Von Jonathan Haidt.
Nationalisten betrachten Patriotismus als Tugend. Sie denken, ihr Land und ihre Kultur seien einzigartig und wert, bewahrt zu werden. Hierbei handelt es sich um aufrichtige moralische Hingabe, nicht um eine Pose zur Tarnung von rassistischem Fanatismus. Manche Nationalisten denken, ihr Land sei besser als alle anderen, und manche Nationalismen sind eindeutig intolerant und unverhohlen rassistisch. Aber viele Patrioten lieben ihr Land, wie sie ihren Ehepartner lieben: Weil er oder sie zu ihnen gehört, und nicht weil sie denken, dass ihr Partner oder ihre Partnerin allen anderen überlegen ist. Nationalisten fühlen sich mit ihrem Land verbunden, und sie glauben, dass diese Verbindung eine doppelte moralische Verpflichtung beinhaltet: Bürger haben die Pflicht, ihr Land zu lieben und ihm zu dienen, und Regierungen unterliegen der Pflicht, ihr Volk zu beschützen. Regierungen sollten die Interessen ihrer Bürger über die Interessen von Bürgern anderer Länder stellen.
An dieser Vereinbarung oder diesem Sozialvertrag gibt es nichts, was zwingend rassistisch oder falsch ist. Eine gemeinsame Wahrnehmung von Identität, Normen und Geschichte zu haben, stärkt gewöhnlich das Vertrauen. Das Fehlen einer solchen gemeinsamen Wahrnehmung führt zu dem Zustand, den der Soziologe Émile Durkheim als „Anomie“, also das Fehlen von Normen, bezeichnet. Gesellschaften mit großem Vertrauen oder großem sozialen Kapital haben viele Vorteile, darunter niedrigere Kriminalitätsraten, niedrigere Transaktionskosten für Unternehmen, ein höheres Wohlstandsniveau und eine Tendenz zur Großzügigkeit.
Ein liberaler Nationalist kann vernünftigerweise argumentieren, dass die Debatte über die Einwanderungspolitik in Europa kein Fall von Moral versus Niedertracht ist, sondern ein Konflikt zweier moralischer Visionen, die – à la Isaiah Berlin − unvereinbar sind. Das Kunststück besteht darin, begründete Bedenken bezüglich der Unversehrtheit der eigenen Gemeinschaft mit der Verpflichtung, Fremde willkommen zu heißen, in Einklang zu bringen, insbesondere, wenn letztere in großer Not sind.
Wie haben also Nationalisten und Globalisten auf die europäische Einwanderungskrise reagiert? In den letzten Jahren haben wir schockierende Bilder von Flüchtlingen gesehen, die lebendig oder tot an die europäischen Strände gespült wurden, in langen Kolonnen durch Südosteuropa marschierten, über Zäune kletterten, Bahnhöfe füllten, sich in Lastwagen und Eisenbahntunnels versteckten und starben. Als europäischer Globalist waren Sie im August 2015 vermutlich begeistert, als Angela Merkel Deutschlands Offene-Türen-Politik für Flüchtlinge und Asylsuchende ankündigte. Es gibt Millionen von Menschen in Not und – laut einiger Globalisten − sind nationale Grenzen tyrannisch und unmoralisch.
Schaltzentrum der Globalisten in Brüssel
Doch die Globalisten sammeln sich in den Hauptstädten, Handelszentren und Universitätsstädten. Das sind die Orte, die am stärksten von der Werteverschiebung betroffen sind, die die WVS-Untersuchung erfasste. Wenn Sie ein europäischer Nationalist sind, haben Sie sich beim Anschauen der Abendnachrichten wohl gefühlt, als ob Sie der Ausbreitung eines Virus zusehen, der sich stetig von den Chaos-Zonen im Nahen Osten und Nordafrika nach Norden bewegt. Nur wenige rechtsgerichtete, nationalistische Staatsoberhäupter versuchten, die Ausbreitung zu stoppen, etwa Viktor Orban in Ungarn. Die globalistische Elite schien die Menschenflut mit ihren Hochrufen anzufeuern, hieß sie im Herzen Europas willkommen und forderte dann, dass jedes Land eine große Anzahl von Flüchtlingen aufnimmt und ansiedelt.
Und diese Forderungen der Globalisten mit ihrem Schaltzentrum in Brüssel kamen nach einer jahrzehntelangen Debatte, in der die Nationalisten argumentiert hatten, dass Europa bereits zu offen ist. Man habe schon so viele islamische Einwanderer aufgenommen, dass die Kulturen und Traditionen der europäischen Gesellschaften gefährdet seien. Lange bevor der Strom syrischer Asylsuchender Europa erreichte, gab es Initiativen, Minarette in der Schweiz und Burkas in Frankreich zu verbieten. Es gab Aufstände in arabischen Vierteln in Paris und Marseille und Anschläge gegen Juden und Synagogen überall in Europa. Es gab versteckte Terrorzellen, die die Anschläge am 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten planten und ausführten, Bombenattentate in Zügen und Bussen in Madrid und London und das Massaker an den Mitarbeitern von Charlie Hebdo in Paris.
Im Sommer 2015 hatte die nationalistische Seite bereits den Siedepunkt erreicht und rief „Genug ist genug, schließt den Wasserhahn“, während die Globalisten proklamierten „Lasst uns die Schleusentore öffnen, wir müssen diesen barmherzigen Schritt gehen, und wer dagegen ist, ist ein Rassist.“ Bringt diese Aussage nicht sogar ziemlich vernünftige Menschen dazu, überzukochen? Lässt sie nicht viele empfänglicher werden für Argumente, Ideen und politische Parteien, die zur intoleranten Seite des Nationalismus tendieren und die noch vor ein paar Jahren als Tabu galten?
Dieser Essay erschien zuerst bei "The American Interest"
Bodenstation gegen Weltall (1)
Bodenstation gegen Weltall (3): Die Grenzen der Toleranz
Bodenstation gegen Weltall (4): Was tun?
Jonathan Haidt ist Sozialpsychologe. Als Professor leitet er das „Business and Society“ Programm an der New York University Stern School of Business. Er ist der Autor von „The Righteous Mind: Why Good People are Divided by Politics and Religion“ („Der rechtschaffene Geist: Warum sich gute Menschen über Politik und Religion streiten“).