Cora Stephan gebührt großer Respekt. Sie hat die instinktsichere Fähigkeit, heiße Eisen früher anzupacken als andere. Bereits 2011, als der Merkel-Sog noch gar nicht seine volle Fahrt aufgenommen hatte, schrieb Cora Stephan ihr Buch „Angela Merkel. Ein Irrtum“ und lieferte damit die Vorwegnahme all der Irrungen und Wirrungen, die Deutschland seitdem ereilen. Diese Luzidität wird künftige Historiker nicht dazu verleiten können, zu behaupten, dass doch niemand vorhersehen konnte, was aus dieser Merkelschen Kanzlerschaft schließlich wurde.
Und nun packt Cora Stephan ein weiteres heißes Eisen an: das Normale. Ihr Buch „Lob des Normalen – Vom Glück des Bewährten“ ist inzwischen erschienen und setzt einen ruhigen und sachlichen Kontrapunkt zu all den Verunglimpfungen, die das Normale und das Bewährte unter fortwährenden Generalverdacht stellen.
Dass das Normale unter Beschuss steht, ist nichts Neues, und die Historikerin Cora Stephan zieht Bilanz. Schon immer war es der Dünkel – sei es der adlige, der großbürgerliche, der akademische oder der künstlerische –, der über das Normale meinte, mit von der Teetasse abgespreiztem kleinen Finger die Nase rümpfen zu dürfen. Mal musste der Pöbel, mal die Plebs als Feindbild herhalten, und spätestens, als sich im Zuge der 68er-Bewegung die Arbeiterklasse als wenig revolutionäres Element der Geschichte herausstellte, wurde aus der Plebs der Spießer. Das Klassenbewusstsein der Eliten hat sich über die Jahrhunderte geändert, die Verächtlichmachung des Normalen ist eine Konstante geblieben.
Begehrenswerter als das Stochern im „anything goes“
Die herrschende Cancel Culture der Progressiven interpretiert Cora Stephan als einen Klassenkampf des staatlich alimentierten und global denkenden Bildungsprekariats gegen die Normalen, die noch Arbeit, Eigenverantwortung und Beständigkeit als Werte empfinden. Hier spannt die Autorin den weiten Bogen vom historischen Umgang der Eliten mit dem Normalen über die Bedürfnisse, die weiterhin und ganz aktuell bei den Normalen mitschwingen und die die Reinheitsideologen einfach nicht totbekommen. Gerade in Krisenzeiten einer staatlich auferlegten Pandemie, so schreibt Cora Stephan im Vorwort, erscheint das Normale viel wünschens- und begehrenswerter als das Stochern im „anything goes“, das ja im Licht der Einschränkungen schon lange kein „anything“ mehr ist. Kollektive Unsicherheiten lassen den Rückgriff auf einen stabilen Bezugsrahmen und auf über Generationen Bewährtes sehr attraktiv erscheinen.
Natürlich ist das Normale mit vielen Widersprüchen behaftet, die Cora Stephan auch nicht verschweigt. Für jeden denkenden und erkennenden Menschen unterliegt das Normale der gleichen Dialektik, die schon Sigmund Freud in seiner Meditation über das Heimelige offenlegte. Das Heimelige ist der Bereich, in dem sich das Normale wohlfühlt. Gleichzeitig, und die deutsche Sprache hat dieses Wissen bewahrt, geht mit dem Heimeligen auch das Heimliche einher, also das, was dem Licht der Erkenntnis entzogen werden soll. Das Heimliche, das in das gleißende Scheinwerferlicht gezerrt wird, verwandelt sich nach Freud in das Unheimliche.
Diese Dialektik treibt die jakobinischen Weltverbesserer in den Wahnsinn. Denn nicht nur verweigert sich das Normale und Heimelige der Erkenntnis, es ist noch viel schlimmer: Indem die Ideologen des Guten und Wahren es in die Öffentlichkeit zerren, entdecken sie an ihm nur das Unheimliche. Diesen Fehler begeht Cora Stephan nicht. Der Respekt vor dem Normalen und den ihm zugrundeliegenden Bedürfnissen erlaubt es ihr, das Normale in den Blick zu bekommen, ohne es in das unheimliche Monster zu verwandeln. Dabei geht die Autorin unaufgeregt an das Thema und beschreibt die vielfältigen Erscheinungen des Normalen, ohne der Versuchung zu erliegen, eine einengende Definition abliefern zu wollen.
Ehe für alle – und nicht nur für den Adel
Überhaupt ist es Cora Stephan hoch anzurechnen, den Themenkomplex des Normalen nicht intellektuell unterkomplex abzuhandeln und irgendwelche Schlüsse und Handlungsanweisungen abzuleiten. Sie beschreibt, und sie beschreibt mit Empathie. So erscheint das Normale als eine sich zwar historisch wandelnde, aber eben doch als eine Grundkonstante des menschlichen Daseins. Dass es gerade in unserem Kulturkreis von allerlei sogenannten Autoritäten ständig unter Beschuss steht, ficht das Normale nicht an. Das Volk, der große Lümmel (Heinrich Heine), ist recht unempfänglich, wenn es darum geht, die vermeintlichen Segnungen, die sich die Schlauen ausdenken, auch umzusetzen.
