Karl Popper hatte eine große Schwäche für die britische Demokratie. Seiner Meinung nach ist im Vereinigten Königreich das beste Beispiel des Wettbewerbs politischer Ideen zu finden. Nicht nur das Zwei-Parteien-System, auch die politische Kultur der Briten sorgen dafür. Und wirklich, als Continental blickt man heute wieder erstaunt auf die Insel, treten da tatsächlich Regierungsmitglieder zurück, weil sie den erzielten Kompromiss mit der EU nicht mittragen wollen. In Deutschland unvorstellbar, nicht nur CDU-Abgeordnete scheinen hier eher Mitglieder in einem Kanzlerwahlverein zu sein statt streitbare Parlamentarier.
Oft wird betont, die Briten seien nun mal ein Inselvolk und sicherlich etwas eigentümlich. Seit dem Brexit-Votum gelten sie allgemein als bescheuert. Zwar wird gerne von Politikern, die sich von dem Label „liberal-konservativ in EU-Fragen“ Wählerzuspruch erhoffen, betont, man würde die Stimme der Vernunft Großbritanniens in Zukunft vermissen, einig sind sich aber alle, dass das Vereinigte Königreich nun auf dem absteigenden Ast ist. Ein No-Deal-Brexit wird gar als absolute Katastrophe beschrieben. Beim bloßen Gedanken daran, wie die Insel im Inferno versinkt, scheint den Kommentatoren ganz heiß zu werden. Denn eins ist klar: Die Briten sind auf dem direkten Weg in die Hölle – die EU-Mitgliedstaaten verweilen im Garten Eden.
Nun sind Mystik und Empfindungen eher unsichere Ratgeber. Zur ökonomischen Beurteilung einer politischen Entscheidung gilt es, Kosten und Nutzen zu identifizieren und dann zu vergleichen. Wichtig ist dabei unter anderem das Basisszenario, dem man den neuen möglichen Zustand gegenüberstellt. Es darf nicht zu optimistisch sein. In deutschen Kommentaren ist dieses Vergleichsszenario eine friedensstiftende, perfekte EU ohne Asymmetrien (weder wirtschaftlicher noch anreiztechnischer Natur), in der Jean-Claude Juncker, Angela Merkel und Emmanuel Macron sich bewegt an den Händen halten und den schönen Sonnenuntergang, den es ohne den Euro nicht geben würde, bestaunen. Die Kosten dieser perfekten EU sind gleich null, die Kosten des Brexits hingegen gehen gegen unendlich, weil man sich bis in alle Ewigkeit den Nutzen der blühenden Gemeinschaft entgehen lässt.
Fettleibige Morphinisten zertrümmern das Tafelsilber
Eine knappe Mehrheit der Briten hat die Kosten des Verbleibs höher bewertet als die Kosten eines Austritts – und dies trotz der großen Unsicherheit, die der Brexit mit sich bringt. Briten sind aber auch anders. Lieber wählen sie die Option, gar nicht krankenversichert zu sein, als Anteile an einer Assekuranz zu halten, in der jedes einzelne Mitglied Kettenraucher, fettleibig, Alkoholiker und Morphinist ist. In Deutschland schüttelt man über so viel Risikofreude nur arrogant lachend den Kopf. Der Deutsche ist gerne überversichert.
Ökonomen – unter anderem vom King’s College und der London School of Economics, aber auch von der britischen Regierung – versuchen zu beziffern, wie hoch die Kosten des Austritts aus der EU für das Vereinigte Königreich sein werden. Ihre Modelle geben an, wie sich das BIP im Vergleich zu einem Verbleib in der EU unter verschiedenen Austrittsszenarien verhalten könnte. Alle Analysen gehen davon aus, dass das Wirtschaftswachstum für Großbritannien außerhalb der EU – egal unter welchen Bedingungen – in den nächsten Jahren geringer ausfallen wird, als wenn die Insel Teil der Gemeinschaft geblieben wäre.
Sie betonen allerdings auch, dass die erwarteten Wachstumseinbrüche stark schwanken, da die zukünftigen Entwicklungen sehr unsicher seien. Diese Prozententwicklungen als solide Zahlen zu interpretieren, verbietet der gesunde Menschenverstand. Interessant ist allerdings, dass oftmals in solchen Berechnungen das No-Deal-Szenario nicht sonderlich schlechter abschneidet als irgendein wie auch immer geartetes Abkommen mit der EU – einschließlich des aktuell zur Abstimmung im Unterhaus am 11. Dezember vorliegenden Kompromisses. Dies ist zumindest ein Argument dafür, die Kosten des No-Deal-Austritts einzugehen und gänzlich den Nutzen der Unabhängigkeit von der Union zu gewinnen.
Wichtiger als kurzfristige Wachstumseffekte und mathematische Politik – nichts anderes sind Ergebnisse solcher Studien – ist jedoch etwas anderes. Kosten und Nutzen können in einer unterschiedlichen Zeitspanne auftreten. So kann ein Geschäft, das kurzfristig Gewinn abwirft, langfristig sehr kostspielig werden und kurzfristige Kosten können durch zukünftige Erträge gerechtfertigt sein. Gehen wir davon aus, dass die EU, wie sie heute ist, nicht ohne enorme Kosten und Verwerfungen reformierbar ist, dann rechtfertigen auch kurzfristig anfallende Kosten des Brexits den Austritt Großbritanniens. Und zwar ohne Zugeständnisse an die EU.
Die selbstgefällige Reaktion Jean Claude Junckers und Martin Schulz‘ auf das Abstimmungsergebnis der Briten 2016 kann symbolisch dafür stehen, dass unter der Führung der aktuellen EU-Verantwortungsträgern mit keinerlei Veränderungen zu rechnen ist – ganz davon abgesehen, dass jedwede Reform sowieso viel zu spät käme. Von der Insel aus auf den Kontinent zu blicken und zuzusehen, wie die kettenrauchenden, fettleibigen, alkoholabhängigen Morphinisten das Tafelsilber zertrümmern, ist zwar immer noch nicht schön, aber immerhin einfacher zu ertragen, wenn darunter wenigstens nicht die Kronjuwelen des britischen Königshauses sind. Karl Popper hatte recht. Brite müsste man sein. Dann hätte man wenigstens die Wahl.