Jonathan Haidt, Gastautor / 05.04.2018 / 15:00 / 2 / Seite ausdrucken

Bodenstation gegen Weltall (1)

Von Jonathan Haidt.

Was um alles in der Welt ist in den westlichen Demokratien los? Vom Aufstieg Donald Trumps in den Vereinigten Staaten über einen bunten Strauß rechtsgerichteter Parteien quer durch Europa bis hin zur Brexit-Abstimmung am 23. Juni 2016 haben viele Linke das Gefühl, dass sich etwas Gefährliches und Hässliches ausbreitet: rechter Populismus, den sie als eine Art politischen Virus betrachten. Etwas hat von „diesen Menschen“ Besitz ergriffen. Etwas, das sie dazu verleitet, Wahlentscheidungen zu treffen, die vermeintlich ihren eigenen Interessen widersprechen, zumindest dann, wenn ihre Anführer das Versprechen einer isolationistischen Wirtschaftspolitik wahr machen.

Die meisten Analysen, die seit der Brexit-Abstimmung veröffentlicht wurden, legen ihren Schwerpunkt auf wirtschaftliche Faktoren und auf irgendeine Version der These des „Abgehängtseins“. Sie postulieren, dass die Globalisierung überall auf der Welt den Wohlstand vermehrt habe, jedoch mit einer bedeutenden Ausnahme, nämlich der Arbeiterklasse in westlichen Gesellschaften. Diese weniger gebildeten Bürger der reichsten Länder hätten den Zugang zu gut bezahlten, jedoch relativ gering qualifizierten Jobs verloren, da diese ins Ausland verlagert oder an Immigranten übertragen wurden, die bereit waren, für weniger Lohn zu arbeiten. In Gemeinden, in denen die Löhne stagnieren oder gesunken sind, habe der ständige Anstieg von Reichtum, Mieten und Selbstbewusstsein in London und anderen Superstädten Missgunst erzeugt.

Ein kleineres Spektrum von Analysen – insbesondere in den Vereinigten Staaten − konzentriert sich auf das psychologische Merkmal des Autoritarismus, um zu erklären, warum diese populistischen Bewegungen der Einwanderung gegenüber oftmals so feindselig eingestellt sind und warum sie in der Regel einen unverhohlen rassistischen Rand haben.

Globalisierung und Autoritarismus sind beide ein wesentlicher Teil der Geschichte. Doch in diesem Beitrag werde ich sie auf neue Art und Weise zusammenfügen. Ich werde eine Geschichte mit vier Kapiteln erzählen. Dabei werde ich die Unterscheidung in „Globalisten“ und „Nationalisten“ übernehmen, die der Historiker Michael Lind und andere Kommentatoren beschrieben haben. Bei ihnen finden sich gute Beschreibungen der beiden Fraktionen, die in so vielen westlichen Nationen auftauchen. Marine Le Pen, die Vorsitzende des französischen Front National, verwies im Dezember 2015 auf dieselbe Trennlinie, als sie den Kampf in Frankreich als einen zwischen „Globalisten“ und „Patrioten“ darstellte.

Doch anstatt mich auf die Nationalisten als Menschen, deren Verhalten von Experten erklärt werden muss, zu konzentrieren, werde ich die Geschichte mit den Globalisten beginnen. Ich werde zeigen, wie Globalisierung und wachsender Wohlstand die Werte und das Verhalten der urbanen Elite verändert haben und sie dazu gebracht haben, auf eine Weise zu reden und zu handeln, die unbeabsichtigt autoritäre Tendenzen bei einem Teil der Nationalisten aktiviert. Ich werde aufzeigen, warum das Thema Einwanderung ein so zentraler Bestandteil nahezu aller rechten populistischen Bewegungen ist. Es ist nicht nur der Funke, es ist das explosive Material. Diejenigen, die die einwanderungsfeindliche Stimmung als bloßen Rassismus abtun, übersehen mehrere wichtige Aspekte der Moralpsychologie und das allgemeine menschliche Bedürfnis, in einem stabilen und einheitlichen moralischen System zu leben. Erst wenn die Moralpsychologie berücksichtigt und den Erklärungen „Wirtschaft“ und „Autoritarismus“ hinzugefügt wird, ist es möglich, Ratschläge zur Entschärfung der aktuellen, intensiven Kulturkämpfe zu geben.

Der Aufstieg der Globalisten

Wenn Nationen wohlhabender werden, ändern sich ihre Werte auf vorhersehbare Weise. Die detaillierteste Längsschnittstudie über diese Veränderungen stammt von der World Values Survey (WVS – zu deutsch: Weltweite Werte-Erhebung), die eine repräsentative Auswahl von Menschen in dutzenden von Ländern zu ihren Werten und Anschauungen befragte. Die WVS hat seit den frühen 1980er Jahren Daten in sechs „Phasen“ gesammelt und veröffentlicht. Die jüngste Umfrage umfasste 60 Länder. Fast alle dieser Länder sind nun weitaus wohlhabender als noch in den 1980er Jahren. Viele von ihnen vollzogen in der Zwischenzeit eine Wende vom Kommunismus zum Kapitalismus und von der Diktatur zur Demokratie. Wie beeinflussten diese bedeutsamen Veränderungen ihre Werte?

