Jonathan Haidt, Gastautor / 08.04.2018 / 10:00 / Foto: Pixabay / 2 / Seite ausdrucken

Bodenstation gegen Weltall (4): Was tun?

Wir haben diesen Essay mit einer Frage begonnen: „Was um alles in der Welt ist in den westlichen Demokratien los?“ Die Antwort kann nicht gefunden werden, wenn wir nur die Nationalisten betrachten, ihre wirtschaftliche Situation und den Rassismus, den einige von ihnen tatsächlich vertreten. Wir müssen zunächst auf die Globalisten schauen, und wie deren wechselnde Wertmaßstäbe viele Bürger dazu veranlassen, rechtsgerichtete politische Anführer zu unterstützen. Globalisten befürworten oftmals ein hohes Maß an Einwanderung und einen Abbau der nationalen Souveränität. Sie neigen dazu, transnationale Einheiten wie die Europäische Union als den Nationalstaaten moralisch überlegen zu betrachten. Und sie diffamieren die Nationalisten und ihren Patriotismus als „schlicht und einfach Rassismus“. Dies alles betätigt den Knopf der „normativen Bedrohung“ in den Köpfen derjenigen, die empfänglich für autoritäre Politik sind. Außerdem kann es Status-quo-Konservative dazu bewegen, sich den Autoritären anzuschließen, um sich gemeinsam gegen die Globalisten und deren universalistische Projekte zu wehren.

Wenn diese Argumentation korrekt ist, dann führt sie zu einer eindeutigen politischen Empfehlung für Globalisten. Zu allererst: Denken Sie sorgfältig darüber nach, wie Ihr Land mit der Einwanderung umgeht und versuchen Sie, die Einwanderung auf eine Art und Weise zu regeln, die eine autoritäre Gegenreaktion weniger wahrscheinlich macht. Achten Sie auf drei entscheidende Variablen: den Prozentsatz der im Ausland geborenen Bürger zu jeder Zeit, den Grad der moralischen Verschiedenartigkeit jeder einwandernden Gruppe und den Grad der Integration, der von den Kindern jeder Gruppe erreicht wird.

Legale Einwanderung aus Ländern mit anderen Moralvorstellungen ist selbst bei einem niedrigen Anpassungsgrad nicht problematisch, solange die Zahl der Einwanderer gering gehalten wird. Kleine ethnische Enklaven sind keine normative Bedrohung für ein relativ großes Gemeinwesen. Moderate Einwanderungsraten von ethnischen Gruppen mit einem anderen moralischen Hintergrund sind ebenfalls in Ordnung, solange sich die Einwanderer erfolgreich in ihr Gastland integrieren. Wenn Einwanderer darauf erpicht sind, sich die Sprache, Werte und Bräuche des neuen Landes anzueignen, bestärkt dies Nationalisten in ihrem Gefühl, dass ihre Nation gut, wertvoll und attraktiv für Ausländer ist. Doch wenn ein Land hohe Einwandererzahlen aus Ländern mit anderen Moralvorstellungen hat, und dabei nicht für ein starkes, erfolgreiches Assimilationsprogramm sorgt, ist es nahezu sicher, dass es eine autoritäre Gegenreaktion geben wird, die von vielen Status-quo-Konservativen unterstützt werden wird.

Die Befindlichkeit der Bürger nicht bemerkt

Stenner beendet The Authoritarian Dynamic mit einem konkreten und konstruktiven Rat:

„Alle vorhandenen wissenschaftlichen Ergebnisse deuten darauf hin, dass Verschiedenartigkeit, das Reden über Verschiedenartigkeit und das Zelebrieren kultureller Unterschiede – alles Kennzeichen der liberalen Demokratie − der sicherste Weg sind, diejenigen zu reizen, die von Natur aus intolerant sind. Es garantiert quasi, dass sie ihre Prädisposition in intoleranten Haltungen und Verhaltensweisen zum Ausdruck bringen. Paradoxerweise können wir die Intoleranz gegenüber der Verschiedenartigkeit am besten eindämmen, indem wir unsere Gemeinsamkeiten zelebrieren (…) Letztendlich inspiriert nichts eine größere Toleranz bei intoleranten Menschen als gemeinsame und verbindende Überzeugungen, Bräuche, Rituale, Institutionen und Prozesse. Und bedauerlicherweise sind die sichersten Methoden, ihrer latente Veranlagung zu aktivieren, Maßnahmen wie „multikulturelle Erziehung“ oder die Förderung der Zweisprachigkeit und Nichtassimilation.“

