Jonathan Haidt, Gastautor / 07.04.2018 / 12:00 / Foto: Pixabay / 0 / Seite ausdrucken

Bodenstation gegen Weltall (3): Die Grenzen der Toleranz

Nationalisten in Europa sprechen sich seit Jahrzehnten gegen die Masseneinwanderung aus. Dass die gigantische Welle von Asylsuchenden im Jahr 2015 ihren Ärger und ihre Unterstützung rechtsgerichteter nationalistischer Parteien verstärkte, ist also wenig überraschend. Globalisten neigen dazu, diese Reaktionen als „schlicht und einfach Rassismus“ abzustempeln, oder als kleinkarierten, provinziellen Egoismus von Menschen, die ihre Jobs und Vorteile nicht an Ausländer verlieren wollen.

In einigen Interviewaussagen, in Gesängen bei Fußballspielen oder in anonymen Internetkommentaren kann tatsächlich Rassismus zutage treten. Doch als Erklärung ist „Rassismus“ meist ein viel zu oberflächlicher Begriff. Er unterstellt, dass es einige Menschen gibt, die einfach niemanden leiden können, der anders ist als sie selbst, etwa weil er eine dunklere Hautfarbe hat. Es gibt keinen berechtigten Grund für ihre Abneigung. Sie mögen einfach keine Andersartigkeit. Und das ist alles, was wir wissen müssen, um ihre Wut zu verstehen.

Doch das ist eben nicht alles, was wir wissen müssen. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass Rassismus oft eng mit moralischen Anliegen verflochten ist. (Ich benutze den Begriff „moralisch“ hier in rein deskriptiver Weise, um zu sagen, dass es den Betroffenen um Fragen von „Gut“ und „Böse“ geht. Ich sage nicht, dass Rassismus moralisch gut oder moralisch korrekt ist.) Menschen hassen andere Menschen nicht, nur weil diese eine dunklere Hautfarbe oder eine anders geformte Nase haben. Sie hassen Menschen, von denen sie denken, dass diese Werte vertreten, die unvereinbar mit ihren eigenen sind.

Oder Menschen, die ihrer Meinung nach ein Verhalten an den Tag legen, das sie abscheulich finden, oder von denen sie glauben, sie seien eine Bedrohung für etwas Liebgewonnenes. Diese Sorgen können irrational sein, und sie werden gerne von Demagogen aufgebauscht. Doch wenn wir den jüngsten Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen verstehen wollen, können wir uns nicht einfach mit der Erklärung „Rassismus“ zufrieden geben. Der Begriff muss stattdessen den Ausgangspunkt unserer Untersuchung bilden.

Wenn die Situation als Bedrohung empfunden wird

Ein wichtiger Wegweiser ist das 2005 erschienene Buch „The Authoritarian Dynamic“ (Die autoritäre Dynamik) der Politologin Karen Stenner. Es ist ein akademisches Werk voller Diagramme, Beschreibungen von Regressionsanalysen und Erörterungen von Gelehrtenstreitigkeiten über die Natur des Autoritarismus (deshalb bekam das Buch wohl keine breite Aufmerksamkeit). Stenners Kernaussage ist, dass Autoritarismus kein stetiges Persönlichkeitsmerkmal ist.

Er ist eher eine psychologische Veranlagung für Intoleranz, die aktiviert wird, wenn die Person eine bestimmte Form von Bedrohung wahrnimmt. Es ist, als ob manche Menschen einen Knopf auf ihrer Stirn haben. Wenn dieser Knopf gedrückt wird, konzentrieren sie sich plötzlich intensiv darauf, ihre Wir-Gruppe zu verteidigen, Ausländer und Nonkonformisten auszustoßen und abweichende Meinungen aus der Gruppe zu verbannen. Während dieser Phasen sympathisieren sie mit starken Führern und der Anwendung von Gewalt. In anderen Zeiten, in denen sie keine solche Bedrohung wahrnehmen, sind sie nicht ungewöhnlich intolerant. Der Schlüssel liegt also darin, herauszufinden, was den Knopf drückt.

Die Antwort ist laut Stenner eine „normative Bedrohung“. So bezeichnet die Politologin eine Bedrohung der moralischen Ordnung. Es ist die Wahrnehmung, dass „wir“ auseinanderfallen:

„Die Erfahrung oder Wahrnehmung von Ungehorsam gegenüber Autoritätspersonen in der Gruppe oder Autoritäten, die keinen Respekt verdienen, Abweichung von Gruppennormen oder Normen, die sich als fragwürdig erweisen, mangelnder Konsens bezüglich der Gruppenwerte und -ansichten und „exzessive“ Vielfalt und Freiheit sollten die [autoritäre] Prädisposition aktivieren und die Ausprägung dieser charakteristischen Einstellungen und Verhaltensweisen verstärken.“

