Der Musikpublizist Axel Brüggemann stänkert seit Monaten auf seinem Blog gegen den schillernden Pultmatador Teodor Currentzis. Er wirft ihm vor, sich nicht ausreichend von Putin distanziert zu haben.
Wer ist Axel Brüggemann? Gute Frage, denn nur wenige Menschen kennen Herrn Brüggemann. Um es nicht allzu spannend zu machen: Brüggemann ist Musikpublizist. Er schreibt, bloggt und moderiert über das, was man immer noch „klassische“ oder „ernste“ Musik nennt, er sagt einem, ob eine Sängerin oder ein Sänger gut oder weniger gut gesungen hat, er kennt die Namen jener, die auf dem Klassikmarkt gerade abserviert oder neu berufen wurden, er hebt oder senkt den Daumen über Dirigenten und Instrumentalisten und erklärt einem, warum es erstrebenswert ist, wenn ein Regisseur ein Stück wieder einmal so in Grund und Boden inszeniert hat, dass garantiert niemand mehr weiß, um was es geht.
Und wenn jemand es wagen sollte, mehr Werktreue einzufordern, wird er von ihm als Ewiggestriger abgekanzelt, der sich ein „Opernmuseum“ herbeisehne. Auch „konservativen Stimmen“ wie dem Autor dieser Zeilen ist von Seiten Brüggemanns diese Ehre schon zuteil geworden.
Manchmal beklagen sich Musikjournalisten wie auch Herr Brüggemann darüber, dass ihre Besprechungen von den Zeitungen immer seltener gedruckt würden und dass immer weniger Menschen klassische Konzerte und Opernvorstellungen besuchten. Da haben sie recht. Das Publikum für klassische Musik war zwar schon immer überschaubar, weil man, um die Werke der großen Komponisten verstehen und schätzen zu können, ein Mindestmaß an Bildung benötigt und sich beim Zuhören schon mal etwas anstrengen muss. Doch mit Corona ist alles viel schlimmer geworden.
Der internationale „Starzirkus“ ist in Verruf geraten
Vor allem ältere Zuhörer und Zuseher, die früher mit dem Sammelbegriff „Silbersee“ verspottet wurden, bleiben immer noch zu Hause, weil sie Angst vor Ansteckung haben. Und die Jungen wachsen nur in überschaubarer Zahl nach, allen „Education“-Programmen zum Trotz, auf die Orchesterchefs heute viel Energie verwenden. Selige Zeiten, als es noch „Kritikerpäpste“ wie Joachim Kaiser gab und jeder zweite Fernsehkrimi wie „Derrick“, „Der Alte“ oder „Tatort“ mit klassischer Musik untermalt war. Das Wissen darüber ist nicht nur bei TV-Redakteuren auf null gesunken.
An der beständig schwindenden Relevanz der Errungenschaften der abendländischen Musikkultur sind auch Leute wie Brüggemann schuld, die mit ihrer offen zur Schau getragenen Abneigung gegen alles Konservativ-Bildungsbürgerliche an dem Ast sägen, auf dem sie selbst sitzen. Sie wirken wie jene aufgeklärten französischen Adeligen in der Endphase des Ancien Regime, die das Geschäft ihrer Feinde besorgten und sich dann auf der Guillotine wiederfanden.
Um die Konzertsäle wenigstens halbwegs zu füllen, waren Klassikstars noch nie so wertvoll wie heute. Super-Diven wie Anna Netrebko, denen das Publikum zu Füßen liegt, der umtriebige chinesische Tastenlöwe Lang Lang oder der nun im Westen zur persona non grata erklärte Dirigent Valery Gergiev. Doch der internationale „Starzirkus“ ist in Verruf geraten, er gilt als in demokratischen Zeiten nicht mehr zeitgemäß und darüber hinaus als klimaschädlich. Die Abneigung gegenüber Helden aller Art und ihre Verehrung schlägt auch auf die Heroen der Podien durch. Leute vom Schlage Herbert von Karajans, den jedes Kind kannte, unabhängig davon, ob zu Hause Pop- oder Klassikschallplatten im Schrank standen, sind heute undenkbar geworden, nicht zuletzt wegen Karajans Nazi-Verstrickungen. Natürlich gibt es sie noch, die exzellenten, jungen und nicht mehr ganz jungen Dirigenten (und auch ein paar Dirigentinnen), doch viele wollen kein Aufhebens mehr um sich machen und treten Konzertreisen bescheiden per Bahn ins benachbarte Ausland an, wie der umweltbewusste Musikchef der Bayerischen Staatsoper in München, Vladimir Jurowski.
Doch wer kennt Herrn Jurowski? Und wer kennt Jakub Hrůša, den neuen, hoch gelobten Music Director des Royal Opera House Covent Garden in London, oder den ebenfalls in den Feuilletons als Shootingstar gepriesenen Klaus Mäkelä, den jungen Chef des Orchestre de Paris und künftigen Leiter des renommierten Amsterdamer Concertgebouw?
