Der zwanzigjährige Einsatz der USA, Kanadas, Großbritanniens, Australiens, Deutschlands und anderer Länder in Afghanistan endete diesen Monat damit, dass der afghanische Präsident Ashraf Gani vier Autos voller Geld packte. Weil in den Fahrzeugen nicht genug Platz war, versuchte er, den Rest in seinen Hubschrauber zu stopfen. Als er sich mit dem Helikopter aus dem Staub machte, blieb ein Teil des Geldes auf dem Asphalt zurück. So jedenfalls beschrieb ein Sprecher der russischen Botschaft in Kabul gegenüber der russischen Nachrichtenagentur RIA die Szene und berief sich dabei auf Augenzeugen.
US-Präsident Joe Biden hatte für den Abzug der noch im Land verbliebenen 2.500 amerikanischen Soldaten einen Stichtag gesetzt: Allerspätestens bis zum 11. September müssten sämtliche GIs aus Afghanistan abgereist sein. Das Datum ist der zwanzigste Jahrestag der von Al-Qaeda verübten Terroranschläge vom 11. September 2001.
Es wird dieses Jahr ein seltsames Gedenken werden. Joe Biden würde wohl der Öffentlichkeit an diesem Tag – wie so oft – am liebsten fernbleiben. Hat er doch dafür gesorgt, dass die afghanischen Taliban, die im Weißen Haus als wichtigste Unterstützer von Al-Qaeda galten (weil man dort vor Donald Trumps Amtszeit nicht über die unselige Rolle Pakistans reden wollte, muss man hinzufügen), pünktlich zum Jahrestag wieder die Herren ganz Afghanistans sind.
Noch vor zwei Monaten feierte die US-Botschaft in Kabul den Pride-Monat der Schwulen-, Lesben-, Bi- und Transgenderrechte. Und an der Universität Kabul konnte man einen Master-Abschluss in Gender Studies machen. Mit beidem ist es nun wohl erst mal vorbei.
Keiner Schuld bewusst und ohne Mitgefühl
Tausende Afghanen, die sich in den letzten zwanzig Jahren als Anhänger einer säkularen westlichen Kultur zu erkennen gegeben haben – im Glauben, dass das nun in ihrem Land möglich sei –, müssen jetzt fliehen, um nicht ausgepeitscht, gesteinigt, gehängt oder geköpft zu werden.
Unterdessen zeigt sich Joe Biden ungerührt, keiner Schuld bewusst und ohne Mitgefühl. In einer Stellungnahme sagte der Präsident, „wenn Afghanistan jetzt keinen wirklichen Widerstand gegen die Taliban leisten“ könne, bestehe „keine Chance, dass ein Jahr – ein weiteres Jahr, fünf weitere Jahre oder 20 weitere Jahre – amerikanischer Militärpräsenz einen Unterschied“ machten. Biden machte deutlich, dass er sich durch das Debakel in seiner Einschätzung nur bestätigt fühlt, dass ein weiterer amerikanischer Einsatz nutzlos sei. Er räumte ein, dass seine Regierung erst spät damit begonnen habe, afghanische Mitarbeiter auszufliegen. Das habe auch damit zu tun, dass er keine „Vertrauenskrise“ habe auslösen wollen, erklärte er. Zudem machte er seinen Amtsvorgänger Donald Trump mitverantwortlich; dieser habe schließlich das Abkommen über den amerikanischen Truppenabzug unterzeichnet. Biden:
„Es gab nur die kalte Realität, entweder die Vereinbarung zum Abzug unserer Streitkräfte umzusetzen oder den Konflikt zu eskalieren und Tausende weiterer amerikanischer Truppen in den Kampf in Afghanistan zurückzusenden und damit in das dritte Jahrzehnt des Konflikts zu stürzen.“
Das aber sei für ihn nicht in Frage gekommen, so Biden. Er werde den Konflikt nicht an einen „fünften Präsidenten weitergeben“.
Der frühere US-Außenminister Mike Pompeo nannte diese Argumentation „peinlich“. „Wäre ich noch Außenminister mit einem Oberbefehlshaber wie Präsident Trump, hätten die Taliban verstanden, dass jeder, der sich gegen die Vereinigten Staaten von Amerika verschwört, dafür bezahlen muss“, sagte er. „Qassem Soleimani hat diese Lektion gelernt und die Taliban hätten sie auch gelernt.“ Eine „schwache amerikanische Führung“ schade immer der amerikanischen Sicherheit, so Pompeo. Die Biden-Regierung aber habe die „globale Bühne zugunsten des Klimawandels“ verlassen. „Sie haben sich auf die kritische Rassentheorie konzentriert, während die Botschaft in Gefahr ist. Das ist in unseren vier Jahren nicht passiert.“
US-Journalisten gehen auf Distanz zu Biden
Selbst viele von Bidens Unterstützern in den Redaktionen distanzieren sich von ihm, üben offen Kritik. Das gab es noch nie. „Das Debakel der US-Niederlage und des chaotischen Rückzugs in Afghanistan ist eine politische Katastrophe für Joe Biden“, kommentierte der sonst stets Biden-treue Nachrichtensender CNN.
