Auf den ersten Blick machte der Ostersonntagsgottesdienst in der Dresdner Hofkirche einen seriösen Eindruck. Doch dann kamen die Fürbitten.
Für die katholische Kirche ist das evangelisch-lutherische Kernland Sachsen tiefe Diaspora. Eigentlich sollte man denken, dass hier, unter dem Joch der andersgläubigen Mehrheit, besonders fest auf Traditionen beharrt wird, um erkennbar als Alternative zu erscheinen, zumal sich die römisch-katholische Kirche, ungeachtet aller ökumenischen Dehnübungen, nach wie vor als die einzige, wahre Kirche Jesu Christi auf Erden begreift, wobei man nicht so weit gehen muss wie der frühere Präfekt der katholischen Glaubenskongregation, Josef Ratzinger, der den „Kirchen der Reformation“ die Anerkennung als „Kirchen im eigentlichen Sinne“ verweigert hatte, weil ihnen das sakramentale Priestertum fehle.
Auf den ersten Blick machte der Ostersonntagsgottesdienst in der Dresdner Hofkirche, der Kathedrale der sächsischen Katholiken, den man dankenswerterweise bis heute im Livestream verfolgen kann, einen seriösen Eindruck: Die Glocken des von Gaetano Chiaveri in filigranem Dresdner Barock errichteten Gotteshauses läuteten würdig das Pontifikalamt ein, der Einzug des Bischofs im ansehnlich bevölkerten Kirchenschiff erfolgte zu feierlicher Orgelmusik, im weiteren Verlauf wurde ausnehmend schön musiziert, schließlich befindet man sich in einer Musikstadt mit einem der besten Orchester der Welt, der Sächsischen Staatskapelle, und einem berühmten Chor, dem Dresdner Kreuzchor. Letzterer gehört allerdings zur anderen Seite.
Störend wirkten die allgegenwärtigen Corona-Masken – bis auch die Kirchen ihren „Freedom Day“ feiern, werden wohl noch ein paar Jahrhunderte ins Land ziehen. Stilbewusste Kirchgänger dürften auch die schneeweißen Kutten des nicht-priesterlichen Personals irritieren. Sie erinnerten weniger an traditionelle Chorgewänder als an das Outfit von Freikirchen oder noch obskurerer Vereinigungen wie der Scientology-„Kirche“.
„Wir bitten dich, erhöre uns“
Das liturgische Geschehen an diesem 17. April nahm seinen wohlgeordneten Lauf, bis sich der von Bischof Heinrich Timmerevers, einem freundlichen Westfalen, geleitete Gottesdienst den Fürbitten näherte. Während die Predigt noch einem Geistlichen obliegt und sich idealerweise, wenn auch leider immer seltener, ausschließlich um die in den vorherigen Lesungen und dem Evangelium ausgebreiteten Glaubensinhalte rankt, sind die Fürbitten jener Ort, an dem sich der Zeitgeist mehr oder weniger ungeschminkt Geltung verschaffen kann. Vor allem für traditionsbewusstere Gläubige ein Ort ständigen Ärgernisses, zuweilen auch für Heiterkeit.
Im dem seit der Liturgiereform des Zweiten Vatikanums gültigen katholischen Messbuch rangieren die Fürbitten unter „Allgemeines Gebet“. Im „Gebet der Gläubigen antwortet das Volk gewissermaßen auf das gläubig aufgenommene Wort Gottes, trägt Gott Bitten für das Heil vor und übt so sein priesterliches Amt aus, das es durch die Taufe empfangen hat“.
Solcherlei Fürbitten gab es schon in der alten Kirche, sie gerieten aber im Laufe der Jahrhunderte als fester Bestandteil der Messfeier in Vergessenheit. Bis zu ihrer Wiedereinführung im Zuge der Liturgiereform wurden Fürbitten fast nur an Karfreitag gesprochen.
Natürlich darf man in den Fürbitten nicht sagen, was man will, sie folgen einem bestimmten Muster und seien „schlicht, mit kluger Freiheit sowie in wenigen Worten abzufassen“, wie es im Missale heißt. Eingeleitet und beschlossen werden sie vom zelebrierenden Priester. Die Bitten richten sich an „Gott, den Vater“ oder an „Jesus Christus, unseren Herrn“ und betreffen, der Reihe nach: die Kirche, die Regierenden beziehungsweise das Heil der Welt, die Notleidenden und die jeweilige Ortsgemeinde. Die Gemeinde antwortet litaneihaft mit dem gesungenen oder gesprochen Ruf „Wir bitten dich, erhöre uns“.
