Von Friedrich Kurt Larmann.
Ob Fürst Bismarck mit dem ihm zugeschrieben Bonmot, Gesetze seien wie Würste, man solle besser nicht dabei sein, wenn sie gemacht werden, die Wirklichkeit richtig beschrieben hat, kann ich nur eingeschränkt beurteilen. Mit Wurst kenne ich mich nämlich nicht so gut aus. Mit Gesetzen sollte ich als Jurist dagegen klarkommen.
Das Regelwerk, das Bismarck im Blick zu haben schien, könnte das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 gewesen sein. Die Entwurfsbegründung (BT-Drucksache 19/28444) ist erschreckend. Ich nehme hier nur die Ausführungen zur Ausgangsbeschränkung (§ 28b Abs. 1 Nr. 2 IfSG) in den Blick.
Bei einer so grundrechtsintensiven Maßnahme, die alle Einwohner eines Kreises oder einer kreisfreien Stadt ab einem Inzidenzwert von 100:100.000 betrifft, ohne dass sie die Möglichkeit einer fachgerichtlichen Kontrolle haben – ein Bundesgesetz kann nur vom Bundesverfassungsgericht gestoppt werden –, wäre eine entsprechend profunde Begründung zu erwarten gewesen. Aber weit gefehlt!
Die Entwurfsbegründung beschreibt die Zielsetzung folgendermaßen (S. 12):
„Die Ausgangsbeschränkung soll der Kontrolle und Beförderung der Einhaltung der allgemeinen Kontaktregeln dienen und die Entstehung unzulässiger Kontakte und neuer Infektionsketten verhindern. Hierdurch sollen die Mobilität in den Abendstunden (siehe https://www.covid-19-mobility.org/reports/mobility-curfew/) und bisher stattfindende private Zusammenkünfte im öffentlichen wie auch privaten Raum, denen ein erhebliches Infektionsrisiko zukommt, begrenzt werden. Erfahrungen aus anderen Staaten wie auch wissenschaftliche Studien (siehe etwa Sharma et al., Understanding the effectiveness of government interventions in Europe’s second wave of COVID-19, abrufbar unter: https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.03.25.21254330v1.full.pdf; Ghasemi et al., Impact of a nighttime curfew on overnight mobility, abrufbar unter: https://www.medrxiv.org/con-tent/10.1101/2021.04.04.21254906v1; Di Domenico et al., Impact of January 2021 curfew measures on SARS-CoV-2 B.1.1.7 circulation in France, abrufbar unter https://www.medrxiv.org/content/10.1101/ 2021.02.14.21251708v2.full) stützen diesen Befund. Insbesondere bei privaten Zusammenkünften dürften die durchgehende Einhaltung von Abstands- und Lüftungsregelungen sowie das Tragen von Masken häufiger in Vergessenheit geraten, als dies bei anderen, z. B. beruflichen oder geschäftlichen, Kontakten der Fall ist. Ferner kann durch die Ausgangsbeschränkung auch eine gewisse Zahl unbeabsichtigter Kontakte zwischen Menschen, etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Fluren eines Mehrfamilienhauses, verhindert werden. Angesichts der Intensität der Maßnahme ist sie tragfähig, weil die Einhaltung der allgemeinen Kontaktregeln gerade zur Abend- und Nachtzeit auf andere Art und Weise – nach einer etwaigen Intensivierung der behördlichen Kontrollbemühungen – nicht sichergestellt werden kann und dies die Effektivität der Kontaktregeln insgesamt in einem für die Zielerreichung relevanten Maß beeinträchtigt. So zeigen die seit dem Frühjahr 2020 in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Staaten und weltweit gesammelten Erfahrungen, dass insbesondere umfassende Maßnahmen zur Beschränkung von Sozialkontakten wie die hier auf Reduzierung von Sozialkontakten abzielende Ausgangsbeschränkung in der Nachtzeit zur Eindämmung des Pandemiegeschehens wesentlich beitragen und das Infektionsgeschehen reduzieren.“
Gesetzesbegründung im Panikmodus
Schon die ersten beiden Sätze lassen den Leser leicht verwirrt zurück. Der erste Satz beschreibt das Ziel der Ausgangsbeschränkung dahingehend, dass die Einhaltung der allgemeinen Kontaktregeln kontrolliert und befördert werden soll. Das ist bei genauerem Hinsehen Mumpitz. Wenn es nicht gestattet ist, das Haus zu verlassen, kann es gar nicht zu einem Kontakt kommen, der irgendwelchen Regeln unterworfen sein könnte. Der zweite Satz ist nicht viel besser. „Hierdurch“ – also durch die Kontrolle und Beförderung der allgemeinen Kontaktregeln – sollen die Mobilität in den Abendstunden und private Zusammenkünfte begrenzt werden. Irgendwie passt auch das nicht recht. Durch die Kontrolle der Kontaktregeln soll die Mobilität in den Abendstunden begrenzt werden? Wie das? So zeigt sich bereits einleitend, dass die Gesetzesbegründung im Panikmodus zusammengezimmert worden sein muss. Was der Gesetzgeber eigentlich meinte, ist eigentlich nur, dass durch die Vergatterung in Gestalt der Ausgangsbeschränkung private Kontakte begrenzt werden.
