Boris Palmer – vom Werden eines Renegaten

Tübingens Bürgermeister Boris Palmer hat sich in letzter Zeit ja bei seinen Parteigenossen unbeliebt gemacht. Seine Äußerungen lassen erhebliche Zweifel an der gegenwärtigen Zuwanderungspolitik und -praxis erkennen. So warnt er in dramatischen Worten vor Kriminalität durch Migranten und fordert schon mal massenhafte DNA-Tests. Deutschland müsse sich bei diesem Thema endlich ehrlich machen. Der Staat versage auf ganzer Linie „Wie kann es sein, dass jemand alle Vorzüge des Status eines minderjährigen Flüchtlings erhält, der in Wahrheit 33 Jahre und ein verurteilter Verbrecher ist?... Die politische Linke muss daraus lernen, dass Kontrolle eben manchmal doch besser ist als Vertrauen."  Zu allem Überfluss musste Palmer dann auch noch Österreichs Kanzler Sebastian Kurz treffen, der in deutschen Medien unter schwerem Rechtspopulisten-Verdacht steht. Kurz berichtete nach dem Gespräch von weitgehend übereinstimmenden Ansichten in Sachen Zuwanderung. Der Befund, der sich daraus herleiten lässt: Boris Palmer hat offenbar keine Angst mehr vor dem Du-bist-rechts-Geschrei. Und das wird ihm reichlich eingeschenkt.

Katrin Göring-Eckardt, erste Vorsitzende der grünen Kirche, nannte seine Einstellung „idiotisch“. Derartige Zurechtweisungen aus dem Vatikan scheinen beim Delinquenten aber eher das Gegenteil zu bewirken. Der Zweifel ist eine Nagetier, und er befällt bei Palmer jetzt auch andere Bereiche des grünen Katechismus. Der Mann schaltet sich, das schlägt dem Tank den Deckel aus, auch noch in die Diesel-Diskussion ein. Und zwar folgendermaßen: „Beim Diesel ist die Wahrnehmung des Problems schon lange jenseits jedes sinnvollen Maßstabs angelangt. Nachweise für direkt tödliche Wirkungen gibt es nicht“, so Palmer. Viel sinnvoller, als den Diesel zu bekämpfen, sei die Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. „Woher kommen die? Von falscher Ernährung. Cola, und nicht Diesel ist das Problem.“

Aus eigener Erfahrung heraus, kann ich hier nur folgende Diagnose stellen: Der Mann hat nicht etwa eine Karriere als Renegat vor sich, nein, er ist schon mittendrin.  Renegaten nehmen eigentlich alle den gleichen Weg. Anfangs leise Zweifel verstärken sich mehr und mehr. Wer sich die Biografien der Achse-Autoren anschaut, wird oft ein ähnliches Muster entdecken.

Ich selbst erlebte das als Chefredakteur des deutschen Umweltmagazins „Natur“, seinerzeit das größte seiner Art in Europa. Wir beschworen Monat für Monat den dräuenden Weltuntergang, der Tod war mein ständiger Begleiter. Waldsterben und Robbensterben, Insektensterben und Vogelsterben, ja sogar ein Spermiensterben schien unmittelbar bevorzustehen. Zum Glück weigerte sich das richtige Leben hartnäckig, der redaktionellen Linie zu folgen. Zu einem besonders eklatanten Fall von Insubordination kam es während einer Redaktionskonferenz Anfang der neunziger Jahre. Es war Frühling und durch das geöffnete Fenster drang mitten in der Stadt das romantische Lied einer Mönchsgrasmücke an unsere Ohren. Was ein junger Praktikant mit der vollkommen unpassenden Bemerkung quittierte: „Da pfeift schon wieder eine eurer ausgestorbenen Vogelarten.“ Das Lachen entfaltete eine subversive Wirkung und die Mönchsgrasmücke begann ganz leise an meinen Überzeugungen zu rupfen.

