Die Kälte setzt auch eine Menge Wärme frei, jedenfalls auf der sozialen Ebene. Wildfremde Menschen rutschen aufeinander zu und halten sich aneinander fest, man reicht Gefallenen die Hände und wünscht sich gegenseitig Glück beim Überqueren der Straße. Glatteis entstellt unsere normalen Bewegungen zu einem grotesken Ausdruckstanz, das Selbstverständliche wird plötzlich schwierig und gefährlich; eine der stolzesten Errungenschaften der Evolution, unser aufrechter Gang, steht auf einmal in Frage.
Das alles nur, weil die Atome langsamer schwingen. So wird Kälte physikalisch definiert: als geringeres Energieniveau. Das heißt, Kälte an sich gibt es gar nicht, sie ist bloß Mangel an Wärme. Wärme ist ein Anregungszustand; Kälte entsteht, wenn die Energie verfliegt. Man kennt das von der Liebe. Weil aber Kälte keine eigene Existenz hat, sondern nur in der Abwesenheit von etwas anderem besteht, gibt es eine Temperatur-Untergrenze, den absoluten Nullpunkt, an dem jede Molekülbewegung aufhört, während die Energie-Skala nach oben offen ist.
Für Kältegeschädigte und unter Kälte Leidende mag das ein gewisser, wenngleich nur theoretischer Trost sein: es kann nicht unendlich kalt werden. Und es wird auch nicht unendlich lange dauern. Im Gegenteil, der Kälteeinbruch geht, je mehr es Frühling wird, desto vorüber. Schließlich werden die Klimaprediger auch über dieses Jahr verkünden wollen, daß es das wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen gewesen sei. Wir haben uns an die Entkoppelung von erlebtem Wetter und errechnetem Klima ja inzwischen genauso gewöhnt wie an die Diskrepanz zwischen wissenschaftlichen Prognosen und tatsächlichen Ergebnissen in der Politik. Übrigens, hat nicht die postfaktische Nachrichtengebung recht eigentlich mit der Einführung der „gefühlten Temperatur“ in der Wettervorhersage begonnen?
Die Erleichterung übers Wetter reden zu dürfen
Wir empfinden die Kälte ja auch keineswegs so, wie sie uns von den Physikern erklärt wird, mit Atomschwingung und Wärmeentzug, sondern als etwas Wesenhaftes, das durch alle Ritzen kriecht, bis auf die Haut dringt und unser Leben bedroht oder beeinträchtigt. Bei vielen slawischen Völkern wird die Kälte durch Väterchen Frost personifiziert, und zwar schon lange vor den Kommunisten, die damit den christlichen Nikolaus ersetzen wollten. Väterchen Frost führt traditionell ein magisches Zepter bei sich, das alles, was er damit berührt, gefrieren läßt – sozusagen Blitzeis per Zauberstab.
Wahrhaftig erscheint es fast als übernatürlich, wie sich die komplette Straßenlandschaft innerhalb von Sekunden in eine riesige Eisbahn verwandelt. Jäh wird im Gleiten gesellschaftliche Gleichheit hergestellt: Luxuslimousinen sind genauso gefährdet wie klapprige Kleinwagen. Und die Menschen haben ein alle verbindendes Großthema: Nach den Schrecken der letzten Wochen ist es geradezu eine Erleichterung, übers Wetter reden zu müssen.