Im Dresdner Stadtrat stimmten CDU, FDP und Freie Wähler in einer demokratischen Abstimmung für einen Antrag der AfD-Fraktion.
Es ging um die sofortige Einführung der Bezahlkarte für Asylbewerber in Dresden. Empörung überall. CDU-Chef Merz will sich den Vorgang nun genauer anschauen – etwa mit der Das-muss-rückgängig-gemacht-werden-Brille? Dass eine Abstimmung in einem Stadtrat in einer Landeshauptstadt so viel Aufmerksamkeit erregt, sagt einiges aus über den Zustand unseres Landes. Auf Antrag der AfD-Fraktion hatte der Dresdner Stadtrat in seiner 60. Sitzung am vergangenen Donnerstag (21.3.) in einer aktuellen Stunde unter dem Tagesordnungspunkt 3 „Bezahlkarte für Asylbewerber“ diskutiert. Die Sitzung dieses Tages kann man hier bei „Aufzeichungen der Livestreams“ in voller Länge (5 Stunden, 50 Minuten und 50 Sekunden) nachsehen. Die Redebeiträge beginnen ab Minute 40, als Dr. Silke Schöps von der AfD-Fraktion mit ihren Ausführungen anfängt; ihre Fraktion hatte den Antrag eingereicht. Danach meldeten sich alle anderen Fraktionen zu Wort. Dresdens Oberbürgermeister Dirk Hilbert (FDP) leitete die Sitzung, so der Eindruck des Autors, ruhig und sachlich. Bewertet werden sollen die Reden hier nicht, die kann sich jeder selbst anschauen, so wie der Autor, der selbst nicht vor Ort war. Nur so viel: Die angeschauten Redebeiträge bewegten sich – erwartungsgemäß – entlang der politisch-ideologischen Linien der jeweiligen Fraktion, aber der Ton blieb sachlich.
Im AfD-Antrag mit der Nr. A0580/24 heißt es u.a.:
„Sächsische Landkreise (wie Meißen, Bautzen, Sächsische Schweiz-Osterzgebirge, Mittelsachsen und Nordsachsen) arbeiten an der Umsetzung, ab 1. April soll dort die Bezahlkarte zum Einsatz kommen. Die Landeshauptstadt Dresden braucht mal wieder länger, weil „keine finanziellen Ressourcen für die eigenständige Entwicklung einer Bezahlkarte zur Verfügung stehen“, hieß es gegenüber der Presse. Unser Antrag, bereits Anfang November 2023 eingereicht, fordert anstatt Bargeld-Zahlungen die Leistungen für Asylbewerber mittels einer Bezahlkarte umzusetzen …“
Dann geht die Sitzung geschmeidig über zum Tagesordnungspunkt 4 „Dresden als Modellregion – Bezahlkarte statt Bürgergeld – Sachleistungsprinzip für Asylbewerber konsequent umsetzen“ und dann gleich zur Abstimmung.
„Unklarheit bei der Auszählung“?
Ab 1:37:11 wird über den Antrag der AfD-Fraktion abgestimmt. Das Ergebnis ist zu sehen bei 1:37:35: Es gab 32 Ja-Stimmen, 31 Nein-Stimmen, keine Enthaltungen. Der AfD-Antrag wurde mit den Stimmen von CDU, FDP und Freien Wählern angenommen. Fertig? Nein. Plötzlich macht sich ein gewisses Thüringen-Déjà-vu breit. Der Fraktionsvorsitzende der Linken, André Stollbach, moniert „eine Unklarheit bei der Auszählung“ und bittet um eine zweiminütige Auszeit. Um welche Unklarheit es sich handelt, führt er nicht näher aus. Oberbürgermeister Hilbert lehnt die Auszeit ab, aber lässt eine Wiederholung der Abstimmung zu.
Das neue Ergebnis (zu sehen bei 1:38:57): 33 Ja-Stimmen, 32 Nein-Stimmen, keine Enthaltungen. Wie der Autor von einem Teilnehmer der Abstimmung erfuhr, hatte die Nein-Sager-Fraktion einen Stadtrat aus den eigenen Reihen, der anscheinend auf dem Flur stand, noch schnell verbal zur Abstimmung hereinbugsiert. Die Ja-Sager-Fraktion hatte offenbar das gleiche Ass im Ärmel und konnte ebenfalls einen vorher abwesenden Stadtrat dazu holen. Das Votum ist gültig. Damit hat der Dresdner Stadtrat die Verwaltung beauftragt, die Bezahlkarte für Asylbewerber in Dresden zügig einzuführen.
Nun schaut CDU-Chef Friedrich Merz anscheinend irritiert durch das neue Loch in der auch von ihm mit errichteten Brandmauer. Die Entscheidung sei in der Sache richtig, aber das Verfahren inakzeptabel, sagte Merz am Freitag. Wie bitte? Eine demokratische Abstimmung im Dresdner Stadtrat ist inakzeptabel? Hat Merz schon mit Merkel Rücksprache gehalten? (Zwinkersmiley).
