantrag von Rechtsanwalt Steinhöfel richtete sich explizit nur gegen die Roth-Unterstellung vom „Geschäftsmodell Falschbehauptungen“.

Bei der Behauptung von Falschbehauptungen handelt es sich unbestritten nicht um eine Meinungsäußerung, sondern um ein objektiv nachprüfbares Faktum – eine gänzlich andere Art von Biest. Das weiß auch das OLG Dresden und klärt auf: „Tatsachenbehauptungen unterscheiden sich von Werturteilen dadurch, dass bei diesen die subjektive Beziehung zwischen der Äußerung und der Wirklichkeit im Vordergrund steht, während für jene die objektive Beziehung des sich Äußernden zum Inhalt seiner Äußerung charakteristisch ist.“

Die Übersetzung ins Normalsprech ergibt eine Binse: Meinungen kann man haben, Fakten muss man beweisen. Falls Sie an diesem Punkt noch bei mir sind, schlussfolgern Sie möglicherweise messerscharf, dass sich das OLG Dresden anschließend ganz bestimmt sorgfältig und ausführlich mit der objektiv zu beantwortenden Frage auseinandersetzte, ob das „Geschäftsmodell“ der „neurechten Plattform“ des dubiosen Henryk M. Broder – also Achgut.com – tatsächlich auf der Verbreitung von „Fake News“ (so nennt sie auch das Gericht) beruht.

Was macht ein Gschäftsmodell aus?

Guter Gedanke ihrerseits. Gönnen wir uns deshalb kurz einen gemeinsamen Spaß und spekulieren, wie derlei Überlegungen aussehen könnten. Zum Beispiel:

1. Die Verfolgung eines „Geschäftsmodells“ setzt eine bestimmte Absicht voraus. Wenn jemand „Falschbehauptungen“ als „Geschäftsmodell“ verbreitet, handelt es sich zwingend um einen bewussten, vorsätzlichen Vorgang. Reine Irrtümer oder Versehen genügen nicht. Und vorsätzliche Falschbehauptungen heißen mit Familiennamen wie? Genau, Lügen.

2. Um „Geschäftsmodell“ zu werden, muss die Lüge zum Kerngeschäft gehören, also einen erheblichen Teil der unternehmerischen Tätigkeit ausmachen. Anders gesagt: Eine nennenswerte Anzahl der Beiträge auf Achgut.com (ob von Broder oder anderen) muss aus Lügen respektive bewussten „Fake News“ bestehen. Oder zumindest solche enthalten.

3. Bleibt die Frage, wie hoch genau der Münchhausen-Anteil sein muss, um den Begriff „Geschäftsmodell“ zu rechtfertigen. Genügen bereits 40 Prozent? Oder müssen es eher 60 Prozent sein? Oder gar mehr als 80?

Simsalabim: Aus Tatsache wird Meinung

Weiteres Kopfzerbrechen, wie viele Achgut-„Falschbehauptungen“ Frau Roth wohl vorlegen müsste, um ihren Vorwurf vom „Geschäftsmodell“ zu beweisen, spare ich mir. Das Gericht hat sich die Mühe nämlich auch nicht gemacht. Tatsächlich führt das OLG in seiner Entscheidung keine einzige „Falschbehauptung“ auf Achgut.com an, die die Roth-Anwürfe stützen könnte.

Der Senat wandte lieber einen juristischen Zaubertrick an. Er verwandelte Roths Tatsachenbehauptung in eine Meinungsäußerung. Aus einer „komplexen Äußerung“ dürften nämlich „nicht Sätze oder Satzteile mit tatsächlichem Gehalt herausgegriffen werden, wenn die Äußerung nach ihrem – zu würdigenden – Gesamtzusammenhang in den Schutzbereich des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 5 Abs. 1 GG fallen kann. […] Sofern eine Äußerung, in der sich Tatsachen und Meinungen vermengen, in entscheidender Weise durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens geprägt ist, wird sie als Werturteil und Meinungsäußerung in vollem Umfang vom Grundrecht des Art. 5 Abs. 1 GG geschützt.“

Genau das sei hier der Fall, befand das OLG. „Hiernach ist die beanstandete Aussage als Meinungsäußerung einzustufen“, verfügte das Gericht und bezog sich dabei auf den „Kontext der gesamten Interviewäußerung“.

Freibrief für „alternative Fakten“

So wurde, Simsalabim!, aus Frau Roths zu beweisender Tatsachenbehauptung eine Meinungsäußerung, ein nicht beweisbedürftiges Werturteil.

Der eigentliche Trick des Gerichts war, das komplette Interview – in seiner Gänze juristisch nicht angegriffen – als „Kontext“ einzustufen, als „zu würdigenden Gesamtzusammenhang“, um aus den Roth-Anwürfen eine „komplexe Äußerung“ zu machen. Claudia Roths Diffamierung von Broder, Tichy und ihren „neurechten Plattformen“ war nämlich für sich genommen ganz und gar nicht „komplex“ – nicht überraschend angesichts des tendenziell eher unterkomplexen Naturells der Grünen-Politikerin.

Ob das Vorgehen des OLG Dresden juristisch einwandfrei war, will ich an dieser Stelle offenlassen. Interessierte mögen sich eines der vom OLG zitierten Urteile des Bundesgerichtshofes zu Gemüte führen und sich fragen, ob die dortige Fallkonstellation auf die hiesige übertragbar ist.

