Ulli Kulke / 22.10.2012 / 23:00 / 0 / Seite ausdrucken

Betroffenheitsbullen

Warum ist jeder “Tatort”-Ermittler selbst verstrickt in seinen Kriminalfall? Bin ich eigentlich der einzige, den so etwas nervt? Was sagt die wahre Polizei-Szene dazu? Schweigt sie aus Scham, weil alles stimmt, weil es noch schlimmer ist als im Tatort, der angeblich beliebtesten Krimireihe im deutschen Fernsehen? Noch absurder, als es das absurdeste Drehbuch vorgab?

Ich wäre kein guter Kriminalkommissar, jedenfalls nicht im Fernsehen. Weder meine Mutter noch meine Töchter sind oder waren Mörderinnen, noch nie ist zwei Meter neben mir jemand – zufällig – erschossen worden, keiner meiner Neffen wurde je um Millionen erpresst. Solcherlei Katastrophen aber scheinen inzwischen zum festen Profil eines jeden Tatort-Ermittlers zu gehören, seine enge, ganz persönliche Verstrickung in den eigenen Fall. Können wir uns noch an die Zeiten davor erinnern? An Kommissar Trimmel aus den 70ern? An Kressin aus den 80ern, bei dem allein die Erotik eine Rolle spielte?

In unseren Tagen ist es meist kombiniert: Erotik und Verstrickung. In der gestrigen Folge aus Stuttgart wieder, als die Staatsanwältin Habermas, Vorgesetzte der Kommissare Botz und Lannert, sich rettungslos in einen Unternehmer verknallt, mit ihm im Bett landet, und er natürlich – längst absehbar – anschließend zum Hauptverdächtigen im Kriminalfall wird. Oder wenn Kollegin Lindholm in der Badewanne mit ihrer Jugendfreundin planscht und diese anschließend unter Mordverdacht steht. Lindholm, alias Maria Furtwängler, hat viel Erfahrung mit soetwas. Ein anderes Mal zum Beispiel war der Anwalt der Firma, gegen die sie ermittelte, ihr Verlobter. Gewiss, es ist bekannt, dass die Feuerzündler oft Angehörige der Feuerwehr sind und die größten Kritiker der Elche früher selber welche waren. Aber sowas?

Eine Ikone der Tatort-Geschichte ist die Frittenbude am Kölner Rheinufer, an der die Kommissare Max Ballauf und Freddy Schenk immer dann stehen, wenn sie denken, jetzt ist Feuerabend, und es anschließend aber erst richtig los geht. Absehbar also, dass die beiden Kriminaler den Mann hinter dem Tresen irgendwann einmal selbst festnehmen mussten, als Dealer. Was soll das Freddy? Sollen wir das noch witzig finden, besonders originell, einfallsreich, immer noch, nächste Woche auch noch, und übernächste?

Die Sendestationen, die Ermittler und die Spielorte mögen wechseln beim Tatort, einer aber ist immer dabei: Kommissar Zufall. Reichlich billig. Fast tragisch, dass auch der geniale Münsteraner Tatort mit Axel Prahl und Jan Josef Liefers nicht ohne dieses inzwischen langweilige Gewohnheitsdelikt auskommt. Wir Journalisten schreiben doch auch nicht nur Geschichten, in die wir selbst mit Haut und Haar verwickelt sind, keine Reportagen, in denen der selbe Gag immer wieder vorkommt, immer wieder – und nochmal. Alle zwei, drei Jahre vielleicht wäre es noch tolerabel vielleicht, aber das Strickmuster ist inzwischen verkommen zu einer abgenutzten Masche, einer Laufmasche.

Vor vielen Jahren – so lange geht das nun schon – traf ich selbst einmal Kommssar Zufall, einfach so nämlich in einer Kneipe in Berlin-Charlottenburg am Tresen: Jochen Senf, jenen Schauspieler, der den so einfühlsamen Kommissar Palu aus Saarbrücken spielte und als solcher leider längst pensioniert ist. Auf meine Frage, was das Ganze eigentlich solle – auch seine Rolle war einst von solchen Spirenzien nicht vollkommen frei, wobei Saarbrücken ja zugegebenermaßen ein Dorf ist, in dem wirklich jeder jeden kennt – er jedenfalls sagte dann irgendetwas von “Emotionen” und “Einschaltquoten”, wollte aber offenbar nicht darüber reden, wahrscheinlich nervte ihn das auch alles. Ich könnte es verstehen.

Übrigens: Als ich mit Senf da so stand beim Bier am Tresen, da passierte doch drei Tische weiter, ganz zufällig und völlig überraschend eigentlich – kein Mord.

Zuerst erschienen auf Ulli Kulkes Blog bei der WELT.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Ulli Kulke / 02.07.2022 / 06:20 / 85

Audi, Pionier im Volk der „Gickser und Gackser“.

Zwei Drittel der erwachsenen Deutschen lehnen das Gendern ab. VW-Tochter Audi meint hingegen, sich ausgerechnet dieser Szene anbiedern zu müssen. Ein Berliner Renault-Händler zeigt, dass…/ mehr

Ulli Kulke / 22.01.2022 / 12:00 / 0

Im Infight mit Strauß, Ceausescu und Fischer

Erwin Wickert war Spitzendiplomat, Bestseller-Autor und Abenteurer. Achgut-Autor Ulli Kulke hat eine Biografie über ihn verfasst. Kürzlich fand die Buchpräsentation mit Wickerts Sohn Uli sowie…/ mehr

Ulli Kulke / 08.07.2020 / 06:00 / 164

Kulkes Nachhilfe: Der Mohren-Komplex

Eine Nicht-Debatte nimmt ihren Lauf, gewinnt langsam an Schärfe. Und das Ende ist absehbar: Die Mohrenstraße im Zentrum Berlins wird einen anderen Namen bekommen. Die…/ mehr

Ulli Kulke / 04.10.2018 / 06:15 / 54

Bertelsmann und die Brandstifter

Erinnern wir uns noch an die goldenen 68er-Zeiten: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“ Einer der beliebtesten Sprüche damals, der – abgesehen…/ mehr

Ulli Kulke / 25.07.2017 / 17:17 / 14

Betreutes Wetter

Wünschen Sie sich auch endlich besseres Wetter? Denken Sie lieber nochmal darüber nach. Vordergründig ist die Lage so: Der Sommer ist bisher unter aller Kanone.…/ mehr

Ulli Kulke / 08.03.2017 / 20:00 / 7

Wie aus einem Afrikaforscher ein Verbrecher gemacht wird

Wer war Gustav Nachtigal? Ein rassistischer Schlächter, in Reichskanzler Bismarcks afrikanischen Diensten? Ein Verbrecher? So wird es gerade in einer großen Ausstellung in einem der…/ mehr

Ulli Kulke / 13.02.2016 / 10:30 / 3

Ein Hoch auf die Grundlagenforschung! Star Trek live sozusagen.

Jetzt mal was ganz anderes. Endlich! Im Weltall wurden Gravitationswellen nachgewiesen! Bei der Nachricht hört man förmlich das Wummern jenes Riesenapparates aus dem Science-Fiction-Film “Contact”.…/ mehr

Ulli Kulke / 12.01.2016 / 10:30 / 3

Was Köln mit Fukushima zu tun hat

Der Silvesterkrawall in Köln werde nur ausgenutzt von interessierten Kreisen, hören wir allenthalben. Die Ängste würden nur geschürt, alles nutzt nur den Falschen. Wie war…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com