Rainer Bonhorst / 08.07.2022 / 11:00 / Foto: Government of UK / 23 / Seite ausdrucken

Boris: Ein Kämpfer wird von Bord gegangen

Boris Johnson geht, wie er gekommen ist – als Kämpfer. Er hat sich in das Amt des Premierministers hineingekämpft, indem er seine glücklose Vorgängerin Theresa May niedergekämpft hat. Jetzt geht er nach knapp drei Jahren und macht doch als „dead man walking“ noch eine Weile weiter. So lange, bis seine Partei-Freund-Feinde einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin gefunden haben. Das dauert längstens bis Oktober, wenn sich Englands Konservative zu ihrem Parteitag versammeln. Es kann aber auch ziemlich schnell gehen, falls sich die Unterhausabgeordneten seiner Partei zügig auf ein neues Gesicht einigen. 

Denn von ihnen hängt erst einmal alles ab. Boris Johnson hat bis zuletzt auf sein eindrucksvolles Mandat gepocht, das seiner Partei vor knapp drei Jahren die größte Mehrheit seit Margaret Thatcher beschert hat. Er hat das zu Recht als ein persönliches Mandat verstanden. Als ein Mandat für den Mann, der nach traumatischem Hin und Her endlich den Brexit über die Bühne gebracht hat. Aber Boris Johnson ist kein amerikanischer Präsident. Direkt gewählt werden nun mal die Abgeordneten, und erst die heben ihren Frontmann auf den Schild.

Oder sie lassen ihn fallen, was nun geschehen ist. Nicht nur haben seine Hinterbänkler ihm in Scharen das Vertrauen entzogen, auch seine Minister, wichtige und weniger wichtige, sind ihm dutzendweise davongelaufen. Johnson wurde zu einem Kaiser ohne Kleider, aber er kämpfte weiter, wollte weitermachen, um seine Agenda durchzuziehen. 

Dazu gehörte nicht nur, den Brexit, der sich zunehmend als problematisch erweist, zu retten. Johnson hatte sich auch vorgenommen, den vernachlässigten englischen Norden aufzupäppeln, nachdem es ihm mit seiner Brexit-Politik gelungen war, jede Menge Labour-Wähler zu sich herüberzuziehen. Um diese Gewinne abzusichern, wollte er die schiefe englische Landschaft, mit ihrem reichen Süden und armen Norden, wirtschaftlich begradigen. Eine geradezu sozialdemokratische Gerechtigkeitspolitik, die ihn als einen nicht gerade typischen, aber umso populäreren Konservativen auswies.

Warum liefen ihm seine Leute davon?

Ganz als Churchill wiederum gab er sich, als Russland die Ukraine überfiel und er schneller und entschlossener als andere Europäer, vor allem als die deutsche Regierung, die ukrainischen Freiheitskämpfer mit Waffen unterstützte. Diesen energischen Einsatz versteht er als historische Lehre aus der Appeasement-Politik Neville Chamberlains gegenüber Hitler. Und das machte seinen Kampf um seinen Verbleib in Downing Street durchaus glaubwürdig. Auch die Aufbauhilfe für den Norden Englands ist eine große Aufgabe, die er nun als Vermächtnis weiterzugeben versucht. Dass er einfach nur am Amt hing, wie gern gesagt wird, ist bestenfalls die halbe Wahrheit.

Warum liefen ihm trotz der Leistungen, die er durchaus vorzuweisen hat, seine Leute davon? Weil er sich zu viele persönliche Fehler geleistet hat. Downing Street wurde zu einem Ort der Skandale und Skandälchen, die Johnsons Integrität und Glaubwürdigkeit schrittweise untergruben. Und seine persönlichen Unzulänglichkeiten hatten massive politische Konsequenzen. Der Mann, der den Tories eine riesige Mehrheit geholt hat, musste erleben, wie bei Nachwahlen ein scheinbar bombensicherer Wahlkreis nach dem anderen verloren ging. Im Unterhaus begann das große Zittern: Wie sicher ist mein Sitz bei der nächsten Wahl, fragten sich viele Hinterbänkler.