Auf der roten Liste der bedrohten Chefredakteure

Natur veröffentlichte einen Report über die erstaunliche Anpassungsfähigkeit vieler Tiere, die sich mittlerweile in den Städten wie zuhause fühlen und prächtig vermehren. Als artenreichstes Biotop der Stadt Frankfurt stellte sich ausgerechnet eine Gebrauchtwagenhalde heraus, auf der sich seltene Pflanzen und Insekten angesiedelt hatten. Immer öfter standen die Recherchen dem gewohnten Lamento im Weg. Was tun? Konnte man das unseren Lesern zumuten? Wir versuchten es. Unsere frohen Botschaften über neue Erkenntnisse und Erfolge im Umweltschutz führten aber zu einer Welle von Abbestellungen. Unsere Abonnenten machten uns unmissverständlich klar, was sie wollten: Bitte keine Fakten! Alsbald geriet ich auf die rote Liste der bedrohten Chefredakteure.

Es scheint so eine Art Naturgesetz zu sein: Jede soziale Bewegung bringt mit der Zeit Zweifler hervor. Zunächst fangen sie an, manche Methoden zu kritisieren, dann setzen sie sich nach und nach von den Dogmen ab, und schließlich stellen sie sogar die Ziele in Frage. Daraufhin herrscht bei den Hütern der Lehre helle Aufregung. Die Ketzer werden verbrannt oder verbannt. Und bald darauf hat man die Hälfte ihrer Ideen übernommen. In der zweitausendjährigen Kirchengeschichte war das eher die Regel als die Ausnahme. Bereits die ersten Christen waren nichts anderes als ein Häuflein jüdischer Renegaten, und schon ganz am Anfang der biblischen Geschichte wird heftig gezweifelt. Von Eva über Abraham bis zu Christus am Kreuz hadern die Hauptpersonen mit ihrem Glauben.

Das Christentum brauchte noch etliche Jahrhunderte, bis die Einheit zerfiel, die sozialistische Weltbewegung schaffte es auf Anhieb. Ständig verwarf irgendein führender Genosse die jeweilige Parteilinie, und die Orthodoxen fühlten sich dadurch aufs Blut provoziert. Die Renegaten wurden einsperrt oder ermordet. Ihre Geister saßen jedoch immer mit am ZK-Tisch. Sechzig Jahre lang durfte im Machtbereich des Kremls – immerhin ein Drittel der Erde – kein Bild und kein Wort des Erzrenegaten Trotzki veröffentlicht werden. Auf seine Existenz konnte man nur ex negativo schließen: Aus Beschimpfungen und Anschuldigungen.

In den siebziger Jahren blühten die neuen sozialen Bewegungen auf und vollzogen die Aufstiegsgeschichte des Sozialismus im Schnelldurchlauf. Die neuen Kampffelder drehten sich um Frauen, Frieden und Umwelt (plus einiger Spezialthemen wie Schwulenemanzipation). Binnen zweier Jahrzehnte entwickelten sie sich von Randerscheinungen aus dem Studentenmilieu zum kritiklos akzeptieren gesellschaftlichen Konsens. Im heutigen Deutschland sind Anti-Feministen, Anti-Pazifisten und erklärte Gegner des Umweltschutzes rare Exzentriker. Doch auch aus diesen Bewegungen entwickelten sich Renegaten.

„Zeitgeist-Surfen“ und „Anpassung an den Mainstream“

Renegaten haben nicht den besten Ruf, besonders wenn sie sich von einer Gemeinschaft absetzen, die für viele Menschen das Gute in der Welt repräsentiert. Als ich mit Michael Miersch das Buch, „Öko-Optimismus“ veröffentlichte, begann ein Kritiker seine Rezension mit folgenden Worten: „Die intellektuelle Masche ist bekannt. Man marschiert eine Zeit lang für irgendeine gute Sache, drängelt sich unter die Mutigsten in der vordersten Reihe, macht dann bei erstbester Gelegenheit kehrt und kritisiert mit viel Getöse die Marschrichtung. Dieses profilierungssüchtige Renegatentum findet überall Nachahmer.“  Es wird den Abtrünnigen „Zeitgeist-Surfen“, „Anpassung an den Mainstream“ und „Opportunismus“ vorgeworfen.

Der Vorwurf des „Opportunismus“ verdient genauer betrachtet zu werden, denn dabei tauchen wieder Parallelen zur sowjetischen Geschichte auf. Bei den Schauprozessen gegen die Verlierer der jeweiligen Linienkämpfe wurde den Angeklagten außer diversen von der Partei verbotenen „-Ismen“ stets auch „Opportunismus“ vorgeworfen. Der Ausgeschlossene als Anpasser: Ein Bilderbuchbeispiel Freudscher Projektion.