Schauen wir uns, nachdem sich die Verwirrung über diesen wenig gelungenen Einstieg gelegt hat, die weitere Argumentation an:
In der Entwurfsbegründung wird auf die Erfahrungen aus anderen Ländern verwiesen. Welche gemeint sind und welche Erfahrungen man dort konkret hat sammeln können, bleibt offen. Zur Untermauerung dieses also eigentlich gar nicht erhobenen Befundes wird sodann auf drei Studien hingewiesen. Das deutet auf eine wissenschaftliche Grundlegung hin. Doch die Basis ist nicht so solide, wie es scheint. Es handelt sich in allen drei Fällen um Pre-prints, die nicht peer-reviewed sind, denen mithin das Gütesiegel der Begutachtung der Studie durch (andere) Experten fehlt.
Und auch inhaltlich gibt es Anlass zu zweifeln. Bei Sharma et al. spielen Ausgangsbeschränkungen eine untergeordnete Rolle. Ihnen wird ein maßvoller Effekt zugeschrieben, wobei die Autoren aber – naheliegend – ein Zusammenspiel mit anderen Maßnahmen für wahrscheinlich erachten. Die Daten beziehen sich zudem auf den kürzesten Zeitraum aller untersuchten Maßnahmen. Auch bei di Domenico et al. ist es nicht wirklich möglich, die Relevanz der Ausgangsbeschränkung von anderen Maßnahmen zu trennen. Die Studie von Ghasemi et al. schließlich gibt Auskunft über die Auswirkungen einer Ausgangsbeschränkung auf die nächtliche Mobilität. Was daraus allerdings für die Entwicklung der Infektionszahlen folgt, bleibt der Phantasie des Lesers überlassen. Dass „insbesondere“ bei privaten Zusammenkünften die durchgehende Einhaltung von Abstands- und Lüftungsregelungen sowie das Tragen von Masken häufiger in Vergessenheit geraten als bei beruflichen oder geschäftlichen Kontakten, ist eine Einschätzung, die nun wirklich aus keiner der drei Studien hergeleitet werden kann, so dass es sich um nichts anderes als eine Unterstellung handelt.
Belege bleibt der Gesetzgeber schuldig
Zum schludrigen Umgang mit Studien gehört übrigens auch, dass solche gar nicht erwähnt sind, die sich gegen Ausgangsbeschränkungen aussprechen. So hat „Die Zeit“ online am 9. April 2021 von einer Studie der französischen Wissenschaftlerin Chloé Dimeglio berichtet, die für die französische Stadt Toulouse zu dem Ergebnis gekommen war, dass die dort verhängte Ausgangssperre nicht funktioniert hat, weil die Menschen innerhalb kürzerer Zeit dasselbe gemacht haben – etwa eingekauft haben – und dies zu Ansammlungen geführt hat.
Die Begründung ist nicht tragfähiger, soweit die Kontaktbeschränkungen losgelöst von Erfahrungen aus anderen Ländern und von Studien thematisiert werden. Schon im Ansatz muss missfallen, dass sich der Gesetzgeber, auch wenn das durch das „in Vergessenheit geraten“ – nämlich das Einhalten der Abstandsregeln und das Tragen von Masken – etwas verbrämt wird, den Bürger offensichtlich pauschal als rechtsuntreu vorstellt. Denn Kontakte sind bereits durch § 28b Abs. 1 Nr. 1 IfSG erheblich eingeschränkt, das Abstandsgebot gilt seit Beginn der Krise flächendeckend, und schon seit längerem gilt das auch für das Tragen von Masken. Belege dafür, dass es gleichwohl zusätzlich einer Ausgangsbeschränkung bedarf, bleibt der Gesetzgeber schuldig.