Stimmungsmache per Newsletter
So sollte man die wenigen echten Stars, die es (noch) gibt und die es auch sein wollen, hegen und pflegen, weil sie als Zugpferde unverzichtbar sind. Doch aktivistische Selbstdarsteller wie Brüggemann machen das Gegenteil. Seit Monaten stänkert der Journalist auf seinem Blog gegen den schillernden Pultmatador Teodor Currentzis, und er dürfte wohl erst innehalten, wenn er ihn von allen deutschen oder, besser noch, allen „westlichen“ Podien vergrault hat. Currentzis‘ Pech: Der gebürtige Grieche hat sich in den 1990er Jahren in Russland zum Dirigenten ausbilden lassen und zunächst dort Karriere gemacht, in Nowosibirsk, bei dessen Erwähnung nicht-russische Dirigenten zu frösteln beginnen, sowie in Perm im Ural, wo er als „Wunder von Perm“ seine internationale Karriere begann.
Currentzis und seine in Nowosibirsk unter der Marke MusicAeterna gegründeten Originalklangensembles – ein Orchester und zwei Kammerchöre – wurde zum Aushängeschild unter anderem der Salzburger Festspiele unter Intendant Markus Hinterhäuser. Vor drei Jahren wurde der griechisch-russische Künstler, der auch mit seinem punkigen Outfit Furore machte und dem es gelingt, ein jüngeres Publikum anzusprechen, außerdem zum neuen Chefdirigenten des SWR-Symphonieorchesters berufen. Die Personalie galt als kleine Sensation und Befreiungsschlag für den SWR, der gerade aus Spargründen zwei renommierte Symphonieorchester zu einem einzigen neuen Klangkörper verschmolzen und dafür viel Kritik geerntet hatte.
Dann ließ Wladimir Putin seine Soldaten in die Ukraine einmarschieren und alles änderte sich. Nach der Diva Anna Netrebko und Valery Gergiev, dem vom Münchner Stadtrat wegen dessen Nähe zu Putins Regime geschassten Pultchef der Münchner Philharmoniker, erwischte es auch Currentzis. Axel Brüggemann lancierte eine regelrechte Kampagne gegen den Dirigenten. Er warf ihm vor, sich nicht in ausreichender Weise von Putin distanziert zu haben. Außerdem würden seine Ensembles und Tourneen von einer seitens der EU sanktionierten Bank und dem russischen Energiekonzern Gazprom gesponsert. Fast in jeder Ausgabe seines Newsletters wird gegen Currentzis Stimmung gemacht.
Nie politisch geäußert
Dass der Salzburger Festspielchef Hinterhäuser unbeirrt an seinem Star festhielt, der im Sommer umjubelter Mittelpunkt des Opern- und Konzertprogramms war, ging Brüggemann mächtig gegen den Strich. Immer wieder grub er neues, angeblich belastendes Material aus und mobilisierte den Internetmob, um Currentzis und mit ihm Hinterhäuser matt zu setzen. Bislang nur mit mäßigem Erfolg. Im November wird das neue Programm für die Salzburger Festspielsaison 2023 verkündet. Man darf gespannt sein, ob Currentzis wieder dabei ist, den Hinterhäuser mehrmals demonstrativ in Schutz genommen hatte. Die russischen Musiker seien keine Soldaten. „Sie sind nicht verantwortlich für das, was passiert. Es gibt keine Kollektivschuld.“ Currentzis selbst sei das „Gegenmodell von Putin“. Der Künstler habe sich nie auch nur im Geringsten mit dem russischen Präsidenten gemein gemacht. Es gelte immer im Auge zu behalten, dass allein das Wort „Krieg“ in Russland unter Strafe stehe.
Wenn man Insider fragt, die nicht Brüggemann heißen, hört man folgende Einschätzung zum Fall Currentzis: Warum solle ein Künstler, der sich nach allen verfügbaren Quellen noch nie explizit politisch geäußert hat, nun gezwungen werden, sich „eindeutig“ zu positionieren und sich und seine Ensembles damit möglicherweise der Rache Putins und seiner Gefolgsleute aussetzen? Bei Gergiev liege der Fall anders, heißt es. Der habe nie ein Hehl daraus gemacht, dass er Putin schätze und er habe etwa die Annexion der Krim im Jahre 2014 öffentlich unterstützt. Jetzt müsse er die Suppe eben auslöffeln, die er sich selbst eingebrockt habe.
