Hamed Abdel-Samad und Henryk M. Broder kennen und schätzen sich seit über 15 Jahren. Sie haben zusammen drei Staffeln mit 14 Folgen der „Deutschland“- bzw. „Europa-Safari“ für die ARD gedreht, ein Road Movie auf Raten, wobei Hamed öfter mäßigend auf Henryk einwirken musste. Der Krieg in und um Gaza stellte die Freundschaft auf eine Bewährungsprobe. Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen, lud beide zu einem Interview ein.
[Herr Abdel-Samad, als Sie ein junger Mann waren:] Hätten Sie es damals für möglich gehalten, dass einer Ihrer besten Freunde Jude sein würde?
Abdel-Samad: Ausgeschlossen! Ich war ein Kind meiner Zeit. Ägypten stand jahrzehntelang im Krieg mit Israel. Mein Vater war extrem traumatisiert aus dem Sechstagekrieg zurückgekommen und hat kein gutes Wort über Israel verloren. Im Gegenteil. Ich glaube, seine Traumatisierung wirkte auch auf mich. Er war danach ein gebrochener Mensch.
Inwiefern?
Abdel-Samad: Er machte Israel und den Krieg dafür verantwortlich, dass er sich so stark verändert hatte. Er war vom Schlachtfeld geflohen und hatte sich bei den Beduinen versteckt.
Broder: … das spricht für deinen Vater!
Abdel-Samad: Er sah das aber anders. Er hatte starke Schuldgefühle, weil er geflohen war, während sein bester Freund vor seinen Augen durch einen Luftanschlag der israelischen Armee zerfetzt wurde. Das ist die Geschichte, die bei uns zu Hause immer erzählt wurde oder selbst durch das Schweigen immer mitschwang. Dass wir einen Feind haben: Israel. Und dass der Feind übermächtig ist und wir uns rächen müssen. Das Land befreien. Damit bin ich aufgewachsen. […] Nachdem ich mich von dieser Ideologie befreit hatte, war Israel für mich ein gewöhnliches Land im Nahen Osten, mit Besonderheiten wie jedes andere Land in der Region auch.
Was macht Israel in Ihren Augen besonders, Herr Abdel-Samad?
Abdel-Samad: Israel ist für die Länder um sich herum Chance und Provokation zugleich. Es ist ein kleines, aber hochinnovatives und starkes sowie erfolgreiches Land. Für viele Menschen in der Region ist Israel deshalb eine narzisstische Kränkung. Wenn Israel das schafft, warum schaffen es dann seine Nachbarn nicht? Und ich wusste immer, dass Henryk eine besondere Beziehung zu Israel hat. Er versteht auch sofort, wenn Hass und Antisemitismus bei »Israelkritik« mitschwingen. Wann immer ich irgendeinen Kritikpunkt formuliert habe, wusste er sofort, ich mache das nicht aus Hass, sondern aus einem moralischen Impuls heraus.
Springen wir ins heute. Herr Abdel-Samad, Sie haben jüngst mit einem Post zu Israels Krieg gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas im Gazastreifen für eine große Kontroverse gesorgt – und massive Kritik auf sich gezogen. Sie beschuldigen Israel, einen Genozid zu begehen, einen Völkermord. Herr Broder, diese Vorwürfe würden Sie – vollkommen zu Recht – jedem um die Ohren hauen, der sie benutzt. Warum nicht auch in diesem Fall?
Broder: Es gibt da mehrere Gründe. Erstens finde ich, dass man eine Freundschaft nicht leichtfertig aufgeben sollte. Und ich habe schon oft Diskussionsräume verlassen, ohne „auf Wiedersehen“ zu sagen. Aber eine mehrjährige Bindung, eine mehrjährige Freundschaft und Zusammenarbeit, das wollte ich nicht riskieren. Zweitens: Es gibt Sachen, mit denen ich nicht übereinstimme, wo ich vielleicht auch genau der entgegengesetzten Meinung bin. Aber ich finde, dass man sie äußern können darf.
