Helmut Ortner, Gastautor / 18.05.2023 / 15:00 / Foto: haolam / 13 / Seite ausdrucken

Bilanz des Grauens

Der aktuelle Report von Amnesty International zur weltweiten Anwendung der Todesstrafe der weltweiten Hinrichtungen dokumentiert für 2022 mindestens 883 Hinrichtungen in 20 Ländern – die höchste Anzahl von gerichtlichen Hinrichtungen seit 2017. 

Erhängen, Enthaupten, Giftinjektion oder Erschießen: mindestens 883 Menschen in 20 Ländern wurden nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International im Jahr 2022 auf diese Weise hingerichtet. 90 Prozent der weltweit registrierten Hinrichtungen wurden von nur drei Ländern in der Region Naher Osten und Nordafrika durchgeführt. Die Zahl der erfassten Hinrichtungen im Iran stieg von 314 in 2021 auf 576 in 2022. In Saudi-Arabien verdreifachte sich die Zahl von 65 in 2021 auf 196 in 2022, dort wurden an nur einem einzigen Tag 81 Menschen exekutiert. In Ägypten wurden 24 Menschen hingerichtet.

Wie in den Jahren zuvor, fehlen in dieser Bilanz des Grauens die Angaben aus China, Nordkorea und Vietnam, wo vermutliche tausende Todesurteile vollstreckt wurden. Die Regierungen dieser drei Staaten halten Angaben zur Todesstrafe unter Verschluss und behandeln sie als Staatsgeheimnis. Eine unabhängige und genaue Überprüfung ist unmöglich. Doch Amnesty International geht davon aus, dass in China nach wie vor weltweit die meisten Hinrichtungen stattfinden. Menschenrechts-Beobachter gehen von Tausenden aus.

In zahlreichen Staaten wird die Todesstrafe als Instrument staatlicher Repression gegen Minderheiten und Demonstranten eingesetzt wurde, etwa im Iran. Die UN geht davon aus, dass in diesem Jahr bereits insgesamt mindestens 209 Menschen im Iran hingerichtet wurden, u.a. wegen vage formulierter Anklagepunkte wie „Feindschaft zu Gott“. Erst vor wenigen Tagen, am 8. Mai, waren in einem Gefängnis in der Stadt Arak zwei Männer wegen „Beleidigung des Propheten Mohammed und andere Blasphemien einschließlich der Verbrennung des Koran“ hingerichtet worden. Nach Angaben der US-Commission on International Religious Freedom waren die beiden Männer seit März 2020 in Haft. Unter welchen Umständen das Geständnis zustande kam, ist nicht bekannt. Menschenrechtsorganisationen kritisieren immer wieder, dass im Iran derartige Geständnisse durch Folter oder andere Misshandlungen erzwungen werden. 

„Keine Nachsicht“ mit Demonstranten 

Das Mullah-Regime will Härte demonstrieren, Menschen sollen eingeschüchtert werden. Die Vertreter des Regimes klammern sich mit allen Mitteln an die Macht. Dass ihnen das gelingt, liegt auch darin begründet, dass sie nach wie vor auf ihre Gefolgschaft setzen können. In einer Erklärung hatten 227 der 290 iranischen Parlamentarier die Justizbehörden aufgefordert, „keine Nachsicht“ mit den Demonstrierenden zu üben und dringend Todesurteile gegen sie zu verhängen. So soll anderen eine „Lehre“ erteilt werden. Ein Sprecher der iranischen Justizbehörden forderte rasche Gerichtsverfahren und Bestrafungen, einschließlich Hinrichtungen.

Julia Duchrow, stellvertretende Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, sagt:

„Die iranische Führung ist für 65 Prozent der weltweit bekannt gewordenen Hinrichtungen im vergangenen Jahr verantwortlich. In dem Versuch, den Massenprotesten für ‚Frauen – Leben– Freiheit‘ ein gewaltsames Ende zu setzen, hat die iranische Justiz bereits mindestens vier Demonstrierende hinrichten lassen. Dutzende weitere Menschen sind im Zusammenhang mit den Protesten akut von der Todesstrafe bedroht.“

Die aktuellen Entwicklungen im Iran zeigen: notwendig und eindeutiger als bisher ist der internationale Druck auf das Mullah-Regime.