Currentzis ist weit weniger eindeutig als Gergiev. Ihn umgibt die geheimnisvolle Aura des Rebellen und Grenzgängers, der imstande ist, sein Publikum zu verzaubern und zu verführen. Unumstritten ist er nicht – die einen halten ihn für einen genialischen Klangzauberer, andere für einen Scharlatan. Interviews gibt Currentzis nur selten und sie kreisen dann um seine inneren Welten, die er dem Publikum in raunendem Tonfall präsentiert: „In die Türen eines Hauses könne viele Schlüssel passen, doch nicht jeder wird die Tür öffnen, nur einer wird das tun“, sagte er in einem reichlich verquasten SWR-Interview. „Daher brauchen wir diesen Zauberspruch in der Musik, der den Klang in die Mitte des Tempels führt, der uns dabei hilft, mit unseren Gebeten die Decke einzureißen und das Licht zu sehen.“
Ukraine-Krieg im Interview kein Thema
Hinter solch bedeutungsschwangerer Syntax mag auch Marketingkalkül stehen, doch man darf annehmen, dass Currentzis nicht nur aus Karrieregründen nach Russland gegangen ist. Sondern dass den in der Orthodoxie sozialisierten Griechen mit diesem riesigen Land und seiner von der mystischen Kirche des Ostens geprägten Kultur, der viel zitierten „russischen Seele“, in der Tat vieles verbindet, einem Land, dem er auch (oder gerade) jetzt nicht den Rücken kehren will. Muss man ihn dafür verurteilen?
Wohl auch als Reaktion auf die Kampagne von Brüggemann und dessen medialen Gefolgsleuten rief Currentzis jüngst ein neues, international besetztes Orchester namens „Utopia“ ins Leben. Als Geldgeber fungiert diesmal explizit keine russische Oligarchenbank, sondern mutmaßlich der gerade verstorbene österreichische Milliardär Dietrich Mateschitz, Gründer des Red Bull-Konzerns, dessen Sender ServusTV als einer der wenigen auch Kritikern der Coronamaßnahmen eine Plattform bietet. Dafür wird Mateschitz im Mainstream als Rechtspopulist beschimpft. ServusTV brachte zur Salzburger Festspielzeit am 4. August auch ein Exklusiv-Interview mit Currentzis, das der frühere Chef der Wiener Staatsoper, Ioan Holender, führte und in dem, nicht nur zu Brüggemanns Verdruss, der Ukraine-Krieg mit keinem Wort zur Sprache kam.
Am Tag des ersten Utopia-Konzerts in der Luxemburger Philharmonie am 4. Oktober trat der Intendant der Kölner Philharmonie vor die Presse und gab bekannt, dass ein Auftritt von Currentzis mit dem SWR-Symphonieorchester in seinem Haus abgesagt worden sei. Die Aktivitäten und Finanzierung seiner Ensembles MusicAeterna und auch Utopia ließen vermuten, dass Currentzis „dem russischen Regime sehr nahestehe“, begründet Intendant Louwrens Langevoort die Absage. Wenig später wurde bekannt, dass Currentzis‘ Vertrag als Chef des SWR-Symphonieorchesters nicht über 2024 hinaus verlängert wird. Angeblich war Currentzis’ Abschied von Stuttgart schon länger geplant, auch hört man von Unstimmigkeiten zwischen ihm und dem Orchester. Ein Schelm jedoch, wer nicht denkt, dass auch hier der Ukraine-Krieg eine Rolle spielte und wieder Axel Brüggemann seine Finger im Spiel gehabt haben könnte.
„Moscow Mule“ am Pausenbuffet
Doch die Front gegen Currentzis ist brüchig. Der Münchner Konzertagent Andreas Schessl hält an einem für Dezember anberaumten Konzert in der Isarphilharmonie mit Currentzis am Pult des SWR-Orchesters fest. Im Festspielhaus Baden-Baden sowie im Konzerthaus Dortmund darf Currentzis sogar mit seinen russischen MusicAeterna-Ensembles gastieren. Und auch in der politisch so korrekten Hauptstadt Berlin konnte das neue Utopia-Orchester einen umjubelten Auftritt absolvieren. Im Vorfeld sah sich allerdings die veranstaltende Konzertdirektion genötigt, ein Statement abzugeben. Demnach habe das Ensemble „vertraglich versichert, dass das Orchester Utopia weder durch Gelder, noch durch wirtschaftliche Ressourcen, die im Eigentum oder Besitz der in Anhang I der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 aufgeführten natürlichen und juristischen Personen, Einrichtungen und Organisationen sind, direkt oder indirekt gefördert wird“.
„Keine Proteste vor den Eingängen, keinerlei Missstimmung im Saal wegen Currentzis’ umstrittener politischer Haltung“, notierte anderntags der Berliner Tagesspiegel fast indigniert.
Das Publikum scheint sich für den Eiertanz der Intendanten und Konzertagenten unter der Fuchtel eines, so ein Insider, „leidlich bekannten“ Musikschreibers ohnehin kaum zu interessieren. Eines vor allem um das eigene Image besorgten Medienschaffenden, der sich anlässlich eines Currentzis-Konzerts im Wiener Konzerthaus, dessen Chef Matthias Naske auch auf Brüggemanns Abschussliste steht, sogar darüber echauffierte, dass am Pausenbuffet der Cocktail „Moscow Mule“ kredenzt wurde.
In Baden-Baden geschah dann das Undenkbare. Benedikt Stampa, Intendant des dortigen Festspielhauses, sagte bei der Vorstellung des Programms der neuen Saison – mit dabei wieder die mittlerweile stets als „umstritten“ titulierte Sopranistin Anna Netrebko – dass selbst für einen musikalischen Erzgauner wie Waleri Gergiev „Vergebung“ möglich sei.