Bei der Siedlung Pevek am Sibirischen Meer, gegenüber der Wrangelinsel, beginnt das Ende der Welt. Bilibino ist dreihundert Kilometer Tundra von Pevek entfernt, in sibirischen Maßstäben ist Pevek ein Vorort des Städtchens Bilibino. Es gibt keine feste Straße oder Eisenbahn nach Bilibino. Es gibt keinen Flugplatz, der nächste ist 100 Kilometer „Piste“ entfernt. Die Temperatur im Winter beträgt minus 45 Grad Celsius. Der Wintertag dauert drei Stunden und der Winter dauert von Anfang Oktober bis Ende Juni. Jetzt ist August und damit Sommer. Die Sonne geht nicht richtig unter, es bleibt die ganze Nacht hell.
Die Bevölkerung von Bilibino besteht aus 5.000 Einwohnern. Es ist ein bunter Mix aus Russen und Tschukschen, Tschuwanzen, Eskimos, Koriaken und Evenken. Die fünf Eingeborenen-Stämme waren einst nomadisierende Ureinwohner, die mit ihren Rentierherden durch die Taiga zogen. Es gibt eine Unzahl von Hunden, viele von ihnen wild, aber recht friedlich.
Wie leben diese Menschen hier? Ich laufe ein bisschen herum und bekomme ernsthafte Zweifel, ob ich das könnte. Ich frage einen Kollegen, wie man das Leben hier lernen kann, wenn man aus dem Süden kommt. Und von hier aus gesehen ist beinahe alles Süden. Der Kollege sagt, dass es zehn Jahre gedauert hat, bis er sich einlebte. Jetzt gefällt es ihm recht gut. Er geht in seiner Freizeit wandern, hat ein Quad und ein Schneemobil, und er hat ein Schlauchboot mit einem Mercury-Außenborder.
Die Luft ist frisch, und es gibt unendlich viel Natur. Die paar hiesigen Autos kommen im Sommer per Schiff in den Hafen von Pevek. Sie müssen dann 300 km auf der Piste ihre erste Bewährungsprobe auf der Fahrt hierher bestehen. Ich bin ganz baff, dass dies sogar einem VW T5 gelungen ist.
Die Mücken sind schwarz und fett und stockdumm
Das erste was ich lerne ist, dass es den Mücken hier recht gut gefällt. Sie sind schwarz und fett und stockdumm, weil man sie so leicht erschlagen kann. Trotzdem kann man sich ihrer in den Abendstunden ob ihrer zahlenmäßigen Übermacht kaum erwehren. Nicht nur, dass sie einen stechen, sie versuchen auch penetrant in Nase, Ohren und in die Augen zu kriechen. So laufe ich als lächerliche Figur, wild mit den Armen um meinen Kopf herumfuchtelnd, umher.
Ich werde in einem ehemaligen Haus des Oligarchen Roman Abramowitsch untergebracht, der einmal in diesem Gebiet Sibiriens Gouverneur war. Er scheffelte mit Gold und Öl Milliarden und spendete einiges davon, um in Tschukotien Krankenhäuser, Schulen und Infrastruktur errichten zu lassen. Der Chelsea Football Club gehört ihm. Das Abramovitsch-Haus fungiert heute mit seinen fünf Zimmern als Gästehaus in Bilibino, weil es kein richtiges Hotel gibt.
So ein Milliardär ist trotz seiner Milliarden weder vor zweifelhaftem Geschmack noch vor pfuschenden Handwerkern gefeit. Der Stil des Hauses ist Geschmackssache – Eiche rustikal auf Hochglanz poliert. Als ich mein Zimmer nach dem Auspacken des Koffers verlassen will, habe ich die Türklinke in der Hand und das Außenteil fällt ab. Die Tür ist zu und ich muss lange um Hilfe rufen, ehe mich die Deschurnaja – die Diensthabende – aus meiner misslichen Lage befreit. Den Abfluss der Badewanne habe ich schon funktionstüchtig gemacht. Außerdem geht nach kurzer Zeit die Spülung meiner Toilette kaputt und ich muss den Spülkasten mit dem Absperrhahn regeln.
Aus dem Hahn kommt bräunliches Wasser, es sieht aus wie Tee. Ich muss einkaufen gehen, ich brauche Mineralwasser zum Zähneputzen. Die Deschurnaja erklärt mir, wie ich in die „Stadt“ komme und warnt mich vor Bären, die sich gern an der Brücke über den kleinen Fluss herumtreiben. Ein Trampelpfad führt nach einem halbstündigen Fußmarsch durch die Tundra in die Stadt. Die „Bärenbrücke“ ist abenteuerlich, besteht sie doch aus irgendwie zusammengeschweißten dicken Moniereisen, durch deren Lücken man beim Drüberbalancieren den reißenden Fluss sieht. Im Schlamm unter den Eisenstangen ist eine deutliche Bärenspur zu sehen.
