Wer schon mal mit Maxim Biller geschlafen hat, weiß: Das ist kein Spaß. Bumms – steht man in dessen nächsten Buch, mit Haut und Schamhaaren, mit allen Orgasmen und Nichtorgasmen, kurz, mit dem ganzen sogenannten Intimbereich, den es erstaunlicherweise auch in unserer medialen Körperentäußerungskultur immer noch gibt. „Erstaunlicherweise“ in Anführungszeichen! Denn erstaunlich ist es keineswegs, daß Geschlechtlichkeit nach wie vor mit Schamgefühl verbunden ist. Das liegt in anthropologischen Tiefenschichten begründet, gegen die ein bißchen Sex-TV und Provo-Kunst rein gar nichts ausrichten. Zu allen Zeiten und in allen Kulturen gab und gibt es diesen Intimbereich, und stets wird er als besonders sensibel erachtet. Insofern hat das Bundesverfassungsgericht bloß eine Banalität festgestellt, dies aber auf 41 eng bedruckten Seiten, in 151 Absätzen und mit feinstem juristischen Besteck.
Dabei ging es im Fall Biller noch um weit mehr als die Lustschreie einer zeitweilig Geliebten. Es ging auch um deren schwerkranke Tochter, die von Biller ins Licht der Romanöffentlichkeit gezerrt wurde – ein bestürzender Fall von literarischem Kindesmißbrauch. Auch diese Tochter ist für ihr Umfeld, zum Beispiel ihre Mitschüler, eindeutig identifizierbar. Deshalb fand das Gericht, daß die vorliegende Verletzung der Persönlichkeitsrechte besonders schwer wiege.
Schwer, weniger schwer, besonders schwer: in einem Bereich, in dem die Inhalte der Rechte nicht allgemein und abschließend umschrieben sind – hier das Persönlichkeitsrecht, dort das Recht auf Kunstfreiheit – läuft alles auf ein argumentierendes Abwägen hinaus. Natürlich gilt es die Kunstfreiheit zu verteidigen. Der Börsenverein, der Verband Deutscher Schriftsteller und das deutsche PEN-Zentrum warfen sich dafür ins Zeug und betonten den Kunstwert und Kunstanspruch von Billers Werk. Aber auch die Menschenwürde ist ein hohes Gut, von gleich hohem Verfassungsrang wie die Kunst selbst.
Deshalb betonen die Verfassungsrichter, daß es sich nicht um staatliche Zensur handelt, wenn sie auf der Suche nach einem gangbaren Mittelweg das Recht auf Kunstfreiheit zugunsten des Persönlichkeitsrechts einschränken. Und genau aus Kompromißkonstellation machen sie in ihrem Urteil eine dynamische Formel, die ungefähr so geht: Je mehr sich ein Autor an die Wirklichkeit anlehnt, was ihm – siehe Kunstfreiheit – unbenommen bleibt, desto stärker muß er auf Fiktionalisierung bedacht sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen.
Maxim Biller hätte den Inhalt seines Romans nur ein bißchen verfremden müssen, was bei seinem schriftstellerischen Talent kein großes Problem gewesen wäre, um der juristischen Unbill zu entgehen. In der Filmbranche wird so etwas von vornherein gemacht: da wird jede Straßenszene mit Statisten im Studio gestellt, damit nicht hinterher jemand, der ohne gefragt zu werden, ins Bild geriet, mit Persönlichkeitsrechten kommt. Es hat aber noch niemand behauptet, Spielfilme hätten deswegen keinen künstlerischen Wert. Im Grunde gilt auch für Literatur, die Kunst sein will, eine Art Verkünstlichungsgebot.