Die Grundgeschichte geht so: In einer Facebookgruppe meines Heimatschtetls trudeln im Tagestakt Postings ein: Lasst eure Katzen kastrieren, lasst die Hunde im Sommer nicht im Auto, legt in eure Swimmingpools Rettungshilfen für unvorsichtige Tiere, stellt für die armen Wildtiere Wasser raus, fasst keine Rehkitze an, fasst keine Jungvögel an und gebt diese ab, und am George-Floyd-Platz wurde eine Taube mit einem gebrochenen Bein gesehen, die dringend menschlicher Hilfe bedarf.
Dazwischen dann der Spendenaufruf für eine junge Frau. Milana ist 26 und würde gegen den Krebs eine sogenannte Protonen- oder Schwerionen-Therapie benötigen. Diese ist keine Leistung der gesetzlichen Krankenkasse und muss privat bezahlt werden. Etwa 20.000 Euro kostet eine derartige Behandlung. Nach drei Tagen haben sich ganze 35 Spender gefunden. Fünfunddreißig – darunter ein Großspender, der 500 € gegeben hat. Mit bisher insgesamt 2.325 Euro Gesamtvolumen. Trotz medialer Begleitung ist die Spendenaktion ein Schlag in exakt das Wasser, dem man die „Schwimmhilfen“ für leichtsinnige Tiere hinzufügen soll.
Zum Vergleich: Das örtliche Tierheim, das im Jahr 2018 noch 76.000 Euro Schulden hatte, konnte im ersten Quartal 2019 ein Guthaben von 78.000 Euro aufweisen. Tierlieb isser, der Deutsche, da gibt’s nix. Menschenfreundlich auch – wenn es nicht an den eigenen Geldbeutel, sondern den der Allgemeinheit geht.
Sind wir wirklich so abgestumpft?
Ich verstehe meine Mitmenschen nicht: Die werfen am Bahnhof Teddys für irgendwelche Clowns aus Sonstwoher und trauern um jede verdammte Flugechse, die es vom Himmel wischt, aber da, wo wirklich wenigstens regionale Solidarität gefordert wäre, fragt sich die Blase lieber nach Öffnungszeiten für ihre lächerlichen Tätowierer durch oder beschwert sich über das viel zu hohe Eintrittsentgelt für öffentliche Badeanstalten, wo sie dann mit Mäskchen durchs Nichtschwimmerbecken rudern.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Jeder kann ja spenden, wofür er will, und wer gerade aus den Corona-klammen Nichtarbeitszeit-Verhältnissen kommt, der hat vielleicht auch keine 20 Euro herumliegen und muss mit jedem Cent rechnen. Keine Frage. Nur bin ich schon der Ansicht, dass sich in einem Großraum, in dem knapp 100.000 Leute leben, doch 4.000 Leute finden lassen müssten, die lächerliche 5 Euro entbehren können. Erst recht, wenn die gleichen Leute fragen, welches Frühstückscafé derzeit angesagt ist.
Sind wir wirklich so abgestumpft? Ist uns das Leid anderer Menschen, zumal aus unserer Mitte, so scheißegal, dass wir lieber die Haare und das Bildchen auf dem Arm schön haben, als einfach einmal das Richtige zu tun? Sind wir wirklich so borniert und degeneriert, dass wir lieber einen Menschen krepieren lassen, als unseren Katzen weniger abwechslungsreiche Nahrung anzubieten?
Ich wurde auch schon von Tieren enttäuscht
„Von Menschen wurde ich schon oft enttäuscht – von Tieren nie“, hat eine Dame auf meine Vorhaltungen reagiert. Das ist Unsinn. Ich wurde sowohl von Menschen als auch von Tieren enttäuscht. Erst recht, als mir damals der dämliche Hund mit seinem Durchfall das Treppenhaus von oben bis unten vollgedrückt hat und im wahrsten Sinne des Wortes die Kacke wie in Dantes Hölle von der Decke tropfte. Ich habe ihn trotzdem nicht getötet. Auch nicht die Katzen, die sich einen Spaß daraus machen, uns gelegentlich in die Wohnung zu pissen und uns dann die Geruchsquelle suchen zu lassen. Das sind eben Tiere. Menschen haben mich auch schon enttäuscht, sogar ziemlich bitter – aber wenigstens haben sie mir nicht in die Wohnung gekackt. Danke dafür!
Ein Tier liebt dich, weil du ihm sein Essen gibst – ein Mensch, weil du so bist wie du bist. Stelle das Essengeben ein – jede Wette: Kein Hund und keine Katze werden neben einem verwesenden Leichnam verhungern. Ein Mensch hingegen ruft vielleicht den Notarzt, wenn du umkippst. Wenn er nicht selbst schwer von dir enttäuscht ist und beschließt, dass die Welt ohne dich besser dran ist.
Eine andere Frau schrieb mir: „Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere“ – und ich mutmaße, seit die Menschen sie kennen, können die das auch vollumfänglich nachvollziehen.
Wäre Milana ein Schäferhund-Rottweiler-Mix, wäre das Geld längst zusammen
Mich beschleicht in dieser Situation der gelegentliche Verdacht, dass meine Landsleute Hitler zwar den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg verzeihen könnten – aber nicht, dass er seinen Schäferhund Blondi vergiftet hat. Das arme Tier. War fast genauso treu wie Goebbels. Irgendwie sind uns völlig die Prioritäten im Umgang miteinander abhandengekommen.
Gegen Tierliebe ist an sich nichts zu sagen. Solange diese nicht die Oberhand über Menschenliebe gewinnt. Wenn ich die Wahl hätte, einen Menschen oder einen Hund aus dem Feuer zu retten – ich würde den nehmen, der sich seiner selbst bewusst ist. Und das wäre nicht der Hund. Ich gebe das offen zu.
Und da sind wir beim Kernproblem: Wäre Milana ein Schäferhund-Rottweiler-Mix, dann wäre das Geld längst zusammen. So ist sie einfach nur ein Mensch. Der die ganzen Tierliebenden enttäuschen könnte. Und ich halte schon wieder die Wette: Würde ich für einen kranken Hund sammeln und das Geld dann einem kranken Menschen geben, würde es jede Menge Anzeigen wegen Veruntreuung gegen mich hageln. Schließlich hat man ja gespendet, um den Hund zu retten. Ist dieses Volk eigentlich noch zu retten und was müsste man dafür spenden? Und wo?
(Weitere tierliebende Artikel des Autors unter www.politticker.de)
Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.