Joe Biden hinterlässt den Demokraten zum Abschied einen personellen Sprengsatz, eine Frau die fast keiner will.
Die Spatzen pfiffen es von den Dächern Washingtons, und auch die Schnäbel der größeren Vögel standen schon tagelang nicht sehr still. Schiff, Schumer, Pelosi, Jeffries, die Clintons, die Geldgeber, die Medien… über alle Kanäle funkte man S.O.S. ins Weiße Haus. Biden wollte Umfragen sehen, dass er keine Chance habe im November gegen Trump. Die hat er nun gesehen. Er wolle auf seine Ärzte hören, falls diese ihn aus gesundheitlichen Gründen doch noch zum Verzicht auf die Kandidatur überreden wollen. Bidens selbstverordnete Corona-Quarantäne zeigte ihm übers Wochenende schon mal, wie sich das anfühlt. Nun also die Entscheidung: Er bleibt noch ein bisschen, dann geht er. Kein Rücktritt als Präsident, aber „four more years“ dann lieber doch nicht.
Die Indiskretionen hatten zugenommen in den letzten Tagen. Vertrauliche Gespräche Bidens mit den wichtigsten Politikern bei den Demokraten wurden an die Presse durchgestochen, und es war klar, dass nicht Bidens Team die Quelle sein konnte. Die Empörung etwa von Nancy Pelosi über die Leaks klangen wenig überzeugend, beleuchteten aber die Stimmung im Biden-Lager. Der Präsident war aufgebracht und fühlte sich ungerecht behandelt. Dass man ihm damit drohte, er werde womöglich keine nach ihm benannte Präsidentenbibliothek bekommen, könnte vielleicht den Ausschlag für seine Entscheidung gegeben haben.
Dass die Dolchstiche der ehemaligen Freunde und Unterstützer Bidens sich im Schutz der Anonymität vollzogen und die Presse bereitwillig mitspielte, indem man Quellen nicht nennen wollte, wirft ein schlechtes Licht auf die politische Kultur bei den Demokraten. Wir reden schließlich nicht von Whistleblowern, die irgendeiner kriminellen Schweinerei auf der Spur sind, sondern von gewählten Abgeordneten, Senatoren und Gouverneuren.
Betrug an der eigenen Wählerbasis
In seiner schriftlichen Erklärung auf X klang es noch, als verzichte Biden nicht nur auf die Kandidatur, sondern lasse seine Nachfolge bei der Kandidatur komplett offen. Ein Dank an seine Vizepräsidentin Harris, das war schon alles. Doch 20 Minuten später dann die nächste Meldung: „Heute möchte ich meine volle Unterstützung dafür aussprechen, dass Kamala dieses Jahr die Kandidatin unserer Partei wird.“
Kandidatin für welches Amt? Es könnte auch weiterhin das der Vizepräsidentin sein, kein Wort wurde hier zufällig gewählt oder aufgrund großer Klarheit weggelassen. Und was ist Bidens „volle Unterstützung“ jetzt noch wert? Auch muss man sich fragen, wer genau denn da auf X postet und wie die Befugnisse dessen aussehen, jemanden für ein Amt zu empfehlen. Wie stark Biden in die Prozesse um ihn herum eingebunden ist, wissen wir nicht.
Die gut 200 Millionen Dollar Spendengelder, die in den „Super-PAC“ genannten NGOs feststecken und der Wiederwahl des Biden/Harris-Tickets gewidmet sind, könnte eine Präsidentschaftsbewerberin Harris in ihre Kampagne hinüberretten. Zumindest zum Teil. Ein komplett neues Bewerberfeld hätte keinen Zugriff darauf. Aber das ist wohl noch das kleinste Problem, vor dem die Demokraten jetzt stehen.
Weit schwerer dürfte der mehrfache und offensichtliche Betrug an der eigenen Wählerbasis wiegen, mit denen man erst in Vorwahlen ein bisschen Demokratie und Mitbestimmung spielte, nur um den Delegierten am Ende zu sagen, dass sie ihre Stimme anders vergeben sollen. Dabei waren die Vorwahlen selbst schon ein durchsichtiges Theater. Die fanden praktisch nicht statt, um zu verhindern, dass es zu einem Zusammentreffen zwischen einem ambitionierten Kandidaten wie Robert F. Kennedy jr. und dem schon damals nicht mehr auf der geistigen Höhe befindlichen Biden kommen konnte.