Dass auch in Afghanistan, Kuwait, Myanmar, Palästina (Gazastreifen) und Singapur den nach Unterbrechungen wieder Todesurteile vollstreckt werden, ist erschreckend. Auch in den USA stieg die Zahl der Hinrichtungen. Das Recht des Staates, ein schweres Verbrechen mit der Hinrichtung des Täters zu sühnen – gilt noch immer in zahlreichen Bundesstaaten der USA – auch im Jahr 2022. Nach der Trump-Ära, der als Hardliner die Todesstrafe befürwortete und auf Bundesebene ausweitete, stieg die Zahl der Hinrichtungen von elf im Vorjahr auf 18 in 2022. Zwar ist die Todesstrafe in den USA auf dem Rückzug, doch in zahlreichen Bundesstaaten, vor allem in Südstaaten wie Texas, wird trotz der zunehmenden Schwierigkeiten, die nötigen Stoffe für die Giftspritze zu beschaffen, weiter exekutiert.  

Immer mehr Länder gegen Todesstrafe

Vor allem die Zahl der Menschen, die im Zusammenhang mit Drogendelikten exekutiert wurden, hat sich 2022 im Vergleich zu 2021 mehr als verdoppelt. Hinrichtungen wegen Drogenstraftaten sind ein Verstoß gegen internationales Recht, das die Verhängung der Todesstrafe auf „schwerste Verbrechen“ beschränkt – das sind Verbrechen, die eine vorsätzliche Tötung beinhalten. Derartige Hinrichtungen wurden in China, Iran (255), Saudi-Arabien (57) und Singapur (11) verzeichnet. Auch in Vietnam gab es vermutlich Hinrichtungen wegen Betäubungsmittelstraftaten, allerdings hält der Staat die entsprechenden Zahlen geheim. Die Hinrichtungen machten einen Anteil von 37 Prozent aller von Amnesty erfassten Hinrichtungen aus. 

Doch es gibt in dieser globalen Schreckens-Bilanz auch positive Anzeichen. Sechs Staaten schafften 2022 die Todesstrafe vollständig oder zum Teil ab. In Kasachstan, Papua-Neuguinea, Sierra Leone sowie in der Zentralafrikanischen Republik wurde die Todesstrafe für alle Straftaten aufgegeben, in Äquatorialguinea und Sambia nur für gewöhnliche Verbrechen. BisJahresende 2022 hatten insgesamt 112 Länder die Todesstrafe für alle Straftaten aus ihrem Recht getilgt, hinzu kommen weitere neun Länder, die sie nicht mehr für gewöhnliche Verbrechen vorsehen.

Eine weitere positive Entwicklung gab es in Liberia und Ghana: Beide Länder haben rechtliche Schritte zur Abschaffung der Todesstrafe eingeleitet. Die Behörden von Sri Lanka und den Malediven gaben zudem bekannt, künftig auf die Vollstreckung von Todesurteilen verzichten zu wollen. In Malaysia haben beide Kammern des Parlaments Gesetzesentwürfen zur Abschaffung der obligatorischen Todesstrafe zugestimmt. 

Immer mehr Länder weltweit geben die Todesstrafe auf. Im Dezember 2022 unterstützte bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen eine noch nie dagewesene Anzahl von 125 UN- Mitgliedsstaaten eine Resolution, die die Einführung eines weltweiten Hinrichtungsmoratoriums mit dem Ziel der vollständigen Abschaffung der Todesstrafe fordert.

Julia Duchrow sagt:  „Die Welt hat sich zweifellos auch 2022 weiter von der Todesstrafe als Strafmittel entfernt. Die Länder, die weltweit für die meisten Hinrichtungen verantwortlich sind – China, Iran, Saudi-Arabien, Nordkorea und Vietnam – gehören mit ihrem brutalen Vorgehen jetzt eindeutig zu einer isolierten Minderheit. Gerade hier stellen wir unsere Forderung nach einem Ende derTodesstrafe besonders laut.“ 

 

Helmut Ortner hat bislang mehr als zwanzig Bücher, überwiegend politische Sachbücher und Biografien veröffentlicht. Seine Bücher wurden bislang in 14 Sprachen übersetzt.