Jedes Land hatte einen eigenen Entwicklungsverlauf. Doch die Daten der WVS offenbaren einige allgemeine Tendenzen. Länder scheinen sich in zwei Richtungen zu bewegen, entlang von zwei Achsen: Wenn sie sich industrialisieren, bewegen sie sich im ersten Schritt weg von „traditionellen Werten“, bei denen Religion, Rituale und Achtung vor Autoritäten eine wichtige Rolle spielen. „Säkular-rationale“ Werte gewinnen an Bedeutung. Basierend auf rationalen Überlegungen werden die Gesellschaften offener für Veränderung, Fortschritt und Anstrengungen zur Schaffung bzw. Verbesserung gesellschaftlicher Strukturen („Social Engineering“). Wenn die Länder noch wohlhabender werden und immer mehr Bürger im Dienstleistungssektor arbeiten, bewegen sich die Nationen im zweiten Schritt weg von „Fortbestandswerten“, die die wirtschaftliche und physische Sicherheit in der Familie, dem Volksstamm und anderen Gruppen in den Vordergrund stellen. Sie entwickeln sich hin zu „Selbstentfaltung“ oder „emanzipatorischen Werten“, die individuelle Rechte betonen – nicht nur für einen selbst, sondern grundsätzlich für jeden. Hier folgt eine Zusammenfassung dieser Veränderungen aus der Einführung zu Christian Welzels erhellendem Buch Freedom Rising (Aufstieg der Freiheit):

„(…) Das Schwinden existentieller Belastungen (z.B. Bedrohungen und Herausforderungen für das Überleben) öffnet die Denkweise der Menschen und veranlasst sie dazu, die Freiheit der Sicherheit vorzuziehen, die Autonomie der Autorität, die Vielfalt der Einförmigkeit und die Kreativität der Disziplin. Umgekehrt verschließen dauerhafte existentielle Belastungen die Denkweise der Menschen. In diesem Fall haben sie die entgegengesetzten Prioritäten (…). Die existenziell entlastete Denkweise ist die Quelle für Toleranz und Solidarität jenseits der eigenen Wir-Gruppe; die existenziell belastete Denkweise ist die Quelle für Diskriminierung von und Feindschaft gegenüber Fremd-Gruppen.“

Demokratischer Kapitalismus – in Gesellschaften mit Rechtsstaatlichkeit und korruptionsfreien Institutionen − hat seit vielen Jahrzehnten einen fortdauernden Anstieg des Lebensstandards und existenzieller Sicherheit hervorgebracht. Wenn Gesellschaften wohlhabender und sicherer werden, werden sie im Allgemeinen auch offener und toleranter. Kombiniert mit deutlich größerem Zugang zu Lebensmitteln, Filmen und Konsumprodukten anderer Kulturen, den uns die Globalisierung und das Internet gebracht haben, führt diese Offenheit fast zwangsläufig zum Aufkommen einer kosmopolitischen Haltung, besonders in der jungen urbanen Elite. Die örtlichen Verbindungen werden schwächer, das Wort Provinzialismus erhält eine negative Wertung, und Menschen beginnen – wie Barack Obama es 2008 in Berlin ausdrückte – ihre Mit-Menschen als Mit-„Weltbürger“ zu sehen. Das Wort „Kosmopolit“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet buchstäblich „Weltbürger“. Kosmopoliten akzeptieren Vielfalt und begrüßen Einwanderung. Oftmals werden diese Themen zum Lackmustest für moralische Anständigkeit.

Im Jahr 2007 hielt zum Beispiel der frühere britische Premierminister Gordon Brown eine Rede, die die Formulierung „Britische Jobs für britische Arbeiter“ enthielt. Diese Redewendung provozierte Ärger und Verachtung bei vielen von Browns Kollegen in der Labour-Partei. In einem Essay im Magazin Prospect beschrieb David Goodhart die Atmosphäre bei einer britischen Mitte-Links-Veranstaltung einige Tage nach Browns Bemerkungen wie folgt:

„Die Menschen um mich herum versuchten, sich darin zu überbieten, wer am besten seine Empörung über Browns Formulierung zum Ausdruck bringen konnte. Triumphaler Gewinner wurde ein Besucher, der unter allgemeiner Zustimmung erklärte, dass diese Redewendung „schlicht und einfach Rassismus“ sei. Ich erinnere mich, dass ich hinterher dachte, wie seltsam diese Unterhaltung für die meisten anderen Menschen in diesem Land geklungen hätte. Gordon Browns Formulierung mag ungeschickt und zynisch gewesen sein, doch er sagte nicht „Britische Jobs für weiße britische Arbeiter“. An den meisten anderen Orten der heutigen Welt und sicherlich bis vor etwa 25 Jahren in Großbritannien selbst, wäre eine solche Aussage über Job-Präferenzen für nationale Bürger so banal gewesen, dass kein Politiker sie geäußert hätte. Doch nun hat die Sprache des liberalen Universalismus entschieden, dass diese Formulierung völlig inakzeptabel ist.“

