Rainer Bonhorst / 04.01.2023 / 12:00 / Foto: Imago / 41 / Seite ausdrucken

Brexit – Bilanz einer Tragikomödie

Vor rund acht Jahren kam das „Ja“ zum „Nein“ zur EU. Vor knapp drei Jahren (31. Januar 2020) wurde der Brexit vollzogen. Hier zum neuen Jahr eine Zwischenbilanz eines spannenden Abschiedsdramas, das zur Tragikomödie wurde.

Um es gleich zu sagen: England hat nie so richtig in die Europäische Union gepasst. Und genau darum war das Königreich so wichtig für diese sonst so monochrom kontinentale Vereinigung. Die Briten brachten Leben in die Bude. Schon Churchill war ein früher Freund einer europäischen Staatenvereinigung, aber er sah sein England nicht drin, sondern draußen, ein Unterstützer, aber kein Mitglied. Eine bis heute nicht unkluge Haltung für diesen Inselstaat mit seiner ganz eigenen politischen und wirtschaftlichen Tradition. 

Mit dem Brexit hat sich die Geschichte der churchillschen Distanz zum Kontinentalbund nun wiederholt. Aber wie so viele geschichtliche Imitate geriet auch diese Wiederholung der Historie zur Farce. Churchills freundliche Nachbarschaft geriet nach Jahrzehnten der EU-Mitgliedschaft nun zur hysterischen Berührungsangst.

Verspätetes Mitglied wurden die Briten aus wirtschaftlichen Gründen. Es war die schlichte Logik, dass es sich ökonomisch lohnen würde, dem großen und stetig wachsenden Club vor der Haustür beizutreten und alle Vorteile der Mitgliedschaft zu genießen. Und als zweitstärkste Stimme in dem Club, die Politik und die Satzungen mitzubestimmen.

So war es auch. Das Königreich gedieh insgesamt prächtig in diesem Verein. Aber zu einem Preis: Lästige Regeln, die man mitformuliert hat oder nicht verhindern konnte, engten die alte Freiheit ein. Der Club selbst wuchs sich zu einem Moloch aus, der dazu führte, dass neudemokratische polnische und rumänische Kommissare den Damen und Herren in Westminster auf die Finger klopfen konnten, obwohl man in London schon Demokratie ausgeübt hat, als viele auf dem Kontinent davon nicht einmal träumen konnten. Von Deutschland ganz zu schweigen, das mit seiner unüberhörbaren Stimme unangenehm in den Ohren nostalgischer Briten klang. 

Hauchdünne Mehrheit beim Referendum

Die Suche nach einem Ausweg ist so alt wie die Mitgliedschaft. Der Europäische Verein war für viele Briten schon immer eine Art Escape Room. Lange war es Labour mit seiner Abneigung gegen den kapitalistischen Moloch Europa. Dann rumorte es bei den Konservativen, bei denen viele die Dominanz und den Zustrom der kontinentalen Nachbarn als Zumutung empfanden. Vorwärts in die Vergangenheit mit einem Hauch von Empire war die Parole der Nostalgiker, die dem Premierminister David Cameron immer lästiger wurden. Daher seine brillante Idee: Volksabstimmung über Austritt oder Verbleib, damit endgültig Ruhe im Karton einkehren würde.

Warum auch nicht. Und dann trat eine echt englische Wurschtelei in Aktion, die an jene freischaffenden Handwerker erinnert, die die Briten „Cowboys“ nennen, und dank derer unprofessioneller Bastelei die Profi-Handwerker aus Polen auf der Insel ganz groß herauskamen. Bis man sie nicht mehr haben wollte.

Mit anderen Worten: Anstatt sich über Modalitäten und Mindesthürden ein paar Gedanken zu machen, gab's ein Referendum im Hauruck-Verfahren, mit dem Ergebnis, dass eine winzige Mehrheit von 51,89 Prozent derer, die ihr Kreuzchen machten, die Geschichte Englands nachhaltig veränderte. Dass während des Referendums das Blaue vom Himmel versprochen wurde, sei nur nebenbei erwähnt. Und dass diejenigen, deren Zukunft vor allem zur Debatte stand, nämlich dass die jüngere Generation lieber Party machte und den Senioren mit ihren Träumen von Global Britain den Vortritt überließ, soll nicht ganz vergessen werden. Auch nicht, dass Angela Merkel mit ihrer radikalen Grenzöffnung und ihrem „Wir schaffen das“ den Insulanern Angst vor einem Ende ihrer splended isolation einjagte. So half sie mit, dass die Brexit-Freunde den Sprung über die 50-Prozent-Hürde mit Latte berühren schafften.

Theresa May: daheim gnadenlos abgemeiert

Der Abschied war eingeleitet und Theresa May handelte mit Brüssel einen klugen Abschiedsvertrag aus, der England – in Erinnerung an Churchill – draußen, aber mit der EU freundschaftlich und ökonomisch gut verbunden gehalten hätte. Aber daheim auf der Insel wurde sie gnadenlos abgemeiert, weil ihre eigene Partei völlig zerstritten in der Frage war, wie hart der Brexit denn nun zu sein habe. Von der Opposition konnte sie keine Hilfe erwarten, weil Labour die Gegnerin lieber am ausgestreckten Arm verhungern ließ, als der Vernunft zum Sieg zu verhelfen.

So scheiterte die bisher klügste Brexit-Politikerin. Auftritt Boris Johnson, ein ebenso strubbeliger wie charismatischer Charakterkopf. Er redete den Nationalisten in seiner Partei das Wort und lieferte einen Vertrag, der freien Handel versprach, aber voller bürokratischer Hürden steckt, unter denen immer mehr Briten leiden. Er war Brexit-Mann aus Karriere-Gründen und vermasselte seine Karriere, weil er im Amt seine Charakter-Macken allzu fröhlich auslebte. Es folgte das kurze Zwischenspiel mit Liz Truss und jetzt versucht Rishi Sunak sein Glück.

