Für mich gehört die Politik schon seit langem zur Unterhaltungsindustrie. Die deutsche Politik schwankt zwar zwischen einschläfernden Monologen und herrlicher Gender-Komik. Aber immerhin: Auch Berlin hat seine Show-Biz-Momente. Und doch, und doch: Es sind die Briten, die uns zeigen, was wirklich mitreißendes Entertainment ist. Das Unterhaus und 10 Downing Street bieten seit Monaten the greatest show on earth. Großes Drama; Slapstick, dass Laurel und Hardy vor Neid platzen würden, wenn sie das noch hätten miterleben dürfen; dazu atemberaubende cliffhanger an kalendarischen Abgründen. Und dann noch etwas, was man die unendliche Geschichte nennen kann.
Wie schaffen die Briten das? Weil sie spinnen? Nicht nur: Es ist die insulare Mischung aus gelebter Demokratie, einer über Jahrhunderte genetisch entstandenen insularen Exzentrik und einem Menschen-Typus, der auf der Insel den Namen John Bull trägt. Die deutsche Vorstellung von britischer Lebensart war – bis zum Brexit-Drama – der feingliedrige Gentleman mit näselnder Stimme. Den gibt es auch, zur Zeit besonders erfolgreich dargestellt von Jacob Rees-Mogg, den eloquentesten Brexit-Ritter im Unterhaus. Aber John Bull, der die Zähne fletscht und nicht mehr locker lässt, wenn er einmal zugebissen hat, ist der bei uns oft übersehene englische Charakter. Den Kampf gegen Hitler hat John Bull geführt, während so mancher Gentleman den Weg des geringeren Widerstands suchte.
Was für ein aufregend lebendiges Wesen eine Demokratie sein kann, führt das britische Unterhaus zur Zeit fast täglich vor. Heiße Debatten, in der Form vornehm, in der Sache knallhart und respektlos: eine Arena voller wortgewandter Gladiatoren. (Ja, ja, und Gladiatorinnen.) Ach, wie war das doch vordem in Bonn so schön, als es auch im deutschen Parlament noch solche Schlachten gab. Vorbei, der Schlafwagen ist das Symbol unserer Großkoalition-Demokratie, die ja tief in die Reihen der Opposition hineinreicht. Wer saftiges parlamentarisches Leben beobachten will, muss nach London gehen oder sich per Youtube live ins Unterhaus schleichen.
Weiter diese Störenfriede in Brüssel?
Andererseits: Wie man eine uralte Demokratie in eine schier ausweglose Sackgasse manövrieren kann, zeigen die selbstverliebten Exzentriker und die starrköpfigen John Bulls des halbhohen Hauses. Im Oberhaus, das allerdings weniger zu sagen hat, geht es deutlich gesitteter, ja geradezu vernünftig zu. Kein Wunder: Dort sitzen die mit Titeln verzierten Gentlemen und Ladies. Ihr Unterhaltungswert ist zwar nicht ganz so schwach wie der unserer Berliner Parlamentarier, aber deutlich geringer als der im robusteren Unterhaus.
Inzwischen ist das Brexit-Chaos zur Herausforderung für die nervenstärksten Kontinentaleuropäer geworden. Nicht zuletzt, weil jetzt sogar wieder das Gespenst eines britischen Verbleibs in der Europäischen Union am Horizont aufgetaucht ist. Das wäre – trotz gegenteiliger Äußerungen – für manche EU-Politiker und EU-Bürokraten der Supergau. Weiter diese Störenfriede in Brüssel, mit ihren lästigen liberalen Wirtschaftsideen und ihren noch lästigeren demokratischeren Vorstellungen? Bitte nicht!
Der Brexit ist doch irgendwie ein Segen. Seit der britischen Abschiedsvorstellung hat sich in Brüssel eine stramme Wagenburg-Mentalität gebildet. Wer spricht noch von Reformen? Die mangelnde Reformbereitschaft und das aufdringliche Verordnungswesen der EU hat wesentlich zum Abschied der Briten beigetragen. Und jetzt, wo sie gehen, steht europäische Solidarität an erster Stelle. Wenn das keine Win-Win-Situation ist! Reform-Forderungen haben den Ruch des Verrats an der guten Sache. Damit man in Treue fest zusammenbleibt, erträgt man sogar die Attacken des politischen Preisboxers Viktor Orban, der in seinem Ungarn eine „illiberale Demokratie“ errichtet.
Tja, solche Typen dürfen wir behalten. Da ist mir die politische Tradition Englands tausendmal lieber. Und nicht nur wegen ihres einmaligen Unterhaltungswerts. Mein Wunsch wäre: The show must go on. Mit John Bull und den näselnden Exzentrikern. Und einer in Jahrhunderten gewachsenen Demokratie.