Die EU Jean-Claude Junckers wollte am Brexit ein Exempel statuieren, auf dass es den Briten keiner nachtut und den Versuch unternimmt, sich dem liebevollen Würgegriff der Brüsseler EU-Kommission zu entziehen. Die verhält sich im Grunde wie ein Zuhälter, der die nach Freiheit strebende Prostituierte mit einer überhöhten “Ablöse” überzieht. Mit einem Augenzwinkern ist der britische Exzentriker Boris Johnson den Brüsselern nun entgegengetreten: Wenn es keinen vernünftigen Vertrag gibt, dann eben gar keinen. Das wird den Briten sehr schaden. Dem Rest Europas aber mindestens genauso.
Die verflochtene Wirtschaft
Zu Beginn des ersten Weltkriegs war der deutsch-französische Handel vom Volumen nicht viel kleiner als heute. Aber heute handeln wir in Europa nicht nur miteinander, wir arbeiten zusammen. Die Fertigungsketten und -verbünde überspringen selbstverständlich nationale Grenzen und schaffen im positiven Sinne Abhängigkeiten, von denen die wenigsten überhaupt wissen.
Jaguar begann etwa vor rund zehn Jahren seinen Siegeszug mit Getrieben von ZF Friedrichshafen und Motoren von Peugeot. Der Volkswagenkonzern ist der Prototyp eines solchen europäischen Verbundes. Wer weiß schon, dass die meisten Motoren von Audi in Ungarn produziert werden, dass die Karosserien des Klima-Killers Porsche Cayenne jahrelang bei Skoda in Tschechien produziert wurden. Fertigungsverbünde und Wertschöpfungsketten sind die Friedensbringer in Europa. Mit wem man zusammenarbeitet, dem schlägt man nicht die Köpfe ein. Mit dem Pathos von Uschi von der Leyen hat das nichts zu tun. Den brauchen nur die Brüsseler Parlamentarier, die mit ihrem Regulierungswahn, Grenzwertfetischismus und ihrer weltfremden Bürokratie eben diese Wertschöpfungsketten und wirtschaftlichen Verflechtungen eher behindern. Boris Johnsons Drohung vom No Deal würde diese Netzwerke vorübergehend beschneiden aber im Rest Europas den selben Schaden anrichten und im Zweifel in der EU mehr Jobs kosten als auf der Insel. Beim No Deal verlieren alle.
Die bisherige von der EU-Kommission diktierte Austrittsvereinbarung nützt vor allem einen: Ihr selbst. Sie versucht, die Bedingungen so schlecht zu formulieren, dass die Briten keine Nachahmer finden, etwa in Osteuropa, das sich zunehmend von den Besserwissern in Deutschland und Frankreich bevormundet fühlt.
Mit ihrem unbedingten Willen, einen “Deal” zu verhandeln, hat sich Theresa May erpressen lassen. Leider war das Ergebnis im heimischen Westminster nicht mehrheitsfähig. Ein Vertrag, dem das Parlament beim ersten Mal nicht zustimmt, wird auch das zweite Mal keine Mehrheit finden.
Die Brüsseler Schuld am Scheitern liegt in Brüssel
Das Knock-Out-Kriterium für den Austrittsvertrag aus britischer Sicht war der “Backstop”. Mit ihm wollte die Kommission ihr Erpressungspotential auch nach dem vollzogenen Beitritt erhalten.
Nach dem Austritt wäre die Grenze auf der irischen Insel zur EU-Außengrenze geworden. Und hier setzt die EU-Kommission an: Solange es kein Handelsabkommen zwischen EU und Großbritannien gibt, bleibt das Vereinigte Königreich zwangsweise Mitglied des Binnenmarktes und dem Brüsseler Diktat unterworfen. Und das kann Jahre oder Jahrzehnte dauern. Damit säßen die Briten nicht mehr am Tisch, müssten aber mit allen noch so absurden Konsequenzen, etwa in der Finanzmarktkontrolle, leben.
Dabei gäbe es hier eine einfache Lösung. Wem es noch nicht aufgefallen ist: Irland ist eine Insel und hat somit leicht zu kontrollierende Grenzen. Waren, Güter und Reisende sind beim Eintritt in die Europäische Union per Schiff oder Flugzeug einfach zu kontrollieren. Eine einfache Freihandelszone zwischen Nordirland und der irischen Republik würde reichen, ohne das restliche Vereinigte Königreich in Geiselhaft zu nehmen.
