Chaim Noll / 13.08.2018 / 11:30 / Foto: In-bar / 4 / Seite ausdrucken

Besuch an der Gaza-Grenze

Wir sind in Beer Sheva losgefahren, ein deutscher Journalist und ich, in seinem Auto, ich sitze müßig, rede, frage, höre zu. Er kommt aus Jerusalem und erzählt Neuigkeiten aus der Hauptstadt. Erst geht es auf der neuen Autobahn Nummer sechs Richtung Süden, dann haben wir sie verlassen, uns langsam über Landstraßen bewegt. Die großen Betonblöcke kommen dennoch ganz unerwartet. Der Wachturm, auf dem ein Soldat sitzt und mit dem Fernglas nach Süden schaut. Die Gaza-Grenze ist so nahe und tauchte so unverhofft auf, dass ich sie nicht bemerkt habe. Plötzlich sind wir da. Die hellen Silos weiter vorn an der Chaussee stehen schon im Niemandsland.

Der Soldat macht uns Zeichen aus seiner Höhe, wir halten, er lässt uns im wirren Hin und Her eines gebrüllten Dialogs wissen, dass wir, wenn wir dort vorn links abbiegen, nach wenigen Hundert Metern direkt an die Grenze kommen und „alles sehen“ können. Denn hier stören wir die bunten Trucks, rot oder knallgelb, die ins Niemandsland fahren und Split oder Steine holen. Am Strand, ein paar Kilometer weiter, entsteht, wie ich vor einigen Tagen in der Zeitung las, eine neue „Unterwasser-Befestigungsanlage“.

„Alles sehen“ meint die road blocker im Vordergrund, eine orthogonal zu unserer Straße verlaufende Piste, über die einmal in der Viertelstunde, die wir dort verbringen, ein bleiches, gepanzertes Fahrzeug rumpelt, mit Antennen gespickt, stumm und lustlos. Parallel dazu der aus dem Fernsehen bekannte Wall von dunkelgelbem Sand, hinter dem die israelischen Scharfschützen liegend Deckung nehmen, hier mit Gesträuch gesprenkelt, mit halb verdorrten, am Rande des Todes vegetierenden Pflanzen. Der eigentliche Grenzzaun ist hinter dem Sandwall nicht zu sehen. Weiter hinten, vielleicht zehn Minuten Autofahrt entfernt, türmt sich der Beton von Gaza City. Eine durch ihre Enge, das völlige Fehlen von Grün, das Nebeneinander von bewohnten Gebäuden und Ruinen einzigartige Stadtlandschaft.

Es gibt keinen leeren Ort auf der Welt. Auch dieses Niemandsland ist bewohnt, von wilden Hunden. Sie sehen elend aus, schmutzig, durstig, gottverlassen. Als wir uns nähern, laufen sie davon über den glühenden Sand. Ich empfinde sofort ein starkes, diffuses Mitgefühl. Große, schöne Hunde, nur in hoffnungsloser Lage. Ich möchte sie in mein Haus nehmen, pflegen, versorgen. Dabei weiß ich, dass sie mein Mitleid sehr bald, eines Nachts, mit etwas vergelten würden, was ich als undankbar empfände. Ich habe es vor Jahren mit solchen Hunden versucht. Sie liefen weg, immer wieder, gruben sich unter dem Zaun hindurch ins Freie, flohen zurück in ihre Sphäre.

Bei dieser Hitze haben nicht mal Hamas-Kämpfer Lust

Alles, was ich für sie tun kann