Russland ist ein riesiges Land mit vielen Gegensätzen. Selbst die Amerikaner müssen zu den Russen kommen, wenn sie jemanden in den Weltraum schicken möchten. Mit der Sojusrakete fliegen sie vom Weltraumbahnhof Baikonur in Kasachstan zur Weltraumstation. Der Westen muss den Weltraumflug erst wieder lernen. Allerdings zeigt sich hier in Bilibino, dass es auch für die Russen einiges vom Westen zu lernen gibt. Zum Beispiel Fußwege zu bauen, auf denen man sich nicht die Ohren bricht oder Straßen, auf denen einem nicht das Gebiss aus dem Mund gerüttelt wird. Es wäre auch schön, wenn es mal eine Treppe gäbe, deren Stufen wenigstens annähernd ähnlich hoch sind. Oder wenn mal Irgendwas, das kaputt geht, auch wieder repariert würde. Oder gar Lichtschalter, die nicht irgendwo angebracht sind, sondern in einer bestimmten Höhe. Oder wenn jemand etwas wegräumen würde, das nicht mehr gebraucht wird – ich nenne es „retired in place“.
Die Häuser beginnen einen Meter über dem Boden
Bilibino ist eine Ansammlung von knallbunt gestrichenen Plattenbauten auf Stelzen. Die Häuser beginnen einen Meter über dem Boden, damit sie sich nicht auf dem Permafrostboden bewegen und Risse bekommen, wenn die oberste Bodenschicht im Sommer auftaut. Einige Häuser, die direkt auf Fundamente gebaut wurden, haben schon riesige Risse und sind total verbogen. Solche leerstehenden Wohngebäude sind stumme Zeugen eines Bilibino-Exodos, der einsetzte, nachdem die großen Tagebau-Goldminen nach und nach ausgebeutet waren und schlossen. Vor zwanzig Jahren lebten hier noch 15.000 Einwohner. Was soll erst werden, wenn das kleine Kernkraftwerk schließt?
Die aktuelle Mode hier ist im Sommer nicht von unserer zu unterscheiden. Im Winter sind bei 45 Grad minus Pelztschapka, Wattejacke und Filzstiefel unvermeidlich. Für Frauen gibt es Silberfuchs statt Wattejacke. Die Eingeborenen tragen ihre traditionelle Eskimo-Fellkleidung nur noch an Festtagen. Wie überall auf der Welt haben auch hier einige der Ureinwohner große Alkoholprobleme.
Alle Waren und alles Material muss mit dem Flugzeug herangeschafft werden. Die Preise sind daher dreimal so hoch wie in Moskau. Aber auch die Löhne sind hoch. Es gibt doppelten Urlaub und alle zwei Jahre einen bezahlten Flug zu einem beliebigen Ort. Es gibt viel Wodka und gesalzenen Fisch. Und es gibt viel Landschaft, eigentlich gibt es hier nur Landschaft.
Nach zwei Tagen habe ich gelernt, wie das in Bilibino mit den Läden funktioniert. Man findet sie nämlich nicht so leicht, weil sie anders aussehen, als ich es gewöhnt bin. Es gibt ein paar winzige Holzverschläge, die kleine Privatläden beherbergen. Die meisten Geschäfte verstecken sich gut in ehemaligen Wohnungen, die im untersten Geschoss der Plattenbauten untergebracht sind. Es gibt hunderte von diesen winzigen Shops.
Im staatlichen „Laden“, der sich auch in einer Wohnung versteckt, verkaufen sie mir kein Bier. Zu spät, es ist schon 20:05 ist, Bier gibt es nur bis 20:00 Uhr, da gibt es auch für Ausländer kein Pardon. Der private Laden nebenan schlägt ein Drittel Preis drauf und hat kein Problem damit. Die Flasche Bier kostet nun fast sieben Euro.