AfD als Mehrheitsbeschaffer für SPD und Linke
Wer sich angesichts der Zwischenüberschrift aus Selbstschutzgründen in eine gepflegte kognitive Dissonanz flüchten möchte, kann das jetzt gern tun. Es ist nicht das erste Mal, dass im Dresdner Stadtrat mit den Stimmen der AfD Mehrheiten zustande kamen. So stimmte die Dresdner AfD-Stadtrats-Fraktion kürzlich – auf der 58. Sitzung – einem SPD-Antrag (V2487/23) zu, gemeinsam mit den Linken. Ja, richtig gelesen. SPD, AfD und Linke beschlossen gemeinsam. Der Änderungsantrag der SPD-Fraktion verfolgte das Ziel, die Kita-Beiträge in der Elbestadt weitgehend stabil zu halten. Die Änderungen traten rückwirkend zum 1.9.2023 in Kraft, sodass zahlreiche Eltern zu viel entrichtete Beiträge sogar zurückerhielten. Zu sehen ist die 58. Sitzung ebenfalls im o.g. Link. Bei 3:32:39 läuft die Abstimmung: 35 Ja-Stimmen, 30 Nein-Stimmen, eine Enthaltung.
Auf der 54. Stadtratssitzung am 7. September 2023 verschaffte die AfD-Fraktion tatsächlich einem Ersetzungsantrag der Linken-Fraktion eine Mehrheit. Nachzusehen hier unter Tagesordnungspunkt 27 „Vorschusszahlungen beim Wohngeld – Betroffene unbürokratisch entlasten". Die AfD war also auch schon Mehrheitsbeschaffer für SPD und Linke im Dresdner Stadtrat. Hat eigentlich der Kanzler wegen schon in Dresden angerufen und sich beschwert? Oder Genosse Ramelow aus Thüringen?
Achgut hat bereits über gemeinsame Abstimmungen von CDU, Freien Wählern und AfD im Kreistag Mittelsachsen berichtet. Vielfach haben sächsische CDU-Kommunalpolitiker in der jüngsten Vergangenheit bei verschiedenen Themen gemeinsam mit der AfD gestimmt, die aber der Landesverfassungsschutz unter (Parteikollege und) CDU-Innenminister Armin Schuster als „gesichert rechtsextreme Bestrebung“ eingestuft hat.
Wie ist das jetzt zu bewerten? Gelten nun alle CDU-Kommunalpolitiker in Sachsen, die mit der AfD stimmen, automatisch als gefährlicher Unterstützer einer „rechtsextremen Bestrebung“ und werden zum Verdachtsfall? Ebenso Kommunalpolitiker der SPD, der Linken, der FDP und der Freien Wähler? Werden auch sie alle bald beobachtet oder stehen bereits kurz vor der Einstufung? Natürlich sind diese Fragen völlig absurd. So wie es absurd ist, die größte Oppositionspartei bespitzeln zu lassen, mit der man aber auf kommunaler Ebene zusammenarbeitet.
Supercup der Frauen bei rot-rot-grünen Stadträten unerwünscht
Eine kleine interessante Episode aus der 60. Sitzung des Dresdner Stadtrats gibt es noch. Auf Antrag der Freien Wähler solle sich OB Hilbert beim DFB für die Austragung des Supercups der Frauen in Dresden in der kommenden Saison starkmachen. Bereits bei der Abstimmung darüber, ob der Tagesordnungspunkt 30 vorgezogen werden sollte, blockierten Grüne, SPD und Linke mit Nein. Sehr komisch.
Der Tagesordnungspunkt wurde dann doch mit den Stimmen von CDU, FDP, Freien Wählern und AfD vorgezogen. 33 Ja, 28 Nein, 3 Enthaltungen. In der eigentlichen Abstimmung, nachzusehen am 2. Tag der 60. Stadtratssitzung (22.3.2024, zu sehen hier bei 6:49:09), stimmte die gleiche konservative Mehrheit von CDU, FDP, Freien Wählern und AfD für den Antrag. Oberbürgermeister Dirk Hilbert wird sich nun um eine Bewerbung beim DFB für die Austragung des Supercups der Frauen in der Elbestadt kümmern. Eine gute Nachricht für Dresden und den sächsischen Frauenfußball. (22.3.2024, zu sehen hier von 58:37 bis 59:00) Die rot-rot-grünen Abgeordneten enthielten sich. Ungewöhnlich, insbesondere für die Grünen, die sich sonst weltweit unermüdlich für Frauenrechte (Stichwort: feministische Außenpolitik) und Gleichberechtigung einsetzen. Stärkung des Frauenfußballs in Deutschland scheint nicht dazuzugehören.
Stephan Kloss ist freier Journalist. Er lebt bei Leipzig und studiert Psychologie