Autoritäre Menschen sind also nicht egoistisch. Sie versuchen nicht, den Inhalt ihrer Geldbörsen zu schützen, und es geht ihnen auch nicht primär um ihre Familien. Sie versuchen, ihre Gruppe oder ihre Gesellschaft zu schützen. Manche autoritären Menschen betrachten ihre Rasse oder ihren Stammbaum als etwas, das geschützt werden muss. Diese Leute bilden eine zutiefst rassistische Teilmenge der rechtspopulistischen Bewegungen. Es gibt eine Randzone, die zum Teil mit Neonazis sympathisiert, Menschen, die nicht einmal Einwanderer akzeptieren, die sich ihrer Kultur völlig angepasst haben. Aber viel typischer für das moderne Europa und Amerika sind Nationalisten, die ihre Nation und ihre Kultur bewahren wollen.

Die Charakteristika des Autoritären

In ihren zahlreichen Studien nutzt Stenner verschiedene Methoden, um Autoritäre zu identifizieren. Sie ermittelt z.B., wie sehr Menschen der Aussage zustimmen, dass Kinder zuhause Werte wie „Gehorsam“ (im Gegensatz zu „Unabhängigkeit“ oder „Toleranz und Respekt für andere Menschen“) lernen sollten. In einer anderen Reihe von Experimenten bat sie Amerikaner, frei erfundene Nachrichtentexte über die Veränderung ihrer Nation vorzulesen. Bei Texten, die beschrieben, dass sich Amerikaner einander immer mehr angleichen, waren autoritäre Menschen nicht weniger rassistisch und intolerant als andere. Doch bei Nachrichtenartikeln, die berichteten, dass Amerikaner, moralisch betrachtet, verschiedener werden, wurde der Knopf gedrückt. Die „autoritäre Dynamik“ wurde aktiviert, und diese Menschen wurden rassistischer und intoleranter. So wurde z.B. „Ordnung in der Nation aufrechterhalten“ als höhere nationale Priorität eingestuft als „Schutz der Meinungsfreiheit“. Sie wurden auch kritischer gegenüber Homosexualität, Abtreibung und Scheidung.

Einer der hilfreichsten Beiträge von Stenner ist ihre Erkenntnis, dass sich autoritäre Menschen, psychologisch betrachtet, von „Status-quo-Konservativen“ unterscheiden. Letztere sind eher prototypische Konservative und misstrauen radikalem Wandel. Sie berufen sich auf ein altes und einflussreiches intellektuelles Erbe, von Edmund Burkes vorausschauenden Überlegungen und Ängsten bezüglich der frühen Jahre der Französischen Revolution bis hin zu William F. Buckleys Aussage, dass sich sein konservatives Magazin National Review „quer zur Geschichte stellen und ‚Stopp!‘ rufen“ würde.

Status-quo-Konservative sind keine natürlichen Verbündeten von autoritären Kreisen, die oftmals radikalen Wandel bevorzugen und bereit sind, große Risiken in Kauf zu nehmen, um unerprobte Strategien umzusetzen. Aus diesem Grund lehnen so viele Republikaner – und nahezu alle konservativen Intellektuellen − Donald Trump ab; angesichts seines Temperaments und seiner Werte ist er einfach kein Konservativer. Doch Status-quo-Konservative können sich mit autoritären Kreisen verbünden. Sie tun das, wenn sie wahrnehmen, dass Progressive die Traditionen und Identität ihres Landes so stark untergraben haben, dass radikale politische Schritte (wie Brexit oder ein Verbot der islamischen Einwanderung in die Vereinigten Staaten) der einzig verbleibende Weg sind, „Stopp!“ zu rufen. Ein Bruch wie der Brexit kann ihnen weniger radikal erscheinen als die Aussicht auf die Absorption in eine „immer enger werdende Union“.

Nun können wir verstehen, warum die Einwanderung – insbesondere die jüngste Welle islamischer Einwanderung aus Syrien − so viele europäische Länder spaltet. Sogar in den Vereinigten Staaten, wo die Zahl der islamischen Einwanderer niedrig ist, sorgt sie für Polarisierung. Natürlich betrachten Nationalisten Einwanderer aus islamischen Nahostländern als Terrorgefahr. Doch Stenner lädt uns ein, über die Sicherheitsbedrohung hinauszuschauen und die „normative Bedrohung“ zu betrachten. Der Islam verlangt von seinen Anhängern, auf eine Art und Weise zu leben, die ihnen die Anpassung an säkulare, egalitäre westliche Gesellschaften erschwert (das gleiche kann auch über orthodoxe Juden gesagt werden, und Stenners „autoritäre Dynamik“ kann z.T. erklären, warum wir ein Wiederaufflammen von rechtsgerichtetem Antisemitismus in den Vereinigten Staaten erleben). Moslems pflegen nicht nur andere Bräuche in ihrem Privatleben. Oftmals fordern und erhalten sie politische Zugeständnisse von ihren Gastländern, insbesondere, wenn es um Geschlechterangelegenheiten geht. Einige der heftigsten Kämpfe der letzten Jahrzehnte wurden in Frankreich und anderen europäischen Ländern um die Verschleierung von Frauen und das damit verbundene Bedürfnis nach Privatsphäre und Geschlechtertrennung geführt. So bieten z.B. einige öffentliche Schwimmbäder in Schweden Öffnungszeiten an, während denen nur Frauen schwimmen dürfen. Dies widerspricht stark verankerten schwedischen Werten von der Gleichstellung der Geschlechter und Inklusion.

Es spielt keine Rolle, ob Sie ein Status-quo-Konservativer sind, der sich Sorgen um die rasanten Veränderungen macht, oder eine autoritäre Person, die empfindlich auf die normative Bedrohung reagiert – sie werden die Flut islamischer Einwanderer in Ihre westliche Nation höchstwahrscheinlich als Bedrohung moralischer Anliegen wahrnehmen, die Ihnen wichtig sind. Doch sobald Sie dies laut äußern, werden Globalisten Sie als Rassisten und Hinterwäldler beschimpfen. Wenn die Globalisten – selbst diejenigen, die den Mitte-Rechts-Parteien in Ihrem Land angehören − auf diese Weise über Sie herfallen, wohin können Sie sich dann wenden? Zunehmend lautet die Antwort: An die rechtsextremen, nationalistischen Parteien in Europa und an Donald Trump, der eine Art feindlicher Übernahme der republikanischen Partei in Amerika organisierte.

The Authoritarian Dynamic wurde im Jahr 2005 veröffentlicht und das Wort „Moslem“ kommt darin nur sechsmal vor (im Gegensatz zu dem Wort „Schwarzer“, das 100 mal erscheint). Doch Stenners Buch kann noch heute als eine Art Rosettastein zur Entschlüsselung von rechtsgerichtetem Populismus und dessen aktueller Fokussierung auf Muslime dienen. Stenner betont, dass ihre Theorie „die Art von Intoleranz erklärt, die anscheinend ‚von nirgendwoher‘ kommt, die sowohl in toleranten als auch in intoleranten Gesellschaften auftreten kann und die plötzliche Verhaltensänderungen hervorruft, die sich nicht durch den langsamen Wandel kultureller Traditionen erklären lassen“.

Sie kontrastiert ihre Theorie mit Denkern, die von einem unaufhaltbaren Strom der Geschichte ausgehen. Einer globalen Bewegung, weg von Traditionen und hin zu „größerem Respekt vor individueller Freiheit und Verschiedenheit“ und „immer perfekteren liberalen demokratischen Bürgern“. Stenner teilt den Optimismus dieser Theoretiker bezüglich der Zukunft westlicher liberaler Demokratien nicht. Sie räumt ein, dass es einen allgemeinen Trend in Richtung Toleranz gibt, doch sie sagt auch voraus, dass genau diese Tendenz Bedingungen hervorbringt, die autoritäre Kreise aktivieren und eine mächtige Gegenreaktion in Gang setzen. Stenner bietet folgende Vorhersage:

„Die zunehmende Freizügigkeit dieser sich entwickelnden Kulturen erzeugt genau die Bedingungen, die latent autoritäre Personen zu plötzlichen und intensiven, vielleicht gewalttätigen und mit großer Wahrscheinlichkeit unerwarteten Ausdrucksformen von Intoleranz anstachelt.

Wenn wir Intoleranz als ein Produkt individueller Psychologie betrachten, und nicht als Produkt kultureller Normen, erhalten wir eine andere Vision der Zukunft und ein ganz anderes Problemverständnis. Intoleranz ist kein zufälliges Nebenprodukt einer bloßen Bindung an Traditionen. Die Form von Intoleranz, die aus einer individuellen psychologischen Veranlagung resultiert, wird leidenschaftlicher, irrationaler, weniger vorhersehbar und weniger offen für Überzeugungsarbeit sein als Intoleranz, die der unkritischen Übernahme vorherrschender kultureller Normen entspringt. Durch die kulturelle Beförderung von ‚Toleranz’ wird sie sich eher verschärfen als auflösen.“ [Hervorhebung durch den Autor]

Im Jahr 2004 sagte Stenner voraus: „Intoleranz ist kein Ding der Vergangenheit. Ihr gehört in hohem Maße die Zukunft“.

Dieser Essay erschien zuerst bei  „The American Interest"

 

Bodenstation gegen Weltall (1)

Bodenstation gegen Weltall (2): Streitpunkt Einwanderung

Bodenstation gegen Weltall (4): Was tun?

Jonathan Haidt ist Sozialpsychologe. Als Professor leitet er das „Business and Society“ Programm an der New York University Stern School of Business. Er ist der Autor von „The Righteous Mind: Why Good People are Divided by Politics and Religion“ („Der rechtschaffene Geist: Warum sich gute Menschen über Politik und Religion streiten“).

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