„Nur wenige amerikanische Präsidenten haben ihre Fehler so spektakulär in Echtzeit aufgezeigt bekommen wie Joe Biden in Afghanistan“, schreibt die Redaktionsleitung von USA Today. Das Blatt zitiert eine Äußerung Bidens, die dieser bei einer Pressekonferenz am 8. Juli machte: „Die Wahrscheinlichkeit, dass die Taliban alles überrennen und das ganze Land einnehmen, ist sehr unwahrscheinlich“. Am letzten Sonntag – also nur rund fünf Wochen später – marschierten die Taliban auch in Kabul ein, nachdem sie zuvor innerhalb weniger Wochen das ganze Land unter ihre Kontrolle gebracht hatten. USA Today erinnert daran, dass Biden dem afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani und anderen afghanischen Führern gerade Unterstützung zugesagt hatte, „damit sie weiteres Blutvergießen verhindern und eine politische Lösung anstreben". Aber am Sonntag war Ghani bereits aus dem Land geflohen.
Ist die Niederlage wenigstens nicht so schmachvoll wie der Vietnamkrieg? „Das ist nicht Saigon", argumentierte US-Außenminister Antony Blinken am Sonntagmorgen auf CNN und wies Vergleiche mit dem Zusammenbruch Südvietnams 1975 zwei Jahre nach dem Abzug der US-Truppen zurück. „Aber während er sprach“, so USA Today, „eilten Hubschrauber herbei, um Personal aus der US-Botschaft in Kabul zu evakuieren“.
Zwei Kommentatoren der Website Politico erinnern daran, dass Joe Biden lange Zeit „seine außenpolitischen Referenzen als Kernkompetenz angepriesen“ habe, die er in das Oval Office einbringen werde. „Und als er dann im Weißen Haus war, verkündete er stolz, ‚Amerika ist zurück’ auf der Weltbühne. Stattdessen dominierten Chaos und Verwirrung seine erste große außenpolitische Entscheidung.“ Ein Leitartikler der Washington Post schreibt, „die zerstörten oder verlorenen Leben von Afghanen werden zu Bidens Erbe gehören“. Die demokratische Kongressabgeordnete Jackie Speier (Kalifornien) sprach gegenüber dem Fernsehsender NBC von einer „Krise unsagbaren Ausmaßes“. Angesichts der von ihm angezettelten Katastrophe in Afghanistan, so scheint es, verliert US-Präsident Joe Biden ebenso schnell an Rückhalt wie sein afghanischer Amtskollege Ashraf Gani.
Anthropologe: „Biden gab Taliban grünes Licht“
Was ist die Ursache der schnellen Machtübernahme der Taliban und was hätten Amerika und der Westen tun können, um ein weniger bedrückendes und schmachvolles Ergebnis zu erzielen? Mit diesen Fragen wandte ich mich am Montag per E-Mail an den kanadischen Anthropologen Philip Carl Salzman (*1940), emeritierter Professor der McGill University in Montreal. Salzman ist u.a. Autor des Buches Culture and Conflict in the Middle East (2007) und einer Studie über Hirtengesellschaften (Pastoralists: Equality, Hierarchy, And The State, 2018). Anfang der 1970er Jahre verbrachte er im Zuge ethnografischer Studien 27 Monate in einem Hirtenlager der Yarahmadzai, einem Stamm nomadischer Viehhalter in den Wüsten von Iranisch-Belutschistan. Seine Erfahrungen beschrieb er später in dem Buch Black Tents of Beluchistan (2000).
„Niemand redet über die Tatsache, dass die Taliban einen Dschihad gegen die ungläubigen Amerikaner und Europäer führen“, schreibt mir Salzman in seiner Antwort. Über die Jahrzehnte seien sie zu „zunehmend fanatischen Muslimen“ geworden. „Uns im Westen ist es nicht gestattet, den Islam-Teil der Motivation der Taliban zu diskutieren, weil das ‚Islamophobie’ wäre und mithin politisch inkorrekt (das Gleiche gilt für Palästinenser).“ Der religiöse Antrieb aber sei ein Hauptelement der Kriegsanstrengungen der Taliban, schreibt Salzman und erinnert daran, dass das Wort Talib „Schüler der Religion“ bedeutet. „Eine der Schwächen der afghanischen Armee ist, dass auch sie muslimisch ist und es der muslimischen Solidarität widerspricht, gegen die Taliban zu kämpfen.“
Was hätte Biden besser machen können? „Die Vorstellung, dass es nach 20 Jahren unerträglich wäre, wenn auch nur ein paar amerikanische Soldaten in Afghanistan verblieben, ist in höchstem Maße willkürlich“, so Salzman. Amerikanische Soldaten seien schließlich seit mehr als 75 Jahren in Deutschland und Japan, und eine große Zahl in anderen Teilen der Welt. In Spanien etwa gebe es mehr amerikanische Soldaten als jene 2.500, die Biden meinte, um jeden Preis aus Afghanistan abziehen zu müssen. „Es gibt keinen Grund in der Welt, warum diese Unterstützungseinheiten (Geheimdienste, Logistik, Luftunterstützung) nicht dauerhaft hätten bleiben können und so das Patt mit den Taliban aufrechterhalten“, so Salzman. Auf diese Weise hätten die terroristischen Gruppen weiterhin daran gehindert werden können, zusammenzuwachsen und aktiv zu werden. „Biden hat jeden Punkt der Trump-Politik abgelehnt, mit Ausnahme des Rückzugs aus Afghanistan“, schreibt Salzman. Doch die Bedingungen, auf denen Trump noch bestanden habe, habe Biden „annulliert“ und stattdessen einen „bedingungslosen Rückzug“ verkündet. „Das war das grüne Licht für die Taliban.“