"Das Sein bestimmt das Bewusstsein?" Von wegen. Während das „Bewusstsein“– neudeutsch „Haltung“ – noch immer der Fetisch linksgrüner Ideologen und Politiker bleibt, wird es vom „Sein“ der „Menschen da draußen“ auf der rechten Spur überholt.
Jedem, der sich mit linkem Denken beschäftigt, ist die Maxime „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ geläufig. Sie ist ein Grundpfeiler der marxistischen Theorie und Dialektik, die die Geschichte der Menschheit als ein deterministisches System beschreibt, das den herrschenden und beherrschten Menschen sowie ihren Gesellschaften zugrunde liegen soll. Der Satz hat jedoch einen doppelten Boden, der seinen vulgär-linken (revolutionären) Vektor geradezu umkehrt. Denn der ideologische „Konstruktionsfehler“, der diesem Satz schon immer innewohnte, ist, dass seine beabsichtigte „deterministische“ Richtung früher oder später – je nach Fülle angewendeter Herrschaftsgewalt – eine umgekehrte Richtung annehmen kann, die das polit-ideologische „Bewusstsein“ nicht mehr abbildet.
Während heute das „Bewusstsein“ – neudeutsch „Haltung“ – noch immer der Fetisch links-grüner Ideologen und Politiker bleibt, wird es vom „Sein“ der „Menschen da draußen“ auf der rechten Spur überholt. Und nun bestimmt das Sein, jener banale aber nicht unbedingt vulgäre Zustand der „Leute“ im Land, ein anderes Bewusstsein, das sich als Schadensbegrenzung und Selbstverteidigung vom links-grünen Wollen und Sollen bis zur Verachtung und zum Hass entfremdet hat. Linke und Grüne reiben sich die Augen, denn was da auf ihre Netzhaut trifft, will nicht im Cortex der Dogmatiker ankommen, so scheint es.
Ich will damit nicht sagen, dass alles, was Linke und Grüne wollen oder wollten, grundlegend falsch ist und stereotyp in die Irre führt (Arten- und Naturschutz, soziale Sicherheit, „Wohlstand für Alle“, um ein paar Beispiele zu nennen, sind ja nicht rein links-grüne Angelegenheiten). Es ist aber jener Fetisch um das reine, nahezu religiöse „Bewusstsein“, das auch alle eigentlich annehmbaren, konsensfähigen Ansätze zunichte macht. Denn wo selbst gelegentlicher Zweifel, Pragmatismus und Empathie für Andersdenkende verpönt sind, wo die Verschlechterung von Lebensbedingungen, die Steigerung wirtschaftlichen Drangsals, wo Freiheitsfeindlichkeit und neue Bedrohungszustände zu Rissen im Gesellschaftsgefüge führen, kann im Dogma der absoluten Anmaßung nichts Gutes gedeihen. Es fehlt der Mut bei den Grünen, der SPD und den Linken, diese Niederlage vor dem eigenen Unvermögen und dem Mangel an geistesgeschichtlicher Demut einzugestehen.
Wirklichkeit hinter Orchideen-Themen
Jean-Paul Sartre, der französische Philosoph und Existenzialist, hat gesagt: „Wer die Dummköpfe gegen sich hat, verdient Vertrauen.“ Darin stecken die von Grünen und Linken ignorierten Lebenswirklichkeiten und Enttäuschungen, die ich meine. Während die lupenreine Ideologie jene Menschen, die sie zu schützen vorgibt, eigentlich verachtet, ist das demokratische Moment immer auf der Seite der „einfachen“ Leute, also der vermeintlichen „Dummköpfe“. Ihnen wird ein vom „Bewusstsein“ der Obrigkeit aufgezwungenes „Sein“ wie ein Joch aufgebürdet, von oben nach unten: Explosion der Energiekosten, Bedrohung durch Armut und Arbeitslosigkeit, Bürokratie- und Abgabenterror, Migrationsdruck und Kriminalität, Angst vor Wohlstandsverlust und Krieg… Sage mir hier keiner, es seien unverschuldete Naturgewalten, die da über Deutschland hereinbrechen.
Der Verlust von Sicherheit wird mit dem Entzug des Vertrauens quittiert. Wen wundert es? Wir haben es mit einem schlichten Reiz-Reaktionsmuster zu tun, in dem gute Politik und Vertrauen kommunizierende Röhren sind, genauso wie politische Machenschaften und Misstrauen, die heute überwiegen und wie ein Damoklesschwert über Deutschland pendeln. Und da sind wir wieder bei den Herrschaftsstrukturen, die die Mechanismen der Klassengesellschaft auch in der Postmoderne links-grüner Wohlanständigkeit zum „Joch“ formen.