Aber von legitimer Kritik bis zum Völkermord-Vorwurf ist ein weiter Weg …
Broder: Ich finde, dass der israelische Einsatz in Gaza durchaus diskutiert werden kann. Die Frage, ob er verhältnismäßig ist, ist eine berechtigte Frage. Aber wer sie stellt, muss mit zweierlei Optionen als Antwort rechnen: Der Einsatz ist nicht verhältnismäßig, es gibt zu viele Opfer. Oder: Er müsste noch stärker sein. Niemand in Israel hat damit gerechnet, dass diese Armee sich anderthalb Jahre lang mit einer Gangsterbande herumschlagen muss. Und das zeigt doch nur, dass Israel seine volle militärische Kraft nicht entfaltet, eben um Zivilisten zu schonen. Von der militärischen Potenz her könnte Israel Gaza in drei Tagen platt machen. Darüber muss auch geredet werden. Zugleich: Wenn ich sehe, dass auch Hilfstransporte beschossen wurden, bricht mir das Herz. Genauso, wenn ich lese, dass die Israelis drei Geiseln erschossen haben, die auf sie zugerannt kamen. Es ist Krieg. Und im Krieg geschehen schlimmste Fehler.
Ist es nicht genau das, was auch von der Hamas beabsichtigt wurde: dass Israel, im Kampf gegen die Terroristen, die sich hinter der eigenen Zivilbevölkerung verstecken, das Verständnis der Welt verliert?
Broder: Natürlich. Der Hamas ist es egal, ob es 500, 5.000 oder 500.000 Tote gibt. Sie opfern ja ständig die eigenen Leute. Ich glaube, dass Israel in eine Art von Falle getappt ist. Und trotzdem: Wenn ich lese, was die Hamas am 7. Oktober angerichtet hat, muss ich mich wirklich zusammenreißen, um nicht einen unglaublichen Hass zu entwickeln und selbst in gedankliche Brutalität zu geraten. Es kostet mich einige Mühe, wieder zurückzukommen. Oder wenn ich die Flüchtlinge in Gaza sehe, die von einem Ort zum anderen laufen. Es ist schrecklich.
Herr Abdel-Samad, war es von Ihnen eine kalkulierte Provokation, den Israelis einen angeblichen Völkermord vorzuwerfen?
Abdel-Samad: Nein. Ich wollte nicht provozieren. Der Genozid-Vorwurf stammt auch nicht aus meiner emotionalen Bindung zur arabisch-muslimischen Welt. Henryk weiß ganz genau, dass ich mich von dieser Bindung längst gelöst habe. Es gibt kaum jemanden, der diese Kultur stärker kritisiert hat als ich. Meine Äußerung über Israel entspringt meinem Gewissen, deshalb ziehe ich diesen Begriff nicht zurück.
Warum sollte Netanjahu vor den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) treten, wenn Israel sich nicht den Römischen Statuten unterworfen hat, Palästina als Staat nicht existiert, eine Voraussetzung für Ermittlungen des Strafgerichtshofs, und Israel eine eigene funktionierende Justiz hat, was die Zuständigkeit des ICC eigentlich ausschließt?
Abdel-Samad: Nun, was in Gaza stattfindet, ist aus meiner Sicht ein kultureller Völkermord. Ich unterstelle Israel nicht die Absicht, alle Palästinenser in Gaza töten zu wollen. Nein, das ist nicht das Ziel. Aber ich unterstelle, dass Israel versucht, Gaza unbewohnbar für die Palästinenser zu machen, damit sie verdrängt werden. Entweder Richtung Sinai, Teile Richtung Syrien und Teile in Richtung Jordanien oder Libyen. Israelische Politiker haben keinen Hehl daraus gemacht. Die Pläne dafür gab es bereits vor dem 7. Oktober. Die Hamas lieferte Israel lediglich die Ausrede. Wenn Israel die gesamte Infrastruktur zerstört und fast 90 Prozent aller Häuser und Wohneinheiten entweder vollständig zerstört oder unbewohnbar macht, dann spricht das für mich eine klare Sprache. Dann heißt es: ethnische Säuberung. Das ist auch nicht viel besser!