Wenn Stenner Recht hat, dann hat ihre Arbeit weitreichende Konsequenzen, nicht nur für Amerika, auf das sich ihr Buch konzentriert, sondern vielleicht sogar noch mehr für Europa. Der gegenwärtige Präsident des Europarates, Donald Tusk, hielt 2016 eine Rede vor christlich-demokratischen Führungskräften. Menschen, die politisch Mitte-Rechts stehen, und als Mitglieder der gebildeten Elite in der Regel Globalisten sind. Der neuen autoritären Vorherrschaft in seinem Geburtsland Polen schmerzhaft bewusst, schalt er sich selbst und seine Kollegen dafür, dass sie ein „utopisches Europa ohne Nationalstaaten“ vorangetrieben hätten. Dies, so Tusk, habe die jüngste EU-skeptische Gegenreaktion verursacht: „Besessen von der Idee der sofortigen und vollkommenen Integration, bemerkten wir nicht, dass die einfachen Leute, die Bürger Europas, unseren Euro-Enthusiasmus nicht teilen“.

Demokratie bedeutet, dass die einfachen Leute ihre Meinung sagen dürfen. Die Mehrheit sprach in Großbritannien im Juni 2016, und in den amerikanischen Präsidentschaftswahlen im November desselben Jahres. Ähnliche Mehrheiten könnten sich schon bald in anderen Staaten Gehör verschaffen. Das Jahr 2016 wird vermutlich als großer Wendepunkt in der Entwicklung westlicher Demokratien in Erinnerung bleiben. Diejenigen, die wirklich verstehen wollen, was vor sich geht, sollten das komplexe Wechselspiel von Globalisierung, Einwanderung und wechselnden Wertvorstellungen sorgfältig analysieren.

Wenn die Geschichte, die ich hier erzählte, richtig ist, dann könnten die Globalisten ziemlich einfach auf eine Weise reden, handeln und Gesetze erlassen, die Wählerstimmen von den nationalistischen Parteien abzieht. Doch dies würde erfordern, den Wert nationaler Identitäten und moralisch geschlossener Gemeinschaften anzuerkennen.

Die große Frage, der sich westliche Nationen heute stellen müssen, ist diese: Wie ernten wir die Früchte globaler Zusammenarbeit in Handel, Kultur, Bildung, Menschenrechten und Umweltschutz, ohne die vielen lokalen, nationalen und anderen „provinziellen“ Identitäten der Welt – mit ihren jeweils eigenen Traditionen und Moralvorstellungen – zu verwässern oder zu zerstören? In was für einer Welt können Globalisten und Nationalisten gemeinsam in Frieden leben?

Dieser Essay erschien zuerst bei  "The American Interest"

 

Bodenstation gegen Weltall (1)

Bodenstation gegen Weltall (2): Streitpunkt Einwanderung

Bodenstation gegen Weltall (3): Die Grenzen der Toleranz

Jonathan Haidt ist Sozialpsychologe. Als Professor leitet er das „Business and Society“ Programm an der New York University Stern School of Business. Er ist der Autor von „The Righteous Mind: Why Good People are Divided by Politics and Religion“ („Der rechtschaffene Geist: Warum sich gute Menschen über Politik und Religion streiten“).

