Von Stefan Stirnemann.
Robert Habecks Doktorarbeit liest sich so, wie er seine spätere Politik gestaltete: einerseits unsauber, unüberlegt und mit falsch verwendeten Begriffen, andererseits unanschaulich und anstrengend.
Der österreichische Fachmann für Plagiate, Stefan Weber, wirft dem deutschen Politiker Robert Habeck vor, er habe in seiner Dissertation gegen die Regeln der Wissenschaft verstoßen. Die Arbeit, mit der Habeck vor rund 25 Jahren von der Universität Hamburg promoviert wurde, trägt den Titel „Die Natur der Literatur, Zur gattungstheoretischen Begründung literarischer Ästhetizität“ und ist in der wissenschaftlichen Buchreihe Epistemata veröffentlicht worden.
Webers Kernvorwurf lautet, dass Habeck viele seiner Zitate aus der Sekundärliteratur übernimmt, mit seinen Quellenangaben aber den Anschein erweckt, es seien eigene Funde. Wer so vorgeht, plündert die Leistung seiner Vorgänger und täuscht den Leser über seine eigene. Besonders der Autor einer Qualifikationsschrift hat die Pflicht, den Stand der Forschung sauber zu erheben, so dass sein persönlicher Beitrag beurteilt werden kann. Die lange Liste der vorgeworfenen Verstöße ist im Netz zugänglich.
Die Universität Hamburg anerkennt offenbar Webers Anmahnungen, jedenfalls empfiehlt sie ihrem Doktoranden die Überarbeitung „bestimmter Zitate und Fußnoten“. Sie verteidigt ihn aber so: „Diese Empfehlungen beruhen auf den heutigen Regeln guter wissenschaftlicher Praxis, welche zum Zeitpunkt der Erstellung der Arbeit zum Teil noch nicht in gleicher Weise formalisiert waren.“ Das ist der Versuch, die jederzeit klare Anforderung an wissenschaftliches Arbeiten mit freundlichem Nebel abzudämpfen.
Die Sache auf den Punkt gebracht hat Gotthold Ephraim Lessing, als er im Jahr 1769 im Streit mit dem heute vergessenen Professor Klotz schrieb:
„Mein wertester Herr, ich finde, dass Sie ein sehr belesener Mann sind; oder sich wenigstens trefflich darauf verstehen, wie man es zu sein scheinen kann. Sie mögen auch wohl hübsche Collectánea [Sammlungen von Zitaten] haben. Ich habe dergleichen nicht; ich mag auch nicht ein Blatt mehr gelesen zu haben scheinen, als ich wirklich gelesen habe.“
Was echte und ehrliche Arbeit ist, versteht sich immer von selbst und braucht nicht formalisiert zu werden.
Und welcher Belesene hat Lessings Satz entdeckt und ans Licht geholt? Es ist Eduard Engel, der vergessene Klassiker des Stils. In seiner „Deutschen Stilkunst“ leitet er mit Lessing eines ihrer kräftigsten Kapitel ein. Es trägt den Titel „Geborgter Geist: Zitat, Manier, Phrase“ und sollte von allen gelesen werden, die schreiben und veröffentlichen wollen.
Leichtfüßiger Umgang mit den Gedanken anderer
Wie zitiert Habeck? An folgender Stelle gar nicht. Habeck interpretiert Paul Celans Prosastück „Das Gespräch im Gebirg“. In dichterischen und rhythmischen Sätzen schildert Celan, wie zwei Wanderer, es sind Juden, unterwegs sind. Sie sind wortkarg, und ihre Stöcke reden zum Stein. Auch der Aargauer Dichter Hermann Burger hat dieses Stück in seiner Dissertation besprochen, fünfundzwanzig Jahre vor Habeck: „Paul Celan. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache“. Er schreibt:
„Der Stock erhält andeutungsweise die Funktion eines Zauberstabes. Er wirkt wie ein verlängerter Finger, mit dem die Welt im Gehen abgetastet wird. Moses hat mit seinem Stab an den Felsen geklopft, bis die Quelle hervorsprudelte; der Stock ist es, der den Stein allenfalls zum Sprechen bringen könnte.“
Habeck zitiert Burger wiederholt, bei dieser Stelle aber sind ihm wohl seine Notizen durcheinandergeraten; er schreibt, als ob es ein eigener Einfall wäre:
„Für jemanden, der wie die Juden schreibwandernd die Natur durchquert, ist der Stock weder ein Zauberstock, der die Natur beredt macht, noch der Stock Moses', mit dem man gegen den Fels schlägt, um Wasser hervorsprudeln zu lassen.“
Von leichtfüßigem Umgang mit den Gedanken anderer zeugt auch ein Satz aus Umberto Ecos Schrift „Zwischen Autor und Text“. In seiner Deutung Celans erwähnt Habeck ein „hermetisches Modell, nach dem das 'Gestammel [der barbaros, der ‹Fremden›] zur heiligen Sprache voller Verheißungen und verschwiegener Offenbarungen wird'“.