 

Buch-Empfehlung: Helmut Ortner, Ohne Gnade – Eine Geschichte der Todesstrafe, Nomen Verlag, 230 Seiten, 22 Euro

Foto: haolam

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Sabine Schönfeld / 18.05.2023

Es gibt ganz offenbar einen klaren Zusammenhang zwischen totalitärer Ideologie, davon gesellschaftlich geprägten Staaten und staatlich institutionalisiertem Mord. Und ich bin sicher, es ist dabei keinerlei Zufall zugange - humanistisch geprägte Staaten, deren Gesetze auf den Menschenrechten beruhen, sie töten keine Menschen. Der Zusammenhang ist klar und eindeutig. Traurig für all jene, die in Staaten leben müssen, in dem solche Ideologien herrschen, egal, ob es jetzt der Islam oder der Sozialismus ist.

Boris Kotchoubey / 18.05.2023

Es gibt zwar gute Argumente gegen die Todesstrafe, aber wie immer in ethischen Fragen gibt es eine einfache für alle Zeiten und Lagen gültige Regel NICHT. Allein schon die Differenzierung zwischen schwersten Drogenverbrechen (z.B. Länder der Südasien) und politischen Oppositionellen (Iran, das Lieblingsland unseres Bundespräsidenten) könnte gezogen werden. Ein historisches Beispiel: Nach der demokratischen Revolution in Russland im März 1917 wollte die neue bürgerliche Regierung unbedingt die fortschrittlichste in der Welt sein und die Todesstrafe vollständig abschaffte, auch in der Armee (mitten im Krieg). Das Ergebnis war eine Massenerschießung von Unteroffizieren durch unzufriedene Soldaten (ehemalige Bauern), die auch für brutalste Verbrechen keine Todesstrafe mehr erwarten mussten. Da 2,5 Jahre nach dem Kriegsbeginn viele Unteroffiziere in der russischen Armee keine Profis mehr sondern einfach gebildete Menschen waren (u.a. Lehrer, Musiker, Literaten usw.) bedeutete dies eine Vernichtung des intellektuellen Potentials innerhalb von wenigen Monaten im Frühjahr/Sommer 1917. Ein paar Monate später wurde die “fortschrittliche” Regierung durch Bolschewiken vertrieben, und diese haben sofort ... ja, Sie haben schon verstanden.

Klaus Keller / 18.05.2023

gähn… 27. März 2023 Pressemitteilung: 9,9 % mehr Schwangerschaftsabbrüche im Jahr 2022. Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland ist im Jahr 2022 mit rund 104 000 gemeldeten Fällen um 9,9 % gegenüber dem Vorjahr gestiegen, nachdem im Jahr 2021 mit 94 600 Fällen der niedrigste Stand seit Beginn der Statistik verzeichnet worden war. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, lag die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche damit auch über dem Niveau der Jahre 2014 bis 2020, als die Zahl der gemeldeten Fälle stets zwischen rund 99 000 und 101 000 gelegen hatte. Höher als im Jahr 2022 war die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zuletzt im Jahr 2012 mit 106 800 Fällen. Anhand der vorliegenden Daten lässt sich keine klare Ursache für die starke Zunahme im Jahr 2022 erkennen. ++++ Buch-Empfehlung: Helmut Ortner, Ohne Gnade – Eine Geschichte der Todesstrafe, Nomen Verlag, 230 Seiten, 22 Euro. +++ Ein Werbetext aus der Kategorie Empörungsliteratur. Muss man nicht ernst nehmen.

