Rainer Bonhorst / 08.03.2021 / 16:00 / Foto: Top Gear/Screenshot / 14 / Seite ausdrucken

Brexit-Stunk: Ein Kampf der Kulturen

Von Europa befreit, kann England die neue große Freiheit immer noch nicht in vollen Zügen genießen. Es gibt allerlei Stunk an der jetzt harten Grenze zwischen der Europäischen Union und dem Drittland Britannien. Als besonders vertrackt erweist sich die Grenze zwischen der Hauptinsel und dem zum Königreich gehörenden Nordirland. Hier stoßen Mentalitäten hart aufeinander. Es droht ein Dauerkonflikt oder ein immer wiederkehrender Schmerz.

Diese heikelste Stelle der Brexit-Vereinbarung soll ja nach dem Mich-gibt's-gar-nicht-Prinzip funktionieren: Es soll eine Grenze entstehen, die so unmerklich ihre Aufgabe erfüllt, als gäbe es sie gar nicht. Warum soll sie so tun, als wäre sie nicht vorhanden, aber trotzdem die wichtige Funktion einer Grenze ausfüllen? Weil diese Grenze mitten im Vereinigten Königreich installiert werden soll, was ja eigentlich ein Unding ist. Es muss sie aber dort mittendrin geben, weil sonst eine Grenze zwischen Nordirland und der zur EU gehörenden Republik Irland wieder aufgebaut werden müsste. Und das soll auf alle Fälle vermieden werden.

Warum? Weil in guten alten EU-Zeiten diese Grenze praktisch verschwunden war, wodurch eine bisher stabile Friedensvereinbarung zwischen der irischen Republik und dem irischen Norden möglich wurde. Neue Grenzkontrollen zwischen EU und Königreich auf der grünen Insel würden neuen Zoff bedeuten.

Und Grenzkontrollen zwischen den beiden Inseln, also mitten im Königreich? Bedeuten auch Zoff. Denn die protestantischen Loyalisten im Norden Irlands hassen alles, was auch nur nach einer Trennung vom Königreich riecht. Also auch eine noch so clever verhüllte Grenze. 

Eine im Grunde unmögliche Lage also, die da durch den Brexit entstanden ist. Wie geht man mit so einer Unmöglichkeit um? Hier prallen eben, wie eingangs erwähnt, die Kulturen hart aufeinander, die des Kontinents und die des Inselreichs. Die Kultur des straffen Planens und der Aktenberge und die Kultur des genialischen Durchwurschtelns.

Deutsche Planungsgründlichkeit, die in die Hose geht

Es ist schon eine Weile her, seit mir ein britischer Offizieller auf einer Party gesagt hat: „Deutsche Politiker fragen uns immer nach unserem Gesamtkonzept. So was haben wir doch nicht!“ Damit beschrieb er die englische Neigung, angesichts schwieriger Fragen zu sagen: „Über diese Brücke gehen wir erst, wenn wir dort angekommen sind.“

Dem steht die kontinentale, vor allem deutsche Planungsgründlichkeit gegenüber, die allerdings gelegentlich den Nachteil hat, dass Flughäfen nicht fertig werden, dass viel zu wenig Impfstoff vorhanden ist und dass eine Corona-App nicht funktioniert. Womit Bert Brecht bestätigt wird, der schon wusste: „Ja, mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht. Und mach dann noch 'nen zweiten Plan, gehn tun sie beide nicht.“

Aus der Tatsache, dass ich in diesem Kampf der Kulturen den Skeptiker Brecht zitiere, kann man erahnen, dass mir die englische Brücken-Philosophie sympathisch ist. Und dass ich nicht frei von deutscher Schadenfreude bin, wenn unsere Planungsfreude immer wieder in die Hose geht.

Brüssel zeigt die Folterinstrumente

In der britisch-irischen Grenzfrage kann es ohnehin nur eine für London akzeptable Lösung geben: das englische Durchwurschteln. Eine Grenze, die keine sein soll, aber doch eine sein muss, kann auch nur auf englische Weise entstanden sein. Dass Brüssel einem so unordentlichen politischen Phänomen überhaupt zugestimmt hat, ist ein Wunder. Da müssen die nach mehrjährigen Verhandlungen unausbleiblichen Ermüdungserscheinungen im Spiel gewesen sein. Irgendwann kommt der Punkt, wo auch der Ordentlichste sagt: „Augen zu und durch.“

Wie wollen sich die Briten durchwurschteln? Bisher durften sie es mit Genehmigung Brüssels, weil die akkurate Ursula von der Leyen ihrem ganz und gar nicht akkuraten Gesprächspartner Boris Johnson zugesichert hat, eine Weile beide Augen zuzudrücken. Diese Weile ist Ende des Monats zu Ende. Ab April soll wieder europäische Ordnung herrschen und mit der Grenze zwischen der britischen Insel und Nordirland Ernst gemacht werden. Boris Johnson will aber unbedingt weiter diese Grenze als Nichtgrenze behandeln, damit bei den nordirischen Protestanten nicht der korrekte Eindruck entsteht, dass es da tatsächlich eine Grenze gibt.