Zuletzt stürzte Johnson über eine Farce: Er hatte einen Politiker, der als grabschender Wiederholungstäter bekannt war, in ein wichtiges Amt gehoben. Seine Entschuldigung, er habe von den sexuellen Übergriffen seines Protégés nichts gewusst, wurde scheibchenweise als falsch entlarvt. Leugnen und überführt werden – das waren nach und nach die Markenzeichen seiner persönlichen Amtsführung geworden. Karikaturisten stellten ihn als Pinocchio mit der langen Nase dar.

Keine Träne im Auge wie bei Theresa May 

Nur so ist es zu erklären, dass Johnson wegen eines homosexuellen Grabschers sein Amt verliert, an das er sich so kämpferisch klammerte. Und kämpferisch gab er sich auch, als er vor die in der Downing Street versammelten Medien trat, um seinen schrittweisen Rücktritt bekannt zu geben. Keine Träne im Auge wie bei Theresa May, als sie aufgeben musste. Johnson, der nun ebenso schnell gehen muss wie seinerzeit die Frau, die er weggeboxt hat, sprach stolz und selbstbewusst von seinen Leistungen, auch wenn er „traurig“ war, „das beste Amt der Welt“ verlassen zu müssen. Aber, so sagte er etwas bissig, „der Herden-Instinkt ist mächtig. Wenn die Herde ihren Weg geht, dann geht sie ihren Weg.“

Immerhin hat er ausgehandelt, den Übergang noch selbst als Premierminister managen zu dürfen, obwohl dies auch einer seiner Stellvertreter hätte machen können. Und diese Gnadenfrist bleibt umstritten. Die Opposition im Unterhaus geißelt diese Absprache als Hohn, und auch die Konservativen sind in der Sache gespalten. Es wird Versuche geben, die Zeit mit Johnson noch vor der Sommerpause zu beenden. Aber das wird nicht ganz einfach. Die Regeln sehen vor, dass Kandidaten und Aspiranten in der Fraktion so lange ausgesiebt werden, bis zwei übrigbleiben. Und die beiden stellen sich dann den Parteimitgliedern. Das kann sich hinziehen. Es sei denn, der Fraktion gelingt es, sich schnell auf einen Nachfolger zu verständigen. Dann muss das Parteivolk nicht mehr langatmig gefragt werden.

Allerdings gibt es mindestens ein Dutzend, die sich berufen fühlen. Und dann ist da noch die Frage, in welcher Richtung es weitergehen soll. Und wieder ist der Brexit die Gretchenfrage. Johnson hat für seinen harten Brexit die breite Unterstützung gehabt, die Theresa May nicht finden konnte. Sie wollte einen politischen Brexit, sich wirtschaftlich aber eng an den Binnenmarkt und die Zollunion der EU anlehnen. Die Frage ist, ob nach der Ernüchterung, die der bisherige Brexit-Verlauf bei vielen erzeugt hat, die Zeit für eine Annäherung an die EU gekommen ist. Michael Heseltine, ein konservatives Urgestein, hält die Zeit für reif. Aber er gehört der Thatcher-Ära an. Inzwischen ist auch in dieser Sache die Herde ihren Weg gegangen. 

Dennoch heißt es nicht nur: Wer folgt auf Boris Johnson? Es heißt auch: Bleibt der Brexit hart oder wird er unter neuer Führung weicher und pragmatischer? Es geht also auch um dieses zentrale Vermächtnis, mit dem sich Johnson ins Amt gekämpft hat. 

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D.Kempke / 08.07.2022

In der Sekunde wo die Tories-Abgeordneten den Brexit kippen, steht Nigel Farage wieder auf der Matte und dann war es das erst Recht mit den Hinterbänkler-Mandaten. Das wäre purer Selbstmord.

Stefan Riedel / 08.07.2022

Wenn die Briten heute noch zurück in die EU wollen (nichts anderes bedeutet “politischer Brexit”), dann haben sie es nicht besser verdient. Höchststrafe!

Lars Bäcker / 08.07.2022

Der erste nichtpolemische Artikel, den ich zu diesem Thema in den Medien gelesen habe. Danke.

Frank Box / 08.07.2022

“Ein Kämpfer wird von Bord gegangen” - Werter Herr Bonhorst, bezüglich Boris Johnson gelingt es Ihnen, einen sachlichen Artikel zu schreiben. Warum nicht auch über Trump? Charakterlich unterscheiden sich die nicht groß voneinander: Beide sind “Macher” mit - zugegeben - problematischen Umgangsformen. Beide haben es geschafft, trotz großer Widerstände von links ihr Land voranzubringen.