Der Backstop ist für die Briten unannehmbar und kein Versehen. Auch die Schweiz soll im Rahmen eines Rahmenabkommens mit der EU ihre Kapitalmarktsouveränität opfern. Könnte es vielleicht sein, dass der Finanzplatz London nur ungern der Brüsseler Kontrolle entzogen werden kann.
Bisher wird suggeriert, das Austrittsabkommen würde eben diesen regeln. Das stimmt nur zur Hälfte. Denn das besagte Freihandelsabkommen, das Importe und Exporte und auch die Personenfreizügigkeit regelt, ist nicht verhandelt. Die Zukunft ist rechtlich komplett ungewiss. Darauf haben die Brüsseler Bürokraten bestanden. Erst sollte der Austritt geregelt werden, dann erst die gemeinsame Zukunft. Das ist in etwa so, als ob bei einer Scheidung das Sorgerecht für die Kinder dezidiert ausgeschlossen bleibt und die Mutter kategorisch erklärt, so lange blieben die Kinder bei ihr ohne jeden Anspruch des Vaters.
Ungeregelte Verhältnisse
Anders gesagt: Ohne ein Abkommen, das das gegenseitige Verhältnis regelt, bricht in ganz Europa das Chaos aus, weil die Wertschöpfungsketten unterbrochen werden und die Logistiker und Produktionssteuerer nicht planen können. Und da wir keine Planwirtschaft haben, wissen wir auch gar nicht, wo eine nicht aus Großbritannien gelieferte Schraube in Spanien eine ganze Produktion zusammenbrechen lässt.
Es scheint paradox: Boris Johnsons Drohung, auch ohne Vereinbarung auszutreten, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Vereinbarung kommt, die Austritt und das gegenseitige Verhältnis in Zukunft regelt. Denn er entzieht sich so der bisherigen Erpressbarkeit der EU und erhöht damit den Spielraum der Briten. Vermutlich werden sich die Eurokraten in letzter Minute an den Verhandlungstisch retten, um das Schlimmste zu verhindern, weil Boris droht.
Wer den übrigens mit Trump vergleicht, vertut sich gewaltig. Johnson ist wie 14 seiner Vorgänger Eaton-Absolvent und Kosmopolit. Er hat in Oxford studiert und bedient die Sehnsucht der Briten nach Oberklassen-Exzentrik. Unter seiner Ägide, die Londoner wählten ihn als Oberbürgermeister wieder, fielen nicht nur die olympischen Spiele. Da wurden alle Gebäude - im Gegensatz zu Elbphilharmonie und BER - nicht nur rechtzeitig fertig, sondern auch noch nicht teurer, als geplant. Seine Kollegen von Beust, Scholz oder Wowereit könnten sich daran ein Beispiel nehmen.
Letztlich ist es so nur eine Frage, inwieweit Jean-Claude Juncker sein Gesicht wahren will und bei der Strategie bleiben, die Briten für ihren Austritt möglichst vorzuführen. Denn der ischiasgeplagte Luxemburger bleibt bis in den November im Amt. Juncker kann den von ihm ach so geliebten Kontinent in den Abgrund reißen, wenn er stur bleibt. Aber alte Männer sind grausam. Denn sie haben nichts mehr zu verlieren.
Kaputtes Getriebe
Wenn man sich Ursula von der Leyens Auftritt so anhört, wird es mit der Weltfremdheit so weitergehen. Nach dem Brexit ist eine Wirtschaftskrise in Europa wohl unvermeidlich. Ein Getriebe geht kaputt, wenn ein einziges Zahnrad versagt. Und dann gibt es keinen Vortrieb mehr. Gerade das Verfahren, das sie an die Spitze spülte, ist ein Beleg für das Organversagen der Brüsseler Apparate.
Die Berufseuropäer unterliegen dem von ihnen weit verbreitetem Irrtum, der seit Jahrzehnten innerhalb der Union herrschende Frieden und der vielerorts wachsende wirtschaftliche Wohlstand sei ihrer Regulierungswut zu verdanken. Das Gegenteil ist der Fall. Für die Einheit Europas sind Facebook, Instagram, Interrail und die wirtschaftliche Verflechtung entscheidend, nicht gemeinschaftliche Nitratgrenzwerte von Lappland bis Sizilien, die sich (um mit Vince Ebert zu sprechen) Theaterwissenschaftler ausgedacht haben.