Teilen Sie Herr Broders Überzeugung, dass Israel in die Falle der Hamas getappt ist?
Abdel-Samad: Ob es sich um eine Falle handelte oder ob es ein willkommener Anlass war, sei dahingestellt. In beiden Fällen hat Israel seine moralische Überlegenheit, seine moralische Substanz verloren. So sehen es viele Juden weltweit, auch in Israel. Übrigens verwenden sie auch den Begriff „Genozid“. Und ich glaube, mit jedem Kind, das jetzt in Gaza stirbt, stirbt auch ein Stück der jüdischen Seele. Israel galt früher als sicherer Hafen für die jüdische Identität. Doch inzwischen wird es zunehmend zur Belastung für diese Identität.
Seit dem 7. Oktober und seinen Folgen ist auch das Verhältnis zwischen Juden und Muslimen in Deutschland oftmals zerrüttet. Was braucht es nun, damit es wieder besser werden kann?
Broder: Das sogenannte Verhältnis zwischen Juden und Muslimen in Deutschland war oder ist vor allem ein Verhältnis zwischen den jüdischen und den muslimischen Funktionären, die sich gegenseitig versichern, wie sehr sie einander mögen. An der Basis sieht es anders aus. Synagogen müssen massiv geschützt werden, Moscheen nicht, abgesehen von einer liberalen Moschee in Berlin, die Seyran Ates gegründet hat. Und die wird nicht von Juden bedroht.
Abdel-Samad: Wir müssen ehrlich miteinander reden: über den Nahen Osten, über Antisemitismus und über die Rolle der Religion in einer säkularen Gesellschaft. Die Traumata der anderen müssen gesehen und ernst genommen werden. Oft habe ich von Muslimen verlangt, sich mit der jüdischen Geschichte auseinanderzusetzen, um das Verhalten Israels zu verstehen. Und wenn ich dann hier spreche, jetzt zu diesem Zeitpunkt, dann muss ich auch die andere Seite ansprechen, nicht nur die deutsche Öffentlichkeit, sondern auch meine jüdischen Freunde: Schließt die Augen nicht vor dem Leid der Palästinenser! Die Menschlichkeit ist unteilbar! Henryk ist da eigentlich ganz moderat. Aber es gibt auch andere. Da gibt es gerade schlimme Reaktionen.
Welche?
Abdel-Samad: Ich habe viele jüdische Leser, die mich bislang wegen meiner Kritik am Islam und am muslimischen Judenhass schätzten. Viele von ihnen, die ich früher für vernünftig hielt, für bedächtig, sogar für intellektuell, halten mich plötzlich für einen Antisemiten. Quasi über Nacht. Sie schreiben Briefe an Veranstalter und drängen sie, mich auszuladen, manchmal mit Erfolg. Neulich hat der Landrat von Altenkirchen eine Lesung von mir in der Stadt abgesagt. Die Jüdische Gemeinde Düsseldorf, die mir vor zehn Jahren aufgrund meines Engagements gegen Rassismus und Antisemitismus die Josef-Neuberger-Medaille verliehen hat, distanzierte sich nun aufgrund meiner harschen Israelkritik von mir und der Preisverleihung. Ich bin ausschließlich meinem Gewissen und der Wahrheit verpflichtet. Ich rede niemandem nach dem Mund. Ich habe meine Überzeugungen. Deshalb muss ich das wohl aushalten.
Broder: Der Vorwurf des Genozids ist so ziemlich das Schlimmste, was man einem Volk, einer Nation vorwerfen kann. Israel muss sich natürlich gegen den Hamas-Terror wehren. Das kann vielleicht manche Reaktionen der Israelis erklären.
Das hier vorliegende Interview ist eine gekürzte Fassung. Die Langfassung ist zuerst in der Jüdischen Allgemeine vom 27.05.2025 erschienen (online). Das Interview führte Philipp Peyman Engel.