Es hat darum zwischen London und Brüssel schon heftige Wortwechsel gegeben. Der Vorwurf: Boris Johnson will mal wieder einen internationalen Vertrag brechen. Der Vorwurf ist korrekt. Aber Johnson empfindet den Vertrag, den er unterschrieben hat, als ein unerträglich enges politisches Korsett, das ihm die Luft abschnürt. Er wird sich bei der Unterzeichnung gedacht haben: Wenn ich das Ding später unauffällig lockere, wird das schon keiner merken. Aber den Adleraugen der Brüsseler entgeht so leicht nichts. Am 1. April wollen sie dem Briten das Korsett wieder enger schnüren. Sollte er sich weiter dagegen wehren, wollen die Brüsseler ihm andere Folterinstrumente androhen. Ein erstes wurde schon vorgezeigt: Das EU-Parlament hat sich – anders als die 27 EU-Regierungen – erst einmal geweigert, den Brexit-Freihandelsvertrag zu ratifizieren. Damit hängt die Brücke, über die man gehen soll, plötzlich in der Luft.

Europa: ohne das britische Ärgernis ärmer und schwächer

Und es gibt ja nicht nur diese eine Brücke. Vielmehr müssen die Brexit-Betroffenen, wie der Sänger singt, über mindestens sieben Brücken gehen, wenn nicht über noch mehr. Derweil ertrinken Exporteure und Importeure zwischen der Insel und dem Kontinent in der Papierflut neuer Dokumentationspflichten. Fische verrotten, weil die erhoffte große Fischereifreiheit nicht eingetreten ist. Britische Sonnen-Rentner müssen alle drei Monate aus Spanien verschwinden und sich wieder an den englischen Regen gewöhnen. EU-Bürger verlassen frustriert die Insel. Finanzdienstleister ziehen von London nach Paris und Frankfurt um.

Britanniens neue Souveränität tut weh. Zu viele Brücken müssen auf einmal unvorbereitet überschritten werden. London lebt von der Hoffnung, dass sich die Trennungsschmerzen eines Tages legen werden und dass man dann die große Freiheit in vollen Zügen genießen kann. Und Brüssel gibt sich ungerührt, nach dem Motto: Europäer kennen keinen Schmerz. Aber die Schmerzen der Briten sind auch Europas Schmerzen. Man braucht sich gegenseitig, ob – wie früher – als Familienmitglied oder – wie jetzt – als enge Nachbarn. Der britische Traum von der Weltnation ist so wenig real wie die europäische Selbsttäuschung, man sei ohne die Briten ein Ärgernis los. Tatsächlich ist man ohne das britische Ärgernis ärmer und schwächer geworden.

Gibt es einen Ausweg aus dieser Selbsttäuschung der Grenzen, die keine sind, und aus dem gegenseitigen, schnippischen „Wir brauchen dich nicht“? Ja, die Lösung liegt so nah, ein Stückchen weiter über die Nordsee nach Osten beziehungsweise nach Norden. Sie heißt Norwegen. Ein glückliches, reiches Land, eng angelehnt an die EU, aber eben nur angelehnt und souverän. Ohne Selbstüberschätzung, aber weltweit vernetzt.

Eine solche neue Nachbarschaft nach skandinavischer Art kann es aber nur geben, wenn Boris Johnson in Rente und Brüssel in sich geht.      

Foto: Top Gear/Screenshot

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Hans-Peter Dollhopf / 08.03.2021

Herr Bonhorst, ich kann mich ja daran erinnern, dass Brüssel den Erhalt des Status quo der irisch-britischen Grenze aus dem Friedensabkommen jahrelang als absolute Voraussetzung für irgendein Brexitabkommen festgelegt hatte. Und Sie wissen sehr gut, dass alsdann Ursula entgegen allem bisherigen EU-Gebaren vor gerade mal einem Monat wegen ihres Impfstoffdesasters durchknallte und die Wiedereinführung von Kontrollen an eben dieser Grenze androhte, sich faktisch eine Allianz zwischen Belfast, Dublin und London bildete und sogar von einem sehr eindeutigen Anruf aus Washington berichtet wurde. Seit vier Wochen also ist darum das Ansehen der “akkuraten” Ursula in der Welt der Diplomatie auf Ramschniveau. Ne! Da sitzt der perfide Albion am längeren Hebel! “Das EU-Parlament hat sich – anders als die 27 EU-Regierungen – erst einmal geweigert, den Brexit-Freihandelsvertrag zu ratifizieren.” Will dieses “Projekt Europa” sich jetzt also endgültig zur Lachnummer machen? Wenn Zeit Geld ist, dann ist die Geduld ein Kredit! Die Völker Europas haben wirklich Wichtigeres zu tun, als das Selbstversorgungstheater all dieser Arschgeigen in einem Parlament ohne Staat, dieser freischwebenden Luftnummer auch nur noch einen Tag länger zu alimentieren!