Rolf Mainz / 18.05.2023

“Bilanz des Grauens” vor allem für die Opfer vieler der betreffenden Verurteilten. Es geht dabei sicher nicht um Regime-Gegner bzw. politisch Andersdenkende, aber in der Mehrzahl der Fälle handelt es sich um Schwerverbrecher. Und so zynisch das manchem erscheinen mag: für deren Opfer (soweit sie denn überhaupt überlebten) kann es sehr wohl eine seelische Erleichterung bedeuten, wenn man den Täter nicht mehr lebend und folglich fortan unschädlich weiss. In den vermeintlich moralisch fortschrittlichen und ethisch vorbildlichen westlichen Gesellschaften wird es hingegen leider schulterzuckend hingenommen, dass selbst schwer vorbestrafte Täter wieder auf freien Fuss kommen können und vor Wiederholungstaten nicht zurückschrecken. Welche Gesellschaften überleben werden, jene mit Todestrafe oder solche, die jene auf moralisch hohem Ross ablehnen, wird sich zeigen. Die jüngsten Entwicklungen in Westeuropa geben erste seriöse Indikationen, wohin die Reise diesbezüglich gehen wird.

Helmut Driesel / 18.05.2023

  Typisch Amnesty, weit weg, politisch genehm, große Worte, kurz gedacht. Rein gefühlsmäßig glaube ich, dass das Event Todesurteil hier noch nicht ausgestanden ist. Wir haben ja eine steigende Kriminalität, eine steigende Bevölkerungsdichte, steigenden Bürgerkriegsindex und - als wichtigste Voraussetzung für eine gesetzliche Todesstrafe - nicht genug Geld für neue Gefängnisse. Langzeitstrafen unter menschenwürdigen Bedingungen sind ein Luxus, den man sich leisten können muss. Die Leute von Amnesty wissen das ganz genau. Aber das passt schlecht ins komfortable Weltbild des engagierten jungen Akademikers.

Gerhard Schäfer / 18.05.2023

Lieber Herr Ortner: Demonstrierende lassen sich nicht hinrichten, sondern nur Demonstranten! Demonstrierende sind Menschen, welche im Moment gerade dabei sind, zu demonstrieren.

D. Schmidt / 18.05.2023

Der Mensch ist und bleibt ein grausames Tier. Bei einem grausamen Mörder kann ich das noch nachvollziehen mit dieser Steinzeitstrafe, aber Todesstrafen nur wegen einer anderen Meinung oder Religion sind Menschen verachtend. Traurig, dass D. mit vielen dieser Länder gerne Geschäftchen macht. Und selbst China mit seinen unbestätigten 1000+ Hinrichtungen pro Jahr bekommt immer noch Entwicklungshilfe vom Steuergeld der Deutschen. Abartig.

Rainer Niersberger / 18.05.2023

Man kann mit sehr guten Gruenden, allen voran der sogen. Justizirrtum, gegen die Todesstrafe sein, sollte aber trotz allem einen Unterschied zwischen dem Vorgehen der Staaten resp Regime nicht uebersehen.  Petitessen sind es nicht, wenn es in einem Land eine ( demokratisch verfasste) Rechtsordnung und eine halbwegs funktionierende Justiz mit Verteidigungs - und Rechtsmitteloption sowie einer kritischen Öffentlichkeit gibt, waehrend in den anderen Laendern nichts anderes als zuhauf staatlich beauftragte Morde verübt werden. Soviel Differenzierung muss schon deshalb sein, weil man hierzulande zwar mit Trump “fremdelt”, nicht aber mit den boesen Herrschern des Iran und anderer, hier genannter Laender, Theokratien oder Diktaturen.  Zudem sollten wir aufpassen, dass “unser” Regime bei seinen Experimenten am lebenden Objekt, bei denen es nicht einmal um eine schwere Tat und Strafe geht, nicht allzu “großzügig” mit dem Leib und Leben der Buerger umgeht. Die, vom Politgericht abesegnete, “Wertentscheidung” des Regimes, ggf Menschenleben zu opfern, um angeblich! ( bekanntlich widerlegt und trotzdem gibt es noch die “Zwangsimpfung” beim Bund) mehr? Leben zu retten, ist in jeder Hinsicht mindestens so bedenklich wie die Todesstrafe fuer Moerder.  Mit dem Glashaus und den Steinen ist das so eine Sache. Aber der gemeine Deutsche beschäftigt sich gerne moralkritisch mit anderen, ungern mit sich selbst und vor allem mit seinem Regime. Dr Frank laesst gruessen.

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