Vorbildlich gegenderte Fürbitte
Vor der jeweiligen Fürbitte ist heute ein Vorschaltsatz notorisch, gewissermaßen ein Framing, das die Gedanken der Gläubigen schnell in die gewünschte Richtung lenken soll. Bei der dritten Fürbitte im Dresdner Pontifikalamt klang das so: „In Deutschland wird über Waffenlieferungen diskutiert, bei den Ostermärschen diskutieren viele über Abrüstung und Gewaltfreiheit... Wir beten für die politisch Verantwortlichen in unserem Land, die folgenreiche Entscheidungen treffen, für alle, die eine stärkere Unterstützung für die angegriffene Ukraine fordern, für alle, die sich für eine diplomatische Lösung einsetzen.“
Man merkt den porzellanhaft ziselierten Sätzen an, wie hier in einem schlicht möblierten Raum des bischöflichen Ordinariates buchstäblich um jedes Wort, jede Silbe gerungen wurde. „Vorbildlich ausgewogen“ könnte man den Wortjongleuren attestieren, aber sollte die Kirche nicht jener Ort sein, wo vorbehaltlos für ein möglichst schnelles Ende von Krieg und Gewalt gebetet und gepredigt wird, und wo keine Rücksicht auf eine wie auch immer beschaffene Mehrheitsmeinung oder politische Interessen genommen werden muss?
Lassen wir jene vorbildlich gegenderte Fürbitte außen vor, in der die schwere Arbeit der „Bestatterinnen und Bestatter“ zu Rede stand, und wenden wir uns jener Sequenz zu, in der es um das bedrückende Schicksal einer gerade zurückgetretenen Bundesministerin geht. Der Rücktritt von Familienministerin Spiegel, heißt es da, habe „Menschen berührt“. „Wir beten für alle, die persönliche oder familiäre Belastungen aushalten müssen, für alle, die Familie und Beruf unter einen Hut bekommen müssen und dabei an ihre Grenzen kommen.“
Wunderliche Welt des Glaubens
Abgesehen von den reichlich umgangssprachlichen Formulierungen stellt sich die Frage, warum man sich in diesem Text zumindest indirekt die lauen Ausflüchte der grünen Dame zu eigen macht, die behauptete, ihren Amtspflichten nicht korrekt nachkommen zu können, weil sie überlastet gewesen sei. Aber nein, Anne Spiegel ist nicht zurückgetreten, weil sie Familie und Beruf nicht „unter einen Hut“ bekommen konnte, sondern infolge ihrer eklatanten Fehler bei der Bewältigung der Flutkatastrophe im Ahrtal, als sie noch Familien-, Umweltministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz war. Und wegen der Halbwahrheiten und Lügen, mit denen sie ihr Fehlverhalten zu vertuschen versuchte.
„Nicht wenige Menschen in diesem Land arbeiten mindestens genauso hart wie Spitzenpolitiker, haben auch Familie, kennen kaum Freizeit, jammern darüber aber nicht öffentlich“, heißt es in einem Kommentar der FAZ: „… diese Härte ist bekannt und frei gewählt. Es kann auch keine Rede davon sein, dass Fehler in der Politik nicht verziehen würden. Die meisten Rücktritte haben ihre Ursache gar nicht in Fehlern, sondern im Umgang mit ihnen.“ Hoffen wir also, dass die Dresdner Hofkirchgemeinde im letzten Juli genauso vorbildlich für die Opfer der Flut gebetet hat wie jetzt für die von ihrer eigenen Unfähigkeit überforderte Ministerin.
Die letzte Fürbitte im Dresdner Ostersonntagsgottesdienst galt einmal mehr der Corona-Pandemie. „Viele Corona-Maßnahmen wurden inzwischen gelockert. Wir beten für alle, die sich darüber freuen, sowie für alle, die den Lockerungen skeptisch oder zurückhaltend gegenüberstehen, für diejenigen, die aktuell mit Covid-19 infiziert sind, für alle, die mit schweren Verläufen oder Langzeitfolgen zu kämpfen haben und für alle, die an einer Coronainfektion oder durch andere Krankheiten verstorben sind.“
Wunderliche Welt des Glaubens: Warum soll man für Menschen beten, die sich freuen, dass sie gnädigerweise einen Teil ihrer Menschen- und Bürgerrechte zurückerhalten haben? Weil sie nicht ganz bei Trost oder möglicherweise schuld daran sind, dass andere Menschen mit Covid-19 infiziert oder daran gestorben sind? Hätte man sich statt dieser staatstragenden Litanei mit der offensichtlichen Botschaft, es mit den „Lockerungen“ nicht zu übertreiben, nicht folgenden Satz gewünscht: „Die Corona-Pandemie hat tiefe Gräben in der Gesellschaft aufgerissen. Wir beten darum, dass diese Gräben wieder zugeschüttet werden und alle Menschen wieder ohne Angst und Hass auf andere miteinander leben können.“
Aber das wäre wohl zu viel verlangt in einer Kirche, die ängstlich darauf bedacht ist, den Mächtigen zu Diensten zu sein. Sonst könnte vielleicht jemand auf den Gedanken kommen, die Kirchensteuer abzuschaffen, was die prächtige Fassade dieser personell und spirituell entkernten Institution namens Amtskirche endgültig zum Einsturz brächte.