Wer das Label Renegat angeheftet bekommt, erlebt eine Kette von Reaktionen, die nach dem immer gleichen Muster ablaufen. Phase eins: Ignorieren und totschweigen. Phase zwei: Wütende Angriffe und der Versuch, die Kritik lächerlich zu machen. Phase drei: Nach und nach werden Positionen übernommen, und von den ehemaligen Anklägern als die eigenen ausgegeben. So wie sich die Reaktionen der Gesinnungshüter ähneln, so tun dies auch die Beweggründe und Entwicklungen der Renegaten.

Viele Skeptiker sind ehemalige Umweltbewegte, die sich an irgendeinem Punkt ihres Werdegangs in ein Thema vertieft hatten. Bei einem war es Walfang, beim nächsten Gentechnik, beim dritten Müllentsorgung – ganz egal. Zu diesem Zeitpunkt ahnten sie noch nicht, dass sie an der Tapete einer Weltanschauung kratzen. Was man für eine wissenschaftlich fundierte Kritik an den Auswirkungen der Industriegesellschaft gehalten hatte, entpuppte sich nach und nach als eine Mischung aus wenigen Fakten und viel Ideologie. Und so ist das auch bei der Zuwanderung: Je näher man dem praktischen Alltag und den dort auftretenden Problemen kommt, desto heftiger wackelt das Gebäude der Willkommens-Religion.

Renegaten erleben so etwas stets gleich: Erst ist man verunsichert, dann kommt die Freude über den Erkenntnisgewinn, es folgen Zweifel am Gesamtgebäude der Weltanschauung. Spätestens dann kriegt man die soziale Ausgrenzung aus der Gemeinschaft der Guten zu spüren – man gehört von nun an nicht mehr dazu.

Der Weg von der kritiklosen Frömmigkeit über den kritischen Glauben zur Glaubenskritik kennzeichnet nicht nur Schicksale auf dem linken Spektrum, ganz rechts funktioniert das genauso. Es ist die übliche Entwicklung, die viele nehmen, die – meist in jungen Jahren –  einer politischen Ideologie oder dem religiösen Fanatismus gefolgt sind. Die tiefe Überzeugung gibt zunächst Halt, Sinn und dem Leben eine Richtung. Zweifel schleichen sich ein, man kratzt an der ideologischen Tapete und plötzlich kommt einem die ganze Wand entgegen. Doch zum ersten Kratzen braucht man Mut. Da hilft der Gedanke, du bis ja gar nicht abtrünnig, nein, du bis der wahre Kommunist, Christ, Ökologist oder was auch immer. So ähnlich wird das mit Sicherheit auch bei Boris Palmer sein.

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Leserpost

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Markus Michaelis / 13.03.2018

Die ersten Renegaten zu einer Glaubensrichtung sind naturgemäß überproportional oft extremere Charaktere, da sich mit einem ganz normalen Leben den Stress niemand antut. Das gilt auch für Revolutionäre und aktive Vorreiter. Mit dem Erreichen der Ziele (neue Richtungen; ankoppeln von Glaubensrichtungen an eine breitere Realität) sind die Renegaten, Vorreiter und Revolutionäre dann leider oft “verbraucht” und andere Leute, zum Teil alte Gegner, die Teile der Argumente übernommen haben (wie der Artikel ausführet), übernehmen das Zepter. Das ist oft gar nicht so schlecht, weil es zu einem breiteren Konsens führt, aber es ist natürlich doppelt unfair für die Renegaten: erst müssen sie als Außenseiter durchkommen und werden als solche beschimpft und dann müssen sie als zu Extreme der neuen Richtung Platz machen. Aber wie gesagt, es ist oft am Ende der bessere Weg. (Und man muss sehen, dass von den alten Gralshütern auch viele ausgemustert werden). In diesem Sinne könnte man vielleicht ein Denkmal und Gedenktag für alle tragischen Renegaten, Vorreiter und Revolutionäre einführen.

Ilse Polika / 13.03.2018

Dieser Artikel brachte mich zum Nachdenken und mir fällt auf, dass Frauen zur Zeit in Politik ( und Öffentlichkeit ) nicht gerade durch Verstand und Intelligenz von sich reden machen. Eher durch Dummheit und Unflätigkeit ( Ausnahme Sarah Wagenknecht ). Ich frage mich ...Dazu dann noch dieser unsägliche mee too Blödsinn.