Entscheidend ist etwas anderes, nämlich die Konsequenz aus dem OLG-Beschluss. Rein praktisch erteilte das Gericht mit seiner Entscheidung einen Freibrief für die Verbreitung von „alternativen Fakten“.

Bekiffte Komiker am OLG?

Nach der Logik des Oberlandesgerichts Dresden dürfte ich hier ungestraft schreiben (keine Angst, mache ich nicht, Achgut.com ist schließlich ein seriöses Medium): „Der 4. Senat besteht aus Komikern, die beim Urteilen kiffen, bis die Hirse qualmt.“ „Komiker“ ist ein Werturteil, der Vorwurf des fortgesetzten Drogenmissbrauchs eine Tatsachenbehauptung. Die ist aber ebenfalls als zulässige Meinungsäußerung einzustufen, weil sie in einen „komplexen Kontext“ eingebunden ist, nämlich den umfangreichen „Sachbezug“, den Sie hier gerade lesen. Korrekt, liebes OLG?

Das Schlusswort überlasse ich gerne Henryk, der in seinem feinen „Welt“-Beitrag (hinter der Bezahlschranke) zum Thema schrieb:

„In meiner langen Karriere als Angeklagter, die um 1980 begann, nachdem ich einen für seine Brutalität bekannten Richter am Kölner Landgericht als ,selbstgerecht, grob und unbarmherzig‘ bezeichnet hatte – das Verfahren zog sich über mehrere Jahre und Instanzen hin und endete mit einem Freispruch für mich und einer Versetzung des Richters an eine Zivilkammer –, ist mir so etwas nicht passiert: Dass ein Gericht sich so klar auf die Seite einer Partei schlägt und aller Sachlichkeit eine Absage erteilt. Es drehte den Spieß um und machte mich zum Angeklagten. Fehlte nur, dass es alle meine Knöllchen zum Gegenstand der Verhandlung machte.“

Mir bleibt nur noch eine Frage: Was ist eigentlich das Geschäftsmodell des Oberlandesgerichts Dresden? „Recht sprechen“ eher nicht, oder?

PS, liebe Richter*innen vom 4. Senat: Falls ihr euch missverstanden oder überhaupt irgendwie ungerecht behandelt fühlt, einfach melden. Eure Stellungnahme wird selbstverständlich ungekürzt veröffentlicht. Wir wollen hier bei Achgut schließlich keine Fake News verbreiten. Aber was rede ich, das wisst ihr ja sowieso.

Foto: Achgut.com

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Walter Weimar / 21.05.2020

Den Blödsinn, an Gerichten wird Recht gesprochen, sollte man doch langsam wie das Märchen vom Weihnachtsmann abgetan haben. Ach nein, Gerichte haben immer Recht gesprochen, zu Nazizeiten, in der DDR sowieso, und jetzt erst recht. Darauf einen Dujardin.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Robert von Loewenstern / 10.03.2024 / 10:00 / 59

Melden ist geil!

Gut, dass es eine Zivilgesellschaft gibt, die mit Meldeportalen Ungeheuerliches aufzeigt – etwa eine antifeministische, rassistische und NS-verharmlosende Lesung zweier bekannter Publizisten und Achgut-Autoren. Als…/ mehr

Robert von Loewenstern / 19.02.2024 / 06:00 / 193

Der beste Mann der AfD

Erfahren Sie, warum ARD und ZDF zunehmend hysterischer die „rechte Gefahr“ beschwören und ein Untergangsszenario nach dem anderen produzieren. Und wer der treueste Freund und…/ mehr

Robert von Loewenstern / 23.11.2023 / 06:00 / 110

Ein Herz für Mörder

Seit den Hamas-Bestialitäten vom 7. Oktober entdeckten die Leitmedien den „linken Antisemitismus“ für sich. Aber woher kommt der eigentlich? Und welche zwei entscheidenden Fehler unterliefen…/ mehr

Robert von Loewenstern / 13.09.2023 / 06:00 / 190

Liebe FDP, das war’s dann wohl

Die FDP trat in die Ampelkoalition mit dem unausgesprochenen Versprechen gegenüber ihren Wählern ein, das Schlimmste zu verhindern. Hat sie auch – und dann doch…/ mehr

Robert von Loewenstern / 29.08.2023 / 06:00 / 60

Die AfD wirkt

Am vergangenen Sonntag stand die nächste Kür eines AfD-Mannes für ein kommunales Amt an. Achgut-Wahlbeobachter wagten sich in den braunen Sumpf – und gewannen überraschende…/ mehr

Robert von Loewenstern / 26.06.2023 / 06:00 / 101

Liebe Grüne, toll, dass ihr regiert!

Bei den Grünen läuft es nicht rund. Ihr strahlender Held strauchelt, in Umfragen geht es abwärts. Dabei ist es so wichtig für das Land, dass…/ mehr

Robert von Loewenstern / 14.06.2023 / 06:00 / 119

Liebe Grüne, was verheimlicht ihr?

Die Grünen wollen die nationale Energiewende anführen und versagen bei der Wärmepumpe im eigenen Haus – so die schlichte Medienerzählung. Achgut investigativ schaute genauer hin.…/ mehr

Robert von Loewenstern / 05.06.2023 / 06:00 / 123

Henryk! Verzeih mir!

Henryk Broder bat die Deutschen um Vergebung, weil er nicht so ein Musterjude ist wie WDR-Spitzenjournalist Lorenz Beckhardt. Unser Autor hofft, Henryk möge ihm nachsehen,…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com