Russische Bastlerfantasie in einer polaren Mangelwirtschaft
Zurück zu den Fußwegen und Straßen. Sie bestehen aus trapezförmigen Betonplatten, die teilweise einen halben Meter hochgekommen sind und von löchrig holprigen Betonpisten ergänzt werden. Über Gräben führen Bretter. Breite Spalten von 30 cm zwischen den Wegplatten sind keine Seltenheit, eine bein- und achsenbrechende Angelegenheit. Die meisten Autos sind japanische Allradfahrzeuge mit Rechtslenkung. Es gibt aber auch noch viele qualmende, quietschende und klappernde Autos aus Sowjetzeiten. Ich sehe ein paar Quads, die Schneemobile sind noch in den Garagen. Ich treffe auf einen ganzen Garagenslum. Die Garagen bestehen aus wild zusammengeschweißten Containern, aus Wellblech, aus alten halbierten Fässern und allem, was russische Bastlerfantasie in einer polaren Mangelwirtschaft sich ausdenken kann. Sie hängen windschief in der Gegend herum und nur Gott weiß, ob sie schon „retired in place“ sind, oder noch in Benutzung.
Das Essen am Ende der Welt ist sehr gut. Nun ja, Fleisch oder Fisch wird erst durch den Wolf gedreht und dann als Boulette serviert. Ist es Schwein, heißt die Boulette „Kotelett“. Ist es Fisch, heißt die Boulette auch Kotelett. Wenn es Wildfleisch ist – raten Sie mal. Aber zum Frühstück gibt es hier im hohen Norden Kaviar mit Pfannkuchen und einem ordentlichen Schlag Rahm. Milch ist Mangelware und den Kindern vorbehalten. Es gibt ja fast keine Kühe hier im hohen Norden, sie würden wohl den Winter nicht überleben. Und manchmal kann im Winter mehrere Wochen kein Flugzeug kommen und Milch bringen.
Es gibt auffällig viele Kinder in Bilibino, sie hüpfen jetzt im Sommer quietschvergnügt auf den unzähligen Spielplätzen herum. Russland betreibt eine kinderfreundliche Politik, ab dem zweiten Kind gibt es Kindergeld und zum Dritten bekommt man ein Stück Land oder wahlweise eine ordentliche Summe Rubel.
Durch die 10-stündige Zeitverschiebung habe ich ziemlichen Jetlag. Ich werde gegen drei wach und kann nicht mehr einschlafen. Internet gibt es nicht. Auch telefonieren geht nicht, jedenfalls nicht mit meinen zwei Sim-Karten. Der Oligarch hat mir zum Glück einen gigantischen Fernsehapparat in seinem Gästehaus spendiert. Ich schaue russisches Fernsehen – mit meinem fast vergessenen Russisch – und sehe Beiträge, die ich so im Deutschen Fernsehen noch nie sah. Mehrere Berichte über Syrien – über ein Land, das nach einem Krieg langsam wieder zum Leben erwacht. Touristen kommen wieder nach Syrien, um historische Orte zu besuchen. Fabriken nehmen die Produktion wieder auf. Es wird auf Märkten wieder Handel getrieben, mit Obst und Gemüse aus eigenem Anbau. Ich sehe lachende Frauen in Kopftüchern und Männer, die stolz ihr kleines Geschäft präsentieren.
Es wird unaufgeregt berichtet
Ich sehe Berichte über Umweltschutzprojekte in russischen Naturschutzgebieten unter deutscher Beteiligung. Ich sehe Berichte, die sich kritisch mit der sowjetischen Rolle im Prager Frühling auseinandersetzen. Ein anderer Bericht zeigt das deutsche Urlauberschiff „Bremen“ in Murmansk, wo sich deutsche Touristen den Atomeisbrecher „Lenin“ angucken und staunen. Ein weiterer befasst sich mit einem Treffen von Kanzlerin Merkel mit Präsident Putin. Es wird unaufgeregt berichtet, ohne Geringschätzung oder gar Häme. Leider habe ich auf Grund meines miserablen Russisch nicht kapiert, was über die Sanktionen und die Gaslieferungen vereinbart wurde. Ich fange an zu glauben, dass manche deutschen Journalisten eine Menge von ihren russischen Kollegen lernen können.
Deutsche Journalisten könnten hier auch etwas lernen, wenn sie über Energiefragen berichten. Wir haben in Deutschland nur noch sieben Kernkraftwerke in Betrieb, die alle bis 2022 abgeschaltet werden – unabhängig davon, wie sicher und ökonomisch sie arbeiten. Und was wird dann? Ist die Welt dann kernenergiefrei und sicherer? Folgt uns irgendein Land auf unserem Weg in die erneuerbare Zukunft?