Anders Dairie / 13.03.2018

Als Techniker habe ich mich daran gewöhnt (man braucht etwa 10 Jahre dazu),  dass nur sicher ist, was man mit einer Reserve zeichnen und berechnen kann. Dieses in der Politik übliche “...das hält schon stand…” ist mir ein Graus. Denn, es ist der Verzicht auf die Sicherheit der Tragfähigkeit.  Eine Unterlassung, die stets negative Folgen hat.  Wer weiss,  dass der DIESEL keine messbaren Wirkungen auf die Gesundheit hat, zieht daraus richtige Schlüsse.  Wer ausrechnen kann, dass sein DIESEL 20.000 € an Marktwert wegen “Rufmordes” verlor und ein Elekro-Hyundai 32.000 € kostet, ohne NK, ist vollbedient. Weil keine Kompensation aus der Portokasse möglich ist.  Wer dann auch noch erfährt,  dass eine Toyota-Lobbygruppe in Leipzig vor dem OverwG obsiegte, ist endgültig rand-satt.

Ulrich Berger / 13.03.2018

Au ja, mir sind in meinem Leben (insbesondere seit meiner Befreiung aus der DDR) auch schon diverse Wände entgegengefallen… Die Achse hat daran einen sehr wichtigen Anteil. Vielen Dank für diesen tollen Text!

Wilfried Cremer / 13.03.2018

Kritiklose Frömmigkeit gibt es nur an den Teichen der Feen des Sterbens.

Gabriele Kremmel / 13.03.2018

Es gibt da diesen treffenden Ausspruch: “Den Fortschritt verdanken wir den Unzufriedenen; zufriedene Menschen wünschen keine Veränderungen”. Wer auch nur ein Fünkchen Verstand besitzt und sich das Selbstdenken nicht gänzlich aus der Hand nehmen ließ, der wird bei jeder Ideologie früher oder später auf Widersprüche im Abgleich mit der Realität stoßen und dann feststellen, dass von der überzeugten Gemeinschaft eine realistische Betrachtung nicht gewünscht wird. Wer darob nicht unzufrieden wird, dem ist halt das Dazugehören wichtiger. Insofern zeichnet Renegaten wohl eher der Mut zur näheren Betrachtung des Zweifels und zum autonomen Denken aus. Ich halte das für intelligent und aufrecht. Oder wie man bei uns zu Hause sagt: Der Realität ist es egal, wer und ob überhaupt jemand an sie glaubt.

Ilse Werner / 13.03.2018

„Zweifel schleichen sich ein, man kratzt an der ideologischen Tapete und plötzlich kommt einem die ganze Wand entgegen“ - sehr treffend beschrieben! Als mir die ganze Wand entgegen kam, bin ich ausgetreten. Und schüttele heute manchmal den Kopf darüber, was ich damals so glaubte. Ein spezieller Aspekt bei den Grünen, ganz stark ausgeprägt in den ersten 20 Jahren ihres Bestehens, war ja die Überzeugung, alles in moralischer, politischer — ach, einfach in jeder — Hinsicht besser zu wissen und überhaupt besser zu sein als die anderen. Man pflegte ein ausgeprägter Feindbild gegenüber allem, was konservativ oder liberal war. Typisch für Ideologen. Hinzu kam bei vielen, wenn nicht den meisten, eine gewisse Heuchelei. Man predigte Wasser und trank Wein. Man pries Multikulti, zog aber wegen der Schulen in bessere Stadtviertel, wenn die Kinder ins Schulalter kamen. Man hielt Flugreisen für äußerst bedenklich, flog aber nach Kreta, Gomera und gerne auch weiter, wann immer es ging. Ich denke nicht, dass sich diese Haltung geändert hat. Ich glaube nicht, dass Boris Palmers Positionen bei seiner Partei Gehör finden werden.  Solange er von den Bürgern seiner Stadt gewählt wird, wird er von seiner Partei geduldet, danach wird er entweder vergrault oder er zieht selbst die Konsequenzen, nachdem ihm „die ganze Wand entgegen gekommen“ sein wird.

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