Ihnen, den Linken und Grünen, sind die „Dummköpfe“ über den Kopf gewachsen, weil sie, die linken und grünen Zauberlehrlinge, ihr Gespenst, das wieder in Europa (und Brüssel) umgeht, nicht beherrschen können. Nun heißt das Gespenst „rechte Konterrevolution“, könnte man denken. Natürlich soll es eilfertig als solches in den Medien verleumdet werden, als gäbe es keine Ursachenforschung.
In hermetisch abgeschlossenen, fensterlosen Katakomben
Warum sind die Grünen, die SPD und die Linke gerade in der Defensive? Warum können diese Parteien keine breiten Mehrheiten mehr außerhalb ihrer urbanen Blasen erreichen? Die Antworten scheinen einfach und könnten mit der eiligen Bemerkung zusammengefasst werden, dass diese Parteien die Folgen verfehlter Politik, die sie selbst verursacht oder mitgetragen haben, partout ignorieren – und dass sie sich jenseits der Wirklichkeit hinter Orchideen-Themen verschanzen, mit denen sie stur hausieren gehen, obwohl sich die Mehrheit der Bürger aus Zukunftsangst dafür längst nicht mehr begeistern kann. Doch die neuen Realitäten – so einfach ihre politischen Verursachungen erscheinen – machen es den Menschen im Umgang mit komplexen Zuspitzungen des Alltags unmöglich, noch weiter Vertrauen in links-grüne Luftspiegelungen zu setzen.
„Der Staat muss jetzt alles dafür tun, dass die Menschen sich im eigenen Land wieder sicher fühlen können.“ Diesen Satz hatte Sahra Wagenknecht schon im Juli 2016 gesagt, also ein paar Monate nach der von Angela Merkel ausgelösten Einwanderungs- und Flüchtlingskrise, deren Kollateralschäden schon damals totgeschwiegen werden sollten. Heute sind die Auswirkungen dieser populistisch-opportunistischen Entscheidungen von Angela Merkel zu einer untragbaren, ätzenden Wirklichkeit geworden, die der AfD und dem von Sahra Wagenknecht gegründeten BSW die Wählerstimmen zutreibt.
Beide Parteien sonnen sich gerade in der ebenso populistischen aber deshalb nicht weniger dringlichen Seins-Beschreibung „konterrevolutionärer“ Notwendigkeiten. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, diesmal in umgekehrter Richtung, als es die grün-linken Demagogen beabsichtigt hatten. So schnell kann man seine Weltrettungsziele für Klima, Diversität, Gender und Gerechtigkeit durch politische Inkompetenz schreddern. Die echten Dummköpfe sitzen in den Parteigremien, die anscheinend in hermetisch abgeschlossenen, fensterlosen Katakomben tagen, in die das Heulen der Sirenen nicht hineindringt.
Linke Sozialexperimente und scheinheilige Planversatzstücke
Man muss sich nur die Reden der Delegierten auf den Parteitagen der Grünen und der Linken in der vergangenen Woche anhören, deren eitle Zurschaustellung von Diversität begutachten und das ostentative Nach-Links-Rücken der neuen Parteivorstände staunend zur Kenntnis nehmen: Man will nicht wahrhaben, dass ein weiterer Rückzug auf noch mehr vom Selben den Niedergang dieser Parteien beschleunigen wird. Es ist, als würde ein Kapitän am Kiel seiner Galeere die morschen Planken aufschlagen, um die Ruderer zu höherer Schlagzahl anzustacheln.
Je mehr urbane, ideologische Pseudowirklichkeiten zu überformten Gebilden einer haltungs- und angstindustriellen Planwirtschaft gesteigert werden, desto mehr geht Vertrauen der nicht urbanen, nicht elitären Wählerschaften verloren. Denn auch grüne und linke Wähler an der sogenannten Basis – damit meinen die Parteien abwertend-beschönigend Menschen, die der Rauheit des Alltags ganz unten ausgesetzt sind – erkennen den fatalistischen Fehlgriff der Parteikader, wenn das „Wirk-Reale“ hintangestellt und das „Soll-Ideelle“ stattdessen als knallbunte Farce und Travestie zelebriert werden soll.
In allen Politikfeldern haben wir diesen Ignoranz-Effekt als Elefanten im Raum stehen: In der Wirklichkeit von 2024 gibt es vor lauter Elefanten bald keinen Platz mehr für grüne, linke Sozialexperimente und ihre scheinheiligen Planversatzstücke einer sozialen Marktwirtschaft ohne echte Wirtschaft.
„Rudert nur schneller, ihr werdet das rettende Gestade auch so nicht erreichen“, hört man den Chor schon rufen. Wohl dem, der schwimmen kann
Dieser Text erschien zuerst in gekürzter Fassung im wöchentlichen Newsletter von Achgut.com (jeweils am Freitag), den Sie hier kostenlos bestellen können.
Fabian Nicolay ist Gesellschafter und Herausgeber von Achgut.com.