Den Wortlaut, den er in Anführungszeichen setzt, führt er auf Eco zurück. Der aber schreibt:
„Der klassische Rationalismus hatte alle, die nicht einmal richtig reden konnten, als Barbaren ausgegrenzt (etymologisch heißt barbaros: Stotterer). Wo man nun alles auf den Kopf stellte, erschien das vermeintliche Stottern des Fremden als heilige Sprache, voller Verheißungen und stummer Offenbarungen.“
Habeck hält es also für richtig, Ecos Wortlaut zu verändern und umzustellen, und wenn er vom „Gestammel der barbaros, der Fremden“ schreibt, so hält er den griechischen Singular bárbaros, den Eco anführt, vielleicht für einen spanischen Plural: los barbaros.
Viele Fragen – der Leser als Lektor
Es ist nicht damit getan, Habecks Zitate und Fußnoten zu prüfen; das Problem dieser Arbeit liegt tiefer und zeigt sich erst, wenn man tut, wozu Habeck sie geschrieben hat, sie also liest. Die Arbeit umfasst ohne Literaturverzeichnis 228 Seiten. Auf Seite 200 teilt der Autor dem Leser mit, dass die Begriffe Gattung, Werk und Stil „im Gang dieser Arbeit unspezifiziert der Argumentation unterlegt wurden“, dass ihr „Verständnis aber noch nachgereicht werden“ müsse. Auch seinen Kulturbegriff hat Habeck „zunächst unspezifiziert“ verwendet. Wenn unspezifiziert soviel bedeutet wie ungeklärt, so hat Habeck genau das versäumt, was die Bedingung wissenschaftlicher Arbeit ist, die Klärung der Begriffe (– nicht erst ab Seite 200).
Für seinen Stilbegriff „reicht“ er folgendes Verständnis „nach“: „Das, was ein Text sagt, ehe er sagt, was er sagt, seine in dem basalen Sinn rhetorische Verfaßtheit, das ist sein Stil.“ Das ist kein Satz der Wissenschaft, das ist ein Aphorismus, der verblüffen will und unklar bleibt. Mit Unklarheiten hat der Leser immer wieder zu kämpfen. Habeck schreibt regelmäßig signifikantiv, so dass man werweißen kann, ob ihm signifikant oder signifikativ vorschweben. Für Hypostasierung schreibt er Hyposthatisierung und Hypostatisierung. Nach solchen Versehen und Fehlern muss man nicht suchen; unwillig wird der Leser zum Lektor. Dazu schreibt Habeck oft unanschaulich, und seine Sätze sind nicht deswegen so schwierig zu lesen, weil sie schwierige Gegebenheiten beschreiben sollen.
Nur geschrieben, aber nie gelesen worden
Was bescheinigt ein Doktortitel der Geisteswissenschaften seinem Träger? „Der philosophische Doktor bestätigt die Kenntnisse guter Bücher und die Fähigkeit zu lesen und zu interpretieren.“ Der schlichte und wahre Satz stammt vom Philosophen Karl Jaspers, der eine erfolgreiche Laufbahn als Mediziner hatte, bevor er Universitätslehrer für Philosophie wurde. Wer interpretieren will, sollte auch beherzigen, was der Dichter Reiner Kunze von ihm verlangt: „Durch Interpretation die Freude am Text mehren – was einerseits das Höchste ist, das Interpretation zu leisten vermag, andererseits aber auch das einzige, das ihr letztlich Berechtigung verleiht.“
Habeck stellt sich in eine Tradition, die den anstrengenden und freudlosen Eindruck vermittelt, man verstehe Dichtung erst dann, wenn man Kant, Wilhelm von Humboldt und Hegel studiert hat. Seine Ausführungen zum protestantischen Christentum, zur Wannseekonferenz, zur Literatur des Mittelalters, zu den Kirchenvätern, zeigen, dass er sich mit manchen Dingen zu wenig vertraut gemacht hat. Höchst unüberlegt geht er vor, wenn er, um Paul Celans Bild des Judentums zu diskutieren, ohne Einbettung und Erklärung eine Zusammenfassung der Wahnvorstellungen Alfred Rosenbergs zitiert, des nationalsozialistischen Philosophen und Hauptkriegsverbrechers.
Vor fünfundzwanzig Jahren hat man einem zweifellos arbeitswilligen, aber oft oberflächlichen Doktoranden die rechte Anleitung vorenthalten. Habecks Dissertation ist nur geschrieben, aber nie gelesen worden. Habeck selbst hat die Mühe gescheut, seine Sätze zu prüfen und zu überarbeiten. Sein Doktorvater und der Zweitgutachter haben ihre Fürsorgepflicht versäumt, ihn zu Verbesserungen anzuhalten. Die Herausgeber der Reihe Epistemata hätten das Werk nicht in diesem Zustand veröffentlichen dürfen.
Robert Habeck, Die Natur der Literatur, Zur gattungstheoretischen Begründung literarischer Ästhetizität (Königshausen & Neumann 2001) Epistemata Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft, Band 360 – 2001.
Stefan Stirnemann, geb. in Aarau, ist ein Schweizer Gymnasiallehrer, Altphilologe, und Journalist. Er ist Kritiker der Rechtschreibreform von 1996 und engagiert sich in Organisationen wie der Schweizer Orthographischen Konferenz. Er publizierte unter anderem in der NZZ und der „Weltwoche“.