Johannes Schuster / 08.07.2022

Wenn Deutschland mit seinem Unternehmen “Kamikaze” und dem künstlichen Koma der deutschen Wirtschaft Europa in sein schwarzes Loch saugen wird, ist es nicht die schlechteste Sache - nicht mehr auf der Brücke eines Staatsschiffs zu stehen.  Das was da kommen wird ist ggf. größer als 1923 und dieser Sturm wird das Material der Staatsschiffe stressen bis zum Roulett auf die Substanz. Da kann man froh sein, wenn man von Bord gegangen ist, bevor die Wogen die Kotze fliegen lassen.

RMPetersen / 08.07.2022

Man kann die Geschichte auch anders erzählen, siehe zB Dushan Wegner: “Da gab es wohl ein paar Skandale rund um den Wuschelkopf Boris. Da war etwa sein »Partygate«. Johnson machte Party, während die Briten im Lockdown darbten (bbc.com, 19.5.2022). Oder: Gattin Carrie ließ deren Residenz mit goldenen Tapeten (fast 1000 Euro pro Rolle) und manch anderen Kleinodien verschönern. Alles genau so, wie man es erwarten würde von einer selbsterklärten – kein Scherz – »Klima-Aktivistin«. Es war zeitweise offenbar nicht ganz klar, wo das Geld für die Tapeten, Aufpolsterungen, Antiquitäten et cetera, herkommen würde (inews.co.uk, 28.4.2022). Spätestens aber, als die Tapeten von den Wänden rollten, und der britische Steuerzahler das fixen sollte, waren Presse und Kollegen not amused (metro.co.uk, 19.5.2021). (...) Laut theguardian.com, 7.7.2022 hat Johnson die Feierlichkeiten zur Hochzeit mit seiner Gattin Carrie – die mit den goldenen Tapeten – für eben diesen Juli geplant (ja, sie sind schon verheiratet, jetzt holen sie aber die Party nach). Die Einladungen sind bereits versandt. Man lädt nach »Chequers« ein, zum Landsitz des Premierministers (siehe Wikipedia). Des Premierministers wohlgemerkt, nicht Johnsons. Der Landsitz Chequers steht Johnson nur so lange zur Verfügung, wie er Premierminister ist, wenn ich das richtig verstehen. Neue Einladungen für eine andere Lokalität zu drucken, das wäre bestimmt arg teuer – die Johnsons haben ja ihr Geld in Goldtapeten investiert, oder so – also muss er noch etwas im Amt bleiben. Die britische Opposition aber will über einen Misstrauensantrag abstimmen lassen, wenn er nicht sofort als Premierminister zurücktritt (bbc.com, 7.7.2022).” Mit anderen Worten: Er ist über seine Frau gestolpert. Kämpfer war er, bevor er sich in sie verliebte, seither verhält er sich wie ein Trottel.

b.kotchoubey / 08.07.2022

Ich weiß nicht, ob dem Autor bekannt ist, dass “Boris” in den altslawischen Sprachen tatsächlich “Kämpfer” bedeutet.

Rolf Mainz / 08.07.2022

Erstaunlich, dass es stets die Kritiker des EU-Regimes sind, welche abdanken müssen, ob in Italien, Österreich oder nun in Grossbritannien. Oft unter dubiosen Umständen und ohne handfeste Beweise, versuchter Rufmord reicht offenbar bereits aus. Wenn Johnson besagten “Herrn” hingegen entlassen hätte, wäre ihm vielleicht “Homophobie” vorgeworfen worden. Hingegen verhalten sich EU-Mitläufer wie Merkel, Macron, Lagarde, Von der Leyen, Draghi usw. anscheinend in jeder Hinsicht vorbildlich. Bravo, deren Seligsprechung dürfte also nahen. Mal schauen, wie es den aktuell Regierenden in den bekannt EU-kritischen Visegrad-Staaten noch ergehen wird. Von Ibiza-Reisen würde ich jenen zum Beispiel abraten, von der Beschäftigung übergriffiger Homosexueller ebenfalls. Es geht schliesslich um viel Geld, um sehr viel Geld, das der EU inzwischen fehlt.

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