Die Feiertage nahen, und England leidet unter einem akuten Mangel an Weihnachtsmännern. Dies scheint ein guter Anlass zu sein, mal wieder einen Blick auf die Brexit-Insel zu werfen. Aktuell kommt erschwerend hinzu, dass die Briten ihren Brexit-Minister verloren haben, weil er frustriert den Bettel hingeschmissen hat.
Es handelte sich um eine Flucht aus der ins Schleudern geratenen Boris-Johnson-Regierung. Mit ihm ist eine Figur gegangen, die ganz persönlich dafür stehen kann, dass England einfach nicht richtig zum europäischen Kontinent passt. Als der Premierminister den gelernten Diplomaten David Frost zum Minister machen wollte, gab es ein kleines Hindernis: Der Auserwählte, ein feuriger Brexit-Kämpfer, hatte keinen Sitz im Parlament. Das Hindernis wurde auf einzigartig britische Weise übersprungen: Mr. Frost wurde zum Baron of Allenton, genannt Lord Frost, erhoben und – schwupps – konnte er sein Amt in Ehren antreten. Als Lord saß er – ernannt, nicht gewählt – im Oberhaus und war damit ministrabel. Sowas entspricht nur bei großzügiger Auslegung den Demokratie-Anforderungen der Europäischen Union. Andererseits: Da die EU selber ihren Demokratie-Anforderungen nicht entspricht, drückt man da seit langem ein Auge zu.
Aber jetzt ist er weg, der ehemalige Brexit-Unterhändler, und mit den Folgen seiner Unterhändlertätigkeit müssen sich andere herumschlagen. Boris Johnson sowieso, und nun auch Außenministerin Liz Truss, die die Angelegenheit jetzt nebenher macht. Liz Truss ist – wie übrigens auch ihr Chef, der Premierminister – von Hause aus gar keine Brexit-Befürworterin. Sie hat lange gegen den Austritt aus der EU argumentiert und ist erst spät, aber karrierefördernd zur Brexit-Frau geworden. Sie und ihr Chef sind nicht die einzigen Konvertiten in der Johnson-Regierung. Das Kabinett ist voller Persönlichkeiten, auf die der Bernstein-Spruch passt: Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche.
Den Elchen der EU stellt sich jetzt die Frage, ob der Abgang des furiosen Lords bedeutet, dass London demnächst einen pragmatischeren Kurs gegenüber Europa einschlägt. Leider hängt an dieser Frage noch eine weitere Frage: Wie lange kann sich Boris Johnson überhaupt noch in Number 10 Downing Street halten? Er hat zwar mit seinem Spruch „Get Brexit done“ einen riesigen Wahlerfolg erzielt. Aber dann stellte sich heraus, dass der Brexit keineswegs erledigt war, sondern zum Dauerproblem mutiert ist.
Boris Johnson gilt als angezählt
Der Abschied von der EU hatte eine verschärfte Bürokratie zur Folge, sodass jede Menge ausländischer Arbeitskräfte abhanden gekommen sind und nicht durch eingeborene Briten ersetzt werden konnten. Restaurants, Pubs, Logistiker, Einzelhändler, Landwirte, Fischer – sie alle mussten feststellen, dass die Befreiung von der Bevormundung der Brüsseler Bürokraten nicht den erhofften befreienden Effekt hatte. Im Gegenteil. Cornwall zum Beispiel, wo eine deutliche Mehrheit für den Brexit stimmte, leidet unter Johnsons Knauserigkeit, während zuvor die Brüsseler diese schöne Problemregion im äußersten Südwesten der Insel großzügig aufgepäppelt hatten. Den Walisern geht es nicht anders.