Die Verschiebung, die Goodhart unter der linksgerichteten britischen Elite bemerkt, hängt mit der Verschiebung in Richtung „emanzipatorischer“ Werte, wie sie von Welzel beschrieben wurde, zusammen. Provinzialismus ist schlecht und Universalismus ist gut. Goodhart zitiert George Monbiot, eine führende Figur der britischen Linken:

„Internationalismus (…) sagt uns, dass jemand, der in Kinshasa lebt, keinen geringeren Wert hat als jemand, der in Kensington lebt (…) Patriotismus – wenn er denn irgendeine Bedeutung hat − sagt uns, dass wir die Interessen der Briten [denen der Kongolesen] vorziehen sollten. Wie soll man dies in Einklang bringen mit Liberalismus? Wie (…) unterscheidet sich Patriotismus von Rassismus?“

Monbiots Behauptung, dass sich Patriotismus nicht von Rassismus unterscheiden lässt, veranschaulicht den Universalismus, den Teile der globalen Linken in vielen westlichen Ländern seit Jahrzehnten vertreten. John Lennon schrieb im Jahr 1971 mit Imagine die globalistische Hymne. Nachdem er uns bat, uns vorzustellen, dass es keinen Himmel gibt und bevor er uns bat, uns vorzustellen, dass es keinen Besitz gibt, forderte uns Lennon auf:

„Stell dir vor, es gibt keine Länder; es ist gar nicht so schwer, sich das vorzustellen.
Es gibt nichts, für das man tötet oder stirbt, auch keine Religion.
Stell dir vor, alle Menschen leben ein Leben in Frieden.
Du könntest mich einen Träumer nennen, doch ich bin nicht der einzige.
Ich hoffe, eines Tages wirst du dich uns anschließen, und die Welt wird eins sein.“

Dies ist eine paradiesische Vision für multikulturelle Globalisten. Aber für Nationalisten ist es Naivität, Frevel und Verrat.

Dieser Essay erschien zuerst bei  "The American Interest" 

 

Bodenstation gegen Weltall (2): Streitpunkt Einwanderung

Bodenstation gegen Weltall (3): Die Grenzen der Toleranz

Bodenstation gegen Weltall (4): Was tun?

Jonathan Haidt ist Sozialpsychologe. Als Professor leitet er das „Business and Society“ Programm an der New York University Stern School of Business. Er ist der Autor von „The Righteous Mind: Why Good People are Divided by Politics and Religion“ („Der rechtschaffene Geist: Warum sich gute Menschen über Politik und Religion streiten“).

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Michael Jansen / 05.04.2018

Bitte nicht vergessen: John Lennon hatte mindestens hundert Millionen Dollar verdient, bewohnte im “Dakota Building” ein millionenteures Apartment und ließ sich im Rolls Royce herumkutschieren. Also sehr gute Voraussetzungen für universelle Menschenfreundlichkeit. Da war die Solidarität mit der Dritten Welt und das teilweise Vereinnahmen fremder Kulturen wohl mehr schmückendes Beiwerk in einem erfolgreichen Musikerleben. Wenn er denn konkrete Folgen für sein Leben in Form einer Bedrohung der eigenen Existenz durch weniger tolerante und dafür eher gierige Zuwanderer hätte befürchten müssen, dann hätte er die Sache mit den nicht vorhandenen Ländern und damit fehlenden Grenzen vielleicht etwas anders gesehen. Allerdings ist die Ablehnung der Religion in Form von “no religion too” sicherlich nachvollziehbar, lässt dann aber das Propagieren einer grenzenlosen Weltgemeinschaft aber auch als naive Forderung erscheinen, die außer Acht lässt, dass sich weltweit ausreichend religiöse Fanatiker (besonders von einer allseits bekannten Fraktion) finden lassen, denen seine Ideale gelinde gesagt eher suspekt wären.

Marcel Seiler / 05.04.2018

Autor Haidt schreibt, dass die Vision des multikulturellen Globalisten “für Nationalisten ... Naivität, Frevel und Verrat” sei. Sorry, aber ich halte diese Vision nicht für “Frevel und Verrat” und ich bin auch kein “Nationalist”. Diese Vision ist nur komplett unrealistisch, einfach deshalb, weil die verschiedenen Gesellschaften ganz verschiedene Regelsysteme haben. So wie man nicht gleichzeitig Handball und Fußball spielen (oder gleichzeitig Schach spielen und Boxen) kann, kann man auch die Weltgesellschaften mit ihren verschiedenen Regelsystemen nicht einfach vereinigen. Wer das tut, schafft Riesenkonflikte. Man muss nicht in “nationalistischen” Kategorien denken oder fühlen, um dem äußerst ablehnend gegenüber zu stehen.

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