Die Entwurfsbegründung beschränkt sich zudem auf die Aussage, die Einhaltung der allgemeinen Kontaktregeln könne gerade zur Abend- und Nachtzeit auf andere Art und Weise – nach einer etwaigen Intensivierung der behördlichen Kontrollbemühungen – nicht sichergestellt werden. Es ist vor allem dieser eine Satz, der die Erforderlichkeit der massiv grundrechtsbeeinträchtigenden Maßnahme begründen soll. Das ist schon an sich ein starkes Stück. Aber der Satz ist auch inhaltlich schwach auf der Brust. Die Aussage beinhaltet drei bloße Behauptungen.
Die eine besteht darin, dass die allgemeinen Kontaktregeln zur Abend- und Nachtzeit nicht eingehalten werden. Es obliegt den kommunalen Behörden, die Einhaltung der Regeln zu überwachen. Sie verfügen insoweit über eine nunmehr rund 14-monatige Erfahrung. Dementsprechend müssten sie auch über Erkenntnisse verfügen, ob und inwieweit es zur Abend- und Nachtzeit zu Verstößen gekommen ist. Hierzu ist in der Entwurfsbegründung nichts zu lesen. Die weitere Behauptung besteht in der Unmöglichkeit, die Einhaltung der Kontaktbeschränkungen sicherzustellen. Indes schweigt die Entwurfsbegründung schon generell zu behördlichen Kontrollbemühungen, so dass ihre vom Gesetzgeber angenommenen mangelnde Effizienz nicht beurteilt werden kann. Die dritte Behauptung schließlich ist in dem Einschub zu sehen, dass die Unmöglichkeit, die Einhaltung der Regeln sicherzustellen, auch nach einer „etwaigen“ Intensivierung der behördlichen Kontrollbemühungen gälte. Auch hierzu sagt die Entwurfsbegründung, man ahnt es schon, nichts.
Begründungsansatz kann nur als erbärmlich bezeichnet werden
Eigentlich ist die Argumentation schon auf diesem Stand ein Debakel. Kann man das noch steigern? Man kann. Denn indem der Gesetzgeber zusätzlich eine „gewisse Zahl unbeabsichtigter Kontakte zwischen Menschen, etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Fluren eines Mehrfamilienhauses,“ anführt, liefert er einen Begründungsansatz, der angesichts der Schärfe des hier in Rede stehenden Grundrechtseingriffs nur als erbärmlich zu bezeichnen ist.
Im öffentlichen Nahverkehr gelten bereits umfassende Kontakt- und Hygieneregeln bei ohnehin stark gemindertem Fahrgastaufkommen. Und bei unbeabsichtigten Kontakten in den Fluren eines Mehrfamilienhauses dürfte es sich in aller Regel um flüchtige Augenblicksbegegnungen mit entsprechend geringem Infektionsrisiko handeln. Abgesehen davon, dass es den Bewohnern eines Mehrfamilienhauses wohl kaum geläufig und auch nicht vermittelbar sein dürfte, dass sie in der Zeit der Ausgangsbeschränkung nicht ihren Keller aufsuchen dürfen, etwa um sich ein Bier zu holen, weil der ganze Irrsinn sonst kaum zu ertragen ist, stellt sich dringend die Frage: Solche Konstellationen sollen allen Ernstes das Einsperren von rund 83 Millionen Menschen rechtfertigen?
Das Niveau der Argumentation in der Entwurfsbegründung ist unvorstellbar niedrig. In gleicher Weise unvorstellbar ist, dass dem Gesetz die Mehrheit des Deutschen Bundestages zugestimmt, dass der Bundesrat nur einen Tag später das Gesetz durchgewinkt und dass der Bundespräsident es nur einen halben Tag später ausgefertigt hat. Ich denke, ich werde mir mal auf Youtube anschauen, wie eine Wurst gemacht wird. So schlimm wie dieses Gesetz kann das gar nicht sein.
Friedrich Kurt Larmann ist Richter an einem deutschen Gericht und schreibt unter Pseudonym.