Genauer: sein Unglück. Die Reputation der konservativen Partei ist im Keller. Ein Sieg der oppositionellen Labour-Partei in etwa zwei Jahren gilt selbst bei den Torys als ausgemachte Sache. Denn der harte Johnson-Brexit hat sich zum Gegenteil dessen entwickelt, was versprochen worden war. Statt ökonomischer Befreiung ein teurer Hindernislauf zum großen benachbarten Handelspartner Europa. Kleine Firmen stellen den Handel mit dem Kontinent ganz ein, große buttern viel Geld in die Bewältigung der Grenzbürokratie. Nach der Corona-Katastrophe erholt sich ganz Europa, nur die trotzige Insel hinkt weiter heftig hinterher. Die ganze Insel? Nein: Das kleine Nordirland blüht und gedeiht, weil es mit einem Bein in der EU steht und mit dem anderen in England. The best of both worlds, wie es ganz ähnlich Theresa May für das ganze Königreich versucht hat.

Auch handelspolitisch läuft es nicht rund

Die Jugend ist aus ihrem Morgenschlaf erwacht und kann sich plötzlich nicht mehr frei bei den kontinentalen Nachbarn bewegen. Studenten stehen draußen vor der Tür der Erasmus-Programme. Engländer, die sich auf dem Kontinent niedergelassen haben, müssen plötzlich bei der Ausländerbürokratie antichambrieren, da können sie sich noch so beschönigend Expats nennen. (Engländer sehen sich nun mal von Hause aus als Expatrioten und nicht als Ausländer). 

Die Kontrolle über die eigenen Grenzen, die man zurückerobern wollte, ist verlorengegangen. Flüchtlinge paddeln massenhaft und unter Lebensgefahr über den Kanal und sollen mühsam in Richtung Ruanda abgeschoben werden. Der Import europäischer Waren wird kaum kontrolliert, obwohl das Abkommen dies vorsieht. Dem unfreien Export auf den Kontinent steht ein fast unkontrollierter Import auf die Insel gegenüber. Wieso das denn? Weil man nicht auch diesen Teil der Wirtschaft noch durch den Brexit belasten und keine leeren Regale in den Supermärkten riskieren will. Die gibt es zwar schon, aber das hat man bisher ganz auf Covid geschoben.

Und was ist aus dem Global Britain geworden, aus der handelspolitischen Rückkehr ins alte Weltreich? Kaum etwas, und wenn, dann nichts Besseres als auch die EU geboten hätte. Die simple Weisheit beweist sich: Es ist leichter, mit dem Nachbarn Handel zu treiben als mit lieben Freunden am anderen Ende der Welt. Das gilt allerdings nur, wenn man den Nachbarn nicht vergrault und nun unnötig lange und teure Wege zurücklegen muss, um Ersatzbeziehungen zu suchen.

Machbarer Brexit in den Sand gesetzt

Und noch ein Wort zu den ungeliebten foreigners aus Polen und Rumänien, die Kartoffeln geerntet haben, Lastwagen fuhren, die Krankenhäuser am Laufen hielten und als Handwerker gesucht waren. Sie müssen jetzt draußen bleiben und werden bitter vermisst. Also gut: Man lässt sie rein, aber nur so ungern und so zögerlich, dass sie lieber das leichtere Arbeitsleben auf dem Kontinent genießen. Und daheim auf der Insel zeigt sich, dass es bei Weitem nicht ausreichend viele Engländer gibt, die sich ersatzweise auf den Feldern tummeln und sich in den Krankenhäusern nützlich machen wollen oder können.

So wurde ein Brexit, der ja machbar gewesen wäre, in den Sand gesetzt. Und dort bleibt er wohl noch für einige Zeit. Diejenigen Torys, die unter knallharter Europaphobie leiden, sind zu mächtig in ihrer Partei, als dass Rishi Sunak, eher ein Brexit-Pragmatiker, ohne sie handlungsfähig ist. Also ist er nicht handlungsfähig. Und Labour hat sich unter Keir Starmer für eine Hinhalte-Taktik entschieden: keine Opposition gegen den Brexit, aber das Versprechen, ihn irgendwie ans Laufen zu bringen.

Wie ginge das? Nun, sogar in den Reihen der Konservativen wird halblaut über ein Schweizer Modell nachgedacht. (Und sofort wieder abgewimmelt.) Dies oder die Methode Norwegen scheinen tatsächlich der Weg in eine bessere Zukunft der Insel zu sein. In diese Richtung wird sich wohl auch eine künftige Labour-Regierung bewegen. Keine Kehrtwendung, aber eine elegante Kurve. Man kann sich ja ein drittes Modell ausdenken, das weder den Namen Schweiz noch den Norwegens trägt, sondern ein eigenes Türschild bekommt. Aber es liegt auf der Hand: Die Briten sind 1973 aus wirtschaftlichen Gründen dem Europaclub beigetreten. Sie werden sich aus den gleichen wirtschaftlichen Gründen dem Kontinent wieder annähern müssen. Man muss ja nicht gleich wieder Mitglied werden. 

Ganz im Sinne Churchills, dessen Name auch in dieser verschlampten Angelegenheit für Qualität sorgt. 

Foto: Imago

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Hans Buschmann / 04.01.2023

Europa erholt sich nach der Coronakatastrophe? In welcher Welt lebt der Autor eigentlich?

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