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David Erzberg / 08.04.2018

Danke für die interessante vierteilige Analyse. Zwei Aussagen aus Professor Haidts Artikeln können jedoch nicht unwidersprochen bleiben. 1. Man braucht keine „psychologische Veranlagung für Intoleranz“, die durch eine „normative Bedrohung“ aktiviert wird, um die aktuellen Zustände abzulehnen. Eine gehörige Portion Realismus reicht. Von Kindesbeinen an hatte ich durchgängig enge Freunde mit nicht-deutschem Hintergrund. Ich schätzte und schätze kulturelle Unterschiede, weil alle Beteiligten von diesen Unterschieden zu neuen Einsichten und zu persönlichem Wachstum inspiriert werden können. Voraussetzung hierfür ist die gegenseitige Wertschätzung. Leider habe ich persönlich genug Beispiele von ausbleibender Wertschätzung erlebt,, nicht erst seit Herbst 2015, doch seitdem verstärkt. Ohne in Einzelheiten gehen zu wollen, hasserfüllte Blicke waren noch eine der schwächeren Ausdrucksformen mangelnder Wertschätzung. Unzugängliche Menschen mit inkompatiblen, wenn überhaupt dann schwer veränderbaren Wertvorstellungen und Verhaltensweisen sind kein Gewinn für diese Gesellschaft und können hier auf Dauer auch wohl kaum glücklich werden.  Ein klarer Schnitt wäre meiner Meinung nach für alle Beteiligten auf Dauer besser als nach Dispositionen für Intoleranz zu suchen. 2. Vorannahme des heutigen Artikels scheint mir zu sein, dass „Globalisierer“ das bessere, kulturell höhere Wertesystem besitzen. Doch schließt globaler Handel und ein allseits befruchtender globaler kultureller Austausch eine Welt der klar getrennten Nationalstaaten oder anderweitig klar definierter, voneinander getrennter Staaten nicht aus. Bewohner oder gar Bürger eines solchen Staates zu werden ist ein Privileg und kein globalistisches Grundrecht. Dies erfordert die Anerkennung und Einhaltung der Werte und Gesetze dieses Staates, idealerweise auch eine Identifikation mit dem Staat und seinem Volk. „Globalisierer“ mögen hier anderer Meinung sein, aber es geht um reale Gefahren, nicht um Meinungen.

Aquiel Atreides / 08.04.2018

Der Mensch, ein komplexes Thema mit dem wir schon seit Jahrhunderten beschäftigt sind. Das geklüngel um globalisation, Integration das den Bürgern ungefragt einfach auf den Buckel geklebt wird, dieses unsägliche Migrationsexperiment unter der Käseglocke Europa wird nicht einmal auf den gemeinsamen Nenner was Europa eigentlich ausmacht gebracht. Es wäre wohl also angebracht zu definieren was Europa eigentlich ausmacht, das Europa aus säkularen, demokratischen Gesellschaften besteht die durch die Reformation des christlichen Glaubens, Trennung von Kirche und Staat, Aufklärung geprägt worden ist in der Menschenrechte und Toleranz, Demokratie, Rechte und Freiheiten, Rechtsordnung (Errungenschaften der Bürger von Frauenrechte bis Arbeitnehmer und dessen Rechte) gelten. Dass, ist Europa. Der grundlegende Fehler dieses Artikels besteht darin dass die grosse Frage nur den westlichen Nationen gestellt wird. Integrationsbemühungen die WIR an allen Ecken und enden zu hören kriegen impliziert doch eindeutig dass Integration eine Bringschuld der Mehrheitsgesellschaft, dass die Allgemeinheit es “zu schaffen hat”, dies obwohl es doch umgekehrt sein sollte. Die alles entscheidende Frage besteht allerdings darin ob die gesellschaftspolitischen Vorstellungen des Immigranten mit den europäischen, demokratischen Grundlagen und Gesetzen vereinbar ist! Die Realität (steigendes Gewaltpotential, Verwahrlosung des öffentlichen Raumes) zeigt leider dass eine grosse Mehrheit von archaisch erzogenen Migranten dies nicht will oder nicht kann und dem hiesigen, friedlichen Bürger erheblichen Schaden an Leib und Seele angetan wird! Die Politik täte gut sich an Artikel 29 AEMR / Menschenrechte / Grundpflichten, Schranken der Menschenrechte zu halten! Denn auch die hiesigen europäische Bevölkerung hat ein Anrecht auf friedsames Leben!

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