Und dann ist da noch Nordirland. Nordirland blüht und gedeiht. Warum? Weil dieser eigentlich zum Königreich gehörende Teil der irischen Insel weiter dem gemeinsamen Markt und der Zollunion angehört. Ein Stück EU im Brexit-Königreich. Lord Frost hat das immer als Ärgernis, ja als Pfahl im Fleische seines freien Brexitlands empfunden. Zu recht, denn das erblühende Nordirland führt den Londonern täglich ihren Kardinalfehler vor Augen: dass sie nämlich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet haben. Ihr harter Brexit bedeutete nicht nur den Abschied von der Europäischen Union als Völkergemeinschaft, sondern auch ganz konkret den Austritt aus dem gemeinsamen Markt und der Zollunion.
Fast alle Probleme, die der Brexit den Briten eingebrockt hat, haben mit dem Austritt aus diesem Stück ökonomischer Gemeinsamkeit zu tun. Er ist der Brexit-Ideologie geschuldet, dass man mit den alten angelsächsischen Freunden von Australien über Neuseeland bis Kanada und mit Indien, dem einstigen Juwel in der Krone des britischen Weltreichs, besser fährt. Und dass man so die Einbußen in den Geschäften mit der kontinentalen Nachbarschaft wettmachen kann. Eine Illusion wie jede Ideologie.
Man leidet zähneknirschend auf der Hauptinsel, während vor der Nase, in Nordirland, wirtschaftlich alles läuft wie geschmiert. Wie reagiert der Wähler auf diese Entwicklung? Sehr deutlich: Bei Nachwahlen zum Unterhaus in North Shropshire verloren die Konservativen an die Liberaldemokraten einen Sitz, den sie seit 200 Jahren mit satten Mehrheiten gehalten hatten. Und da sich Boris Johnson allerlei andere Dummheiten geleistet hat, zuletzt arrogante Weihnachtsfeiern trotz Corona-Verbots, gilt er nun als angezählt.
„Haut den Lukas"-Zeiten hoffentlich vorbei
Er hat zwar immer noch eine riesige Mehrheit, aber immer mehr Abgeordneten wird es auf ihren Sitzen ungemütlich. Wenn North Shropshire, dieser schneeweiß bevölkerte, national-konservativ fühlende Pro-Brexit-Wahlkreis verlorengeht – wie sieht es dann bei künftigen Wahlen auf weniger bombensicheren Sitzen aus? Jedenfalls spekulieren britische Medien inzwischen über eine bevorstehende Revolte der Parteifreunde gegen ihren Premierminister. Der einstige Sieges-Garant ist zur Belastung geworden. Und da die Konservativen nicht zur Sentimentalität neigen, fragt man sich: Wie schnell werden sie Boris Johnson in Rente schicken?
Die schlichte Antwort: Sobald sie einen Ersatz mit Siegesgarantie gefunden haben. Aber die sind Mangelware. Kann Liz Truss, die Außenministerin mit Brexit-Auftrag, die Nächste sein? Oder hat Johnson ihr den Brexit-Job zugeschanzt, um sie bei Bedarf als Bauernopfer nach vorne zu schieben, wenn die Unzufriedenheit mit dem Brexit weiter wächst? Man sollte den Taktiker Johnson nicht unterschätzen.
Doch zurück zum geflüchteten Brexit-Lord. Hat er sich in Sicherheit gebracht, um aus der Distanz selber Downing Street anzupeilen? Warum nicht. Eines aber wird sein Abschied hoffentlich bedeuten: dass Brüssel und London in ein etwas ruhigeres Fahrwasser gelangen. Lord Frost handelte stets nach dem Motto: Haut den Lukas. In der irrigen Überzeugung, dass er so die Europäer kleinkriegt. Liz Truss wird vermutlich (hoffentlich?) klügere Töne anschlagen. Und das kann, was immer demnächst auf dem Inseltheater gespielt wird, nur gut sein.
Zur Ermunterung und als Festtags-Geste der Versöhnung könnte Europa an die Briten schnell noch ein paar Weihnachtsmänner entsenden. Vorher müsste allerdings geklärt werden, ob die strenge Innenministerin Priti Patel, auch eine Kandidatin für die Johnson-Nachfolge, die Graubärte vom Kontinent überhaupt hereinlässt.