Cora Stephans Buch strotzt vor Beispielen und Anekdoten, die überraschen und zum Mitdenken anregen. Ihre These, dass durch die im frühen Mittelalter von den europäischen Bürgen geforderte „Ehe für alle“ – und eben nicht nur für den Adel – dem Normalen, wie wir es heute kennen, erst den Weg ebnete, ist spannend und neu. Sie schreibt:
„Die Ehe setzte sich im mittelalterlichen Europa durch, nicht, weil die Kirche das wünschte, sondern erst, als weltliche Interessen sich des kirchlichen Segens versichern wollten. Adlige und bäuerliche Familien legten Wert auf eine geregelte Nachfolge, denn der Besitz sollte unvermindert vererbt und dem Zugriff räuberischer Verwandter entzogen werden. Mit der Einführung von Familiennamen und der formellen Eheschließung entstand Herkunft im Dienste der Zukunft: So sollte sichergestellt werden, dass der Erbanspruch folgender Generationen als legitim anerkannt wurde.“
Die schließlich aus der Ehe hervorgegangene Kleinfamilie mag, nach Sigmund Freud, der Hort der Neurosen sein, dennoch ist die Kleinfamilie im Gegensatz zum Stamm, zum Clan und zur Großfamilie eben auch die Bedingung der Möglichkeit für Individualität. Und der Wert des Einzelnen ist eben das Erfolgsrezept der westlichen Kultur, die erst Fortschritt und religionsfreie Wissenschaft ermöglichte.
Das gefährliche Bedürfnis, einfach in Ruhe gelassen zu werden
Obwohl das Normale landläufig mit Miefigkeit und Zwang assoziiert wird, hat es doch immer auch den Einzelnen geschützt. Denn, so Cora Stephan, die deutliche Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem ist ein Signum des aus der Kleinfamilie herausentwickelten Normalen. Wurde der Bezugsrahmen, dem sich die Menschen anzudienen hatten – sei es der der Kirche, des Fürsten oder heute des Staates –, überdehnt, so reagierte das Normale mit Abwehr und Verweigerung. Und für den Furor der Herrschenden gibt es nichts Gefährlicheres als das Bedürfnis, einfach in Ruhe gelassen werden zu wollen. In dieser Ruhe konnte der Einzelne jedoch gedeihen und seine Eigenarten ausbilden.
Als dann 1968 der Schlachtruf erscholl, dass das Private politisch sei, ahnte die Autorin schon, dass dieses Politische in seiner Konsequenz zu einer Abschaffung des Privaten führen würde. Und genau so ist es gekommen. Der Staat in seiner grünsozialistisch-merkelschen Ausprägung versucht, das Private immer rigoroser zu vergesellschaften. Die feuchten Phantasien der Klima- und Pandemie-Apokalyptiker erscheinen vor diesem Hintergrund wie die letzte Begründung, um das Private restlos abschaffen zu können. Dass damit auch der Einzelne vergesellschaftet wird und sich unsere Kultur genau der Stärke beraubt, die sie über Jahrhunderte geformt hat, empfinden immer mehr Menschen als beunruhigend. Daher rät Cora Stephan dringend: „Bleiben Sie, wie Sie sind: normal.“
Denn das Normale verteidigt seinen überschaubaren Bezugsrahmen, in dem es Verantwortung zu übernehmen bereit ist, und ist eben nicht „nach allen Seiten offen“ (was bekanntlich nach Heiner Geißler eine Definition für „nicht ganz dicht“ ist). Es ist weniger ein Gegenentwurf zur Globalisierung, als vielmehr ein Schutz, um die Unbill der Globalisierung überhaupt aushalten zu können. Den Apologeten der Grenzenlosigkeit und den Gewinnern der Globalisierung muss das Normale trotzdem als verachtenswert erscheinen, weil es sich eben nicht mit Hurra selbst abschaffen mag.
Dass Cora Stephan das Normale in seinen Ausprägungen sachlich und ruhig verständlich macht, ist die Medizin, die so viele hysterische öffentliche Debatten dringend nötig hätten. „Lob des Normalen“ ist, um es kurz zu machen, ein wichtiges Buch. Im Gegensatz zu „Angela Merkel, ein Irrtum“ dürfte es nicht zu früh, sondern gerade zum richtigen Zeitpunkt erschienen sein.
„Lob des Normalen: Vom Glück des Bewährten“ von Dr. Cora Stephan, 2021, München: FinanzBuch Verlag. Hier bestellbar.