Allein in Russland sind sieben neue Kernkraftwerke der Generation IV mit einer Gesamtleistung von 7.898 MW im Bau. Für jeden Reaktor, den wir in Deutschland abschalten, nehmen die Russen einen in Betrieb. Und die Chinesen gleich zwei. Weltweit sind über 50 Kernkraftwerke im Bau. Auch in den arabischen Ländern sind Reaktoren im Bau, zum Beispiel in der Türkei vier. Selbst Japan hat schon wieder sieben seiner Reaktoren nach der Sicherheitsaufrüstung angefahren. Das sollte uns Deutschen zu denken geben. Hat doch der Tsunami in Fukushima mehr Reaktoren in Deutschland zerstört, als in Japan. Doch wir scheinen es vorzuziehen, die Information darüber lieber nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Derzeit sind in Russland 34 Kernreaktoren mit einer Gesamtkapazität von 26.242 MW brutto in Betrieb. Das Kernkraftwerk Obninsk war einst das erste Kernkraftwerk weltweit, es wurde längst stillgelegt. Weitere zwölf alte Reaktoren mit einer Kapazität von 919 MW wurden in den letzten Jahren stillgelegt. Die russischen Kernkraftwerke decken heute etwa 18 Prozent des Strombedarfs des riesigen Landes.
Das schwimmende Kernkraftwerk kommt
Seit einiger Zeit wird mit neuen Brennelementtypen experimentiert. Die abgebrannten Brennelemente aus den Tschernobyl-Typ-Reaktoren werden wiederaufbereitet und als Brennelemente für moderne Druckwasserreaktoren genutzt, sie haben eine höhere Effizienz. Dieser Brennstoff ist momentan zur Erprobung in den Reaktoren des Kernkraftwerks Kalinin im Einsatz. Die abgebrannten Brennelemente können zu MOX-Brennelementen weiterverarbeitet werden, diese Technologie wird seit Anfang 2008 im Schnellen Brüter Belojarsk genutzt. Russland hat damit einen ausgewogenen Brennstoffkreislauf, und die Uranvorräte reichen für hunderte von Jahren. In Deutschland wurde diese nukleare Brennstoffkreislaufwirtschaft schon vor vielen Jahren auf Betreiben der Grünen verboten.
Im Kernkraftwerk Bilibino befinden sich die zurzeit drei weltweit kleinsten Reaktoren mit je 12 Megawatt in Betrieb, die außerdem Fernwärme für die nahe Stadt liefern. Es ist somit das kleinste Kernkraftwerk der Welt. Bis 2021 sollen diese alten Reaktoren abgeschaltet werden. Sie werden durch das erste schwimmende Kernkraftwerk „Akademik Lomonossow“ ersetzt. Das schwimmende AKW wurde in Leningrad gebaut. Es hat zwei Eisbrecher-Reaktoren von je 35 Megawatt an Bord. Die ganze Technik kommt von der Offshore-Technologie und ist wohlerprobt. Der KKW-Pram kann sich auf eigenen Stelzen bis zu 20 Meter über die Wasserfläche heben.
Derzeit wird es in Murmansk mit Brennstoff beladen und erprobt, bevor es im nächsten Jahr nach Pevek geschleppt wird. Pevek ist ein Vorort von Bilibino und „nur“ 300 Kilometer entfernt. Dort wird die Akademik Lomonossow an das kleine tschukotische Inselnetz angeschlossen, um die Bewohner des hohen Nordens mit Strom und Wärme zu versorgen. Die Einwohner hier wissen ihr Kernkraftwerk zu schätzen. Es wäre schwer, den Winter ohne es zu überleben.
Als die Akademik Lomonossow die Werft in Sankt Petersburg verließ, protestierte Greenpeace mit einem seiner Schiffe gegen das „schwimmende Fukushima“, wie sie es nannten. Sie fuhren den Schleppbooten in den Weg und wollten den Transport behindern. Der russische Energie-Minister fragte medienwirksam an, was Greenpeace denn bei minus 50 Grad im dunklen polaren Winter für die Einwohner von Tschukotien gerne als Ersatz für das alte AKW hätte? Solarpaneele und Windräder? Ein Kohlekraftwerk, bei dem man die Kohle mit dem Flugzeug heranschafft? Eine 3.000 Kilometer lange Gasleitung?
Gold wird hier im Stollen abgebaut
An meinem freien Samstag will ich mir eine der noch funktionierenden Goldminen ansehen, wenigstens von außen. Der russische Allrader rumpelt über die Piste durch eine Mondlandschaft, dass mir die Zähne klappern. Ab 500 Höhenmetern hört der Baumbestand auf. Die Berge sind kahl bis auf ein paar zähe Moose. Das Gestein ist schwarz. Es regnet und stürmt heftig und sieht immer düsterer aus. Ich habe noch nie eine Goldmine gesehen.