Volker Altenaehr / 08.03.2021

Man kann nur hoffen, dass die EU ,dieser widerliche Bürokratenhaufen ohne demokratische Legitimation, bald der Vergangenheit angehört

Fred Burig / 08.03.2021

@E Ekat: Dem kann ich nur zustimmen! Alles andere ist realitätsfremd! MfG

HERMANN NEUBURG / 08.03.2021

Norwegen erlässt sehr viele seiner Gesetze nicht aus eigener Souveränität heraus, sondern weil Brüssel die Regeln vorgibt. Ein Vertrag mit Brüssel unterschrieben, und schon ist das Parlament in Norwegen nur ein Befehlsempfänger. Das nennt dann wohl der Autor “neue Demokratie” - denn die alte Definition von Volksherrschaft stimmt ja nicht mehr so ganz, außer: man hätte den Vertrag mit der EU nicht unterschreiben sollen. Stimmt, das Neue ist dann eben Volksherrschaft in Teilen outgesourct.  Im Grunde super: die EU bestimmt über die Wattzahl von Staubsaugern, und in Norwegen braucht sich das Volk darüber keine Gedanken mehr machen. Ist schon klasse,  das mit der EU - oder?

Silas Loy / 08.03.2021

@ Angelika Meier - Die (ich nenne es mal so) Wiedervereinigung der irischen Insel sollte eigentlich kein so grosses Problem mehr darstellen. Die konfessionellen Fronten von früher gibt es so nicht mehr. Warum sollten die Protestanten nicht in Dublin politisch mitmischen statt in London? Wer die Königin nicht missen will, kann ja seine britischen Staatsbürgerschaft behalten, vielleicht auch umziehen, Zweitwohnsitz oder ganz. Nordirland ist heute weitgehend ein politisches Kunstgebilde. Und den Iren wäre nach den schmerzlichen Jahrhunderten die vollständige Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität wirklich zu wünschen. Die Briten, das sind die Engländer, Schotten und Waliser. Mögen sie immer einig bleiben!

Fred Burig / 08.03.2021

Also was da so über den Brexit von sich gegeben wird ist nicht leicht zu durchschauen. Das kann von Häme, Neid, EU-Affinität bis zu Schwachsinn ausgelegt werden. Satire sollte man vielleicht auch nicht ausschließen. Einfach irre ! MfG

Peter Meyer / 08.03.2021

Brüssel bricht täglich so ziemlich alle Vereinbarungen, die die so genannte Grundlage der so genannten EU sind. Das Demokratiedefizit wurde in einem von zwei lichten Momenten des Martin Schulz sogar von diesem beklagt (und wer Zweifel hat, sehe sich nur mal an, wie UvdL zu ihrem Posten gekommen ist), und welche grandiosen Folgen die Brüsseler Verordnungen und Richtlinien haben (die eine Ausnahme “Roaming” bestätigt diese Regel), kann jeder beim Kauf von Glühbirnen, Staubsaugern und Bio-Lebensmitteln beobachten (die alte deutsche Bio-Vorschrift hätte kein Pseudo-Bio aus der Türkei oder China zugelassen). Nahezu jede Verordnung beruht nicht auf dem höchsten erreichten Standard, sondern auf dem geringsten, garniert mit einer Bürokratie, die sogar die Verwaltungswut zweier sozialistischer Systeme in Deutschland (1933-1945 & 1949-1990) locker in den Schatten stellt. Deshalb: GB, werde wieder stolz und zeig Brüssel den Stinkefinger. PS: ist schon wieder mal sehr seltsam, daß Briten in Spanien alle 3 Monate in ihr Heimatland müssen und passlose Nordafrikaner… aber lassen wir das.

Silas Loy / 08.03.2021

Die EU ist auf dem Holzweg und natürlich ohne GB erheblich ärmer und schwächer, auch mental. Die Briten sind nicht unbescholten und fehlerfrei, aber sie lagen mit Schengen und mit dem Euro genau richtig und haben sich davon ferngehalten. Sie wollten keine immer grössere Vertiefung der Union mit einer starken Zentrale Brüssel. Auch richtig. Sie pochten auf ihre Souveränität und auf die Subsidarität in Europa. Goldrichtig. Die Lösung ist nicht das Modell Norwegen, sondern das Modell EG. Dann kommt sicher auch GB gerne wieder rein. Thanks and welcome!

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