Im Januar 2017 bestritt der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maiziere noch im Innenausschuss des Deutschen Bundestages, dass sich die deutschen Nachrichtendienste mit der Person Anis Amri beschäftigt hatten. Doch es wird immer offensichtlicher, dass diese und ähnliche Aussagen von hochrangingen Vertretern des deutschen Staates nicht stimmen. Nachdem das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) nach Recherchen des ARD-Magazins „Kontraste“ und des rbb einräumen musste, mehrere Quellen im Umfeld des Weihnachtsmarkt-Attentäters gehabt zu haben, rückt nun auch der Bundesnachrichtendienst (BND) ins Blickfeld.
Zuletzt hatten WDR, NDR und Süddeutsche Zeitung berichtet, der BND sei im Besitz eines bis dahin unbekannten Drohvideos von Amri. Die rund elf Sekunden lange Aufnahme soll im November 2016 entstanden sein, also nur wenige Wochen vor dem Terroranschlag auf den Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 mit zwölf Toten. Das Video soll dem BND von einem ausländischen Geheimdienst übermittelt worden sein. Es gibt allerdings keine Hinweise darauf, dass deutsche Behörden bereits vor dem Anschlag Kenntnis von der Aufnahme hatten.
Nun berichtet der rbb über Dokumente, aus denen hervorgehe, dass der BND vom marokkanischen Geheimdienst sechs Wochen vor dem Anschlag unter anderem Informationen über Amris Verbindungen zur Terror-Miliz IS erhielt. Der in Deutschland lebende Tunesier sei äußerst gefährlich und plane ein „Projekt“. Auch Amris aktuelle Handy-Nummer sei dem Auslandsnachrichtendienst übermittelt worden.
Nach Angaben des rbb fingen BND-Mitarbeiter am 8. November 2016 damit an, die Informationen der Marokkaner zu überprüfen, und konnten diese bestätigen. Eine Anfrage des rbb, an welche Stellen der BND seine Erkenntnisse zu Amris Gefährlichkeit im Herbst 2016 weitergeleitet hat, habe der Dienst unbeantwortet gelassen. An das Landeskriminalamt (LKA) Berlin wurden diese Informationen offenbar nicht weitergeleitet, denn dieses stufte Amri im November 2016 als nicht besonders gefährlich ein. Die Ermittler gingen davon aus, dass Amri ins „kleinkriminelle Drogenmilieu“ abgerutscht sei und sein Interesse an der radikalen Islamistenszene verloren hatte.
Der BND begann laut rbb indes damit, Amri aktiv zu suchen. Mithilfe der vom marokkanischen Geheimdienst mitgeteilten Nummer habe man sein Handy orten können. Trotzdem wurde der Islamist nicht festgenommen und abgeschoben. BND-Mitarbeiter hätten zwar am 28. November – also vier Wochen vor dem Anschlag – sämtliche Fakten zur Personalie Anis Amri zusammengezogen. Diese Informationen seien allerdings nicht an die mit seiner Abschiebung befassten Behörden weitergesandt worden, sondern „operative Verschlusssache“ geblieben.
Warum wurde Amri nicht aus dem Verkehr gezogen? Von Bedeutung könnten seine Kontakte nach Libyen sein, schreibt der rbb. Der Islamist habe im Herbst 2016 regelmäßig mit IS-Kadern dort gechattet: „Gibt es einen Zusammenhang zum Bombenangriff der Amerikaner auf ein IS-Terrorcamp in Libyen am 19. Januar 2017 – genau 4 Wochen nach dem Anschlag? Sollte Anis Amri nicht hinter Gitter, weil er ehrgeizige Geheimdienste ans Ziel führen sollte? Zu den Hintermännern des islamistischen Terrors auch auf europäischem Boden?“ Zu dem Schluss, dass die Toten und Verletzten des Breitscheidplatzes von den deutschen Sicherheitsbehörden hingenommen wurden, um eine „internationale Operation“ gegen Kommandostrukturen und libysche Terrorcamps des IS nicht zu gefährden, kommt auch der Publizist Stefan Schubert in seinem aktuellen Buch „Anis Amri und die Bundesregierung: Was Insider über den Terroranschlag vom Breitscheidplatz wissen“.