Die „nukleare Option Harris“
Biden, Harris oder doch jemand anderes? Über was und wen die Delegierten bei der Democratic National Convention (DNC) im August zu entscheiden haben, wird offenbar an höherer Stelle ausgeknobelt, und wenn’s eng wird, hat man immer noch die Superdelegierten aus der Parteielite. Wichtig ist, dass „Demokraten“ draufsteht und der Anschein von demokratischer Mitbestimmung erweckt wird. 2016 verhinderte man auf diese Weise die Kandidatur von Bernie Sanders zugunsten von Hillary Clinton.
Was die Demokratische Partei aus Bidens Wunsch bezüglich seiner Nachfolge machen wird, ist noch unsicher. Gut möglich, dass man dort vor den fraglichen Chancen einer Kandidatin Harris mehr Angst hat als davor, die volle Wahlkampfkasse zu verlieren. Auch gut möglich, dass all das Gezerre an Biden, ihn möglichst rasch zum Verzicht auf seine Kandidatur zu bewegen, ihn überhaupt erst erwägen ließ – mit einer gewissen Genugtuung –, die „nukleare Option Harris“ ziehen zu lassen. Wir erinnern uns an Joes Lebensversicherung: Wenn ihr an meinem Stuhl sägt, bekommt ihr sie! Nun stehen sie da, die Obamas, Schumers und Pelosis und haben die Säge noch in der Hand.
Bis zum 20. Januar 2025 dauert die Amtszeit von Joe Biden noch. Das ist eine lange Zeit, wenn man bedenkt, wie rapide sein mentaler Verfall allein in den letzten Wochen zugenommen hat. Vielleicht ist eine Präsidentschaftskandidatin Harris ja wirklich die einzige Option, die die Demokraten noch haben.
Schließlich könnte Harris innerhalb der nächsten Monate jederzeit auch durch den Lauf der Natur und ganz unabhängig von der Wahl im November zur Präsidentschaft aufrücken. Man stelle sich das Interregnum dieser Frau vor, wenn man sie zuvor zugunsten eines aussichtsreicheren und vielleicht sogar fähigen Kandidaten zur Seite geschoben hätte! Lieber ergibt man sich in das Schicksal, stellt Harris vielleicht einen kompetenten Vize-Präsidenten wie den Gouverneur aus Pennsylvania Josh Shapiro an die Seite und hofft das Beste.
Bidens Blut war im Wasser, nun ist er aus dem Haifischbecken gestiegen und hat sich vorerst in Sicherheit gebracht. Wenn die Medienhaie sich wieder beruhigt haben, werden sie sich mit neuem Elan an ihren alten Feind erinnern und wieder auf Trump losgehen. Das Chaos bleibt uns auf alle Fälle erhalten, und die Autoren tun gut daran, die Gewohnheit beizubehalten, beim Schreiben über den US-Wahlkampf jede Minute die Nachrichtenseiten im Browser zu aktualisieren. Das zumindest darf als sicher gelten in einem Wahljahr, das sich wie ein Stück von Shakespeare anfühlt.
Man weiß nie so genau, wer noch ein Messer im Mantel hat. Auftritt Barack Obama. Übrigens der einzige Ex-Präsident, der nach seiner Amtszeit in Washington D.C. geblieben ist, was auch immer man daraus schlussfolgern mag. Auch Obama findet salbungsvolle Worte für seinen Ex-Vize Biden, vermeidet es aber tunlichst, dessen Empfehlung für Kamala Harris auch nur mit einem Wort zu würdigen. Stattdessen das hier: „…ich bin außerordentlich zuversichtlich, dass die Führer unserer Partei einen Prozess in Gang setzen können, aus dem ein hervorragender Kandidat hervorgeht.“
Der Rest – um bei Shakespeare zu bleiben – ist Schweigen!
Roger Letsch, Baujahr 1967, aufgewachsen in Sachsen-Anhalt, als dieses noch in der DDR lag und nicht so hieß. Lebt in der Nähe von und arbeitet in Hannover als Webdesigner, Fotograf und Texter. Sortiert seine Gedanken in der Öffentlichkeit auf seinem Blog unbesorgt.de