Endlich lerne ich, wie eine Goldmine in Sibirien aussieht – eine Goldmine ist eine verwüstete Mondlandschaft inmitten einer wüsten Mondlandschaft. Darin stehen ein paar verrostete Container, verbeulte Tanks und windschiefe Strommasten. Dazwischen wuseln schwere alte LKWs umher und ein paar Bulldozer. Gold wird hier im Stollen abgebaut, die Tagebaue sind ausgebeutet. Man hat die ausgezehrten Geröllhalden einfach so liegengelassen und wartet die hundert Jahre, bis sich die Tundra wieder darüber ausgebreitet hat. Sieht ja keiner. Der Rayon Tschukotien ist flächenmäßig deutlich grösser als Frankreich und es wohnen ganze 80 Tausend Menschen hier, während es in Frankreich über 60 Millionen sind.
Ich bin jetzt eine Woche hier. Der Herbst ist mit Wucht eingefallen. Die Temperatur ist seit gestern um 25 Grad Celsius gefallen. Heute ist auf den Bergen um uns herum der erste Schnee gefallen. Mein Kollege meint: „Der taut nicht mehr weg“. Es gibt wohl keinen richtigen Herbst. Der Winter kündigt sich an und es wird Zeit für mich, Abschied zu nehmen. Die gute alte Antonov wird mich zurück nach Magadan, einem anderen Ende der Welt bringen. Zumindest, solange der Heilige Sebastian mich beschützt. Eigentlich ist er für Rom und Rio zuständig, aber ich habe ihn zum Schutzpatron meiner Reise ernannt.
Von Magadan geht’s zurück nach Moskau mit einem Acht-Stunden-Flug, der zehn Ortszeit-Minuten früher in Moskau landet, als er in Magadan gestartet ist. Eine kleine Zeitreise rückwärts.
Was habe ich am Ende der Welt gelernt?
Seit 1989 bereise ich die Welt und versuche, all die Leerstellen zu füllen, die 40 Jahre „Wohn-Haft DDR“ in meiner Weltanschauung hinterlassen haben. Man hat nämlich keine vernünftige Weltanschauung, wenn man sich die Welt nicht anschauen kann. Eigentlich wollte ich den Rest meines Lebens nur noch in alle „drei“ Himmelsrichtungen reisen. Die Erfahrungen meines DDR-Lebens ließen mich die östliche Richtung ausklammern. Dann kam das Russland-Bashing und erzeugte genau das Gegenteil von dem in mir, was es erreichen wollte. Ich fing an, mich für Russland zu interessieren. Nun korrigiere ich meine Weltanschauung, indem ich mir Russland anschaue. Und ich wurde positiv überrascht.
Wir sind mitnichten ein Vorbild für die weite Welt
Ich wurde im hohen Norden Russlands daran erinnert, das besser zu schätzen, was ich habe. Einen ordentlichen Fußweg oder eine gerade Straße gibt es nicht überall, obwohl man es für selbstverständlich hält. An manchen Orten kann Infrastruktur nicht besser gebaut werden, weil es einfach am Material fehlt, oder weil gar niemand bemerkt, dass es anders besser wäre.
Ich habe gelernt, dass Deutschland, verglichen mit anderen Ländern, recht winzig ist und manchmal an belehrender Großmannssucht leidet. Am deutschen Wesen wird wohl kaum die Welt genesen. Einige Sachen machen wir richtig, einige Sachen machen wir nicht richtig. Wir sind daher auch mitnichten ein Vorbild für die weite Welt.
Ich habe am Ende der Welt liebenswerte Menschen getroffen. Bescheidene Menschen, die mit dem Wenigen zufrieden sind, was sie haben und ihre Natur besser zu schätzen wissen als ich, weil diese Natur mir unbequem, ja lebensfeindlich erscheint.
Und bitte seien Sie mir nicht gram – ich freue mich auf zu mein Zuhause – „home sweet home“. Ich freue mich auf meine gewohnte Kulturlandschaft ohne unendliche wüste Weiten, auf meine Welt der angenehmen Temperaturen, auf meine Umgebung der Ordnung und Schönheit, und nicht zuletzt auf meine Familie und Freunde. Umso mehr, weil ich am Ende der Welt ein paar neue Freunde dazugewonnen habe.
Und ich danke dem Heiligen Sebastian für den Schutz, den er mir auf meiner kleinen Reise bis beinahe ans Ende der Welt gewährt hat.
Das erste schwimmende KKW „Akademik Lomonossow“ sticht in See.
Den ersten Teil dieses Textes lesen Sie hier.
Manfred Haferburg ist Autor des Romans „Wohn-Haft“, der vom Widerstand eines Einzelnen gegen ein übermächtiges politisches System erzählt. Mit einem Vorwort von Wolf Biermann.