Jonathan Haidt, Gastautor / 06.04.2018 / 12:00 / Foto: Pixabay / 3 / Seite ausdrucken

Bodenstation gegen Weltall (2): Streitpunkt Einwanderung

Von Jonathan Haidt.

Nationalisten betrachten Patriotismus als Tugend. Sie denken, ihr Land und ihre Kultur seien einzigartig und wert, bewahrt zu werden. Hierbei handelt es sich um aufrichtige moralische Hingabe, nicht um eine Pose zur Tarnung von rassistischem Fanatismus. Manche Nationalisten denken, ihr Land sei besser als alle anderen, und manche Nationalismen sind eindeutig intolerant und unverhohlen rassistisch. Aber viele Patrioten lieben ihr Land, wie sie ihren Ehepartner lieben: Weil er oder sie zu ihnen gehört, und nicht weil sie denken, dass ihr Partner oder ihre Partnerin allen anderen überlegen ist. Nationalisten fühlen sich mit ihrem Land verbunden, und sie glauben, dass diese Verbindung eine doppelte moralische Verpflichtung beinhaltet: Bürger haben die Pflicht, ihr Land zu lieben und ihm zu dienen, und Regierungen unterliegen der Pflicht, ihr Volk zu beschützen. Regierungen sollten die Interessen ihrer Bürger über die Interessen von Bürgern anderer Länder stellen.

An dieser Vereinbarung oder diesem Sozialvertrag gibt es nichts, was zwingend rassistisch oder falsch ist. Eine gemeinsame Wahrnehmung von Identität, Normen und Geschichte zu haben, stärkt gewöhnlich das Vertrauen. Das Fehlen einer solchen gemeinsamen Wahrnehmung führt zu dem Zustand, den der Soziologe Émile Durkheim als „Anomie“, also das Fehlen von Normen, bezeichnet. Gesellschaften mit großem Vertrauen oder großem sozialen Kapital haben viele Vorteile, darunter niedrigere Kriminalitätsraten, niedrigere Transaktionskosten für Unternehmen, ein höheres Wohlstandsniveau und eine Tendenz zur Großzügigkeit.

Ein liberaler Nationalist kann vernünftigerweise argumentieren, dass die Debatte über die Einwanderungspolitik in Europa kein Fall von Moral versus Niedertracht ist, sondern ein Konflikt zweier moralischer Visionen, die – à la Isaiah Berlin − unvereinbar sind. Das Kunststück besteht darin, begründete Bedenken bezüglich der Unversehrtheit der eigenen Gemeinschaft mit der Verpflichtung, Fremde willkommen zu heißen, in Einklang zu bringen, insbesondere, wenn letztere in großer Not sind.

Wie haben also Nationalisten und Globalisten auf die europäische Einwanderungskrise reagiert? In den letzten Jahren haben wir schockierende Bilder von Flüchtlingen gesehen, die lebendig oder tot an die europäischen Strände gespült wurden, in langen Kolonnen durch Südosteuropa marschierten, über Zäune kletterten, Bahnhöfe füllten, sich in Lastwagen und Eisenbahntunnels versteckten und starben. Als europäischer Globalist waren Sie im August 2015 vermutlich begeistert, als Angela Merkel Deutschlands Offene-Türen-Politik für Flüchtlinge und Asylsuchende ankündigte. Es gibt Millionen von Menschen in Not und – laut einiger Globalisten − sind nationale Grenzen tyrannisch und unmoralisch.

Schaltzentrum der Globalisten in Brüssel

Doch die Globalisten sammeln sich in den Hauptstädten, Handelszentren und Universitätsstädten. Das sind die Orte, die am stärksten von der Werteverschiebung betroffen sind, die die WVS-Untersuchung erfasste. Wenn Sie ein europäischer Nationalist sind, haben Sie sich beim Anschauen der Abendnachrichten wohl gefühlt, als ob Sie der Ausbreitung eines Virus zusehen, der sich stetig von den Chaos-Zonen im Nahen Osten und Nordafrika nach Norden bewegt. Nur wenige rechtsgerichtete, nationalistische Staatsoberhäupter versuchten, die Ausbreitung zu stoppen, etwa Viktor Orban in Ungarn. Die globalistische Elite schien die Menschenflut mit ihren Hochrufen anzufeuern, hieß sie im Herzen Europas willkommen und forderte dann, dass jedes Land eine große Anzahl von Flüchtlingen aufnimmt und ansiedelt.

Und diese Forderungen der Globalisten mit ihrem Schaltzentrum in Brüssel kamen nach einer jahrzehntelangen Debatte, in der die Nationalisten argumentiert hatten, dass Europa bereits zu offen ist. Man habe schon so viele islamische Einwanderer aufgenommen, dass die Kulturen und Traditionen der europäischen Gesellschaften gefährdet seien. Lange bevor der Strom syrischer Asylsuchender Europa erreichte, gab es Initiativen, Minarette in der Schweiz und Burkas in Frankreich zu verbieten. Es gab Aufstände in arabischen Vierteln in Paris und Marseille und Anschläge gegen Juden und Synagogen überall in Europa. Es gab versteckte Terrorzellen, die die Anschläge am 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten planten und ausführten, Bombenattentate in Zügen und Bussen in Madrid und London und das Massaker an den Mitarbeitern von Charlie Hebdo in Paris.

Im Sommer 2015 hatte die nationalistische Seite bereits den Siedepunkt erreicht und rief „Genug ist genug, schließt den Wasserhahn“, während die Globalisten proklamierten „Lasst uns die Schleusentore öffnen, wir müssen diesen barmherzigen Schritt gehen, und wer dagegen ist, ist ein Rassist.“ Bringt diese Aussage nicht sogar ziemlich vernünftige Menschen dazu, überzukochen? Lässt sie nicht viele empfänglicher werden für Argumente, Ideen und politische Parteien, die zur intoleranten Seite des Nationalismus tendieren und die noch vor ein paar Jahren als Tabu galten?

Dieser Essay erschien zuerst bei  "The American Interest" 

 

Bodenstation gegen Weltall (1)

Bodenstation gegen Weltall (3): Die Grenzen der Toleranz

Bodenstation gegen Weltall (4): Was tun?

Jonathan Haidt ist Sozialpsychologe. Als Professor leitet er das „Business and Society“ Programm an der New York University Stern School of Business. Er ist der Autor von „The Righteous Mind: Why Good People are Divided by Politics and Religion“ („Der rechtschaffene Geist: Warum sich gute Menschen über Politik und Religion streiten“).

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Hjalmar Kreutzer / 06.04.2018

Sehr geehrter Herr Haidt, vielen Dank für Ihren Artikel. In der medial veröffentlichten Diskussion wird leider sehr viel mit Etiketten gearbeitet, wie rechts, rassistisch, nationalistisch und m.E. werden auch die Begriffe nicht sauber definiert. Patriotismus oder, verzeihen Sie das harte Wort, Vaterlandsliebe oder Heimatliebe empfinde ich als etwas anderes, als Nationalismus, letzteren eher als Überhöhung der eigenen Nation gegenber anderen. Aber wie heißt es schon in Brechts Kinderhymne: „Und nicht über und nicht unter allen Völkern woll‘n wir sein…“ und „und weil wir dies‘ Land verbessern, lieben und beschirmen wir‘s, und das Liebste mag‘s UNS scheinen, so, wie ander‘n Völkern IHR‘S“.

Engelbert Gartner / 06.04.2018

Wegen solcher Aufsätze bin ichschön vor Jahren Pate für die Achse des Guten geworden. Danke dafür !!

Dr A. Domeier / 06.04.2018

Bezüglich des Themas Einwanderung empfehle ich das Buch von Alexander Betts und Paul Collier mit dem Titel: “Gestrandet”- Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet- und was jetzt zu tun ist .” ..Bei weltweit 65 Millionen Flüchtlingen ist das Problem nur global zu lösen . Dafür gibt es beispielsweise die Organisation UNHCR . Grundsätzlich sollten Flüchtlinge heimatnah in Nachbarländern verbleiben und dort vor allem auch arbeiten können .Das könnte dort in unterentwickelten Regionen oder in Sonderwirtschaftszonen , auch zum Vorteil der Aufnahmeländer, erfolgen . Sie können dort vermutlich die eigene Sprache weiter verwenden und gingen bei Beendigung des Konfliktes eher ins eigene Land zurück .Reiche Länder sollten das finanziell unterstützen , zumal die Kosten pro Person dort ungleich niedriger sind als z.B. hier . Große Firmen sollten dort - auch global unterstützt- Betriebe eröffnen , um Arbeitsplätze zu schaffen . Die EU sollte dabei Einfuhrer-leichterungen für dort produzierte Waren gewähren . Die deutsche Flüchtlingspolitik wird von beiden Oxford-Experten als katastrophal falsch und kontraproduktiv qualifiziert . (Herz ohne Kopf) Sie schadet vor allem auch den Konfliktländern langfristig , weil bei Konfliktende auch mit geringerer Rückkehrbereitschaft zu rechnen ist .Problematisch ist vor allem , dass die meisten Aufnahmeländer Flüchtlingen aus politischen Gründen das Recht auf Arbeit verweigern. Auch wertvoll : das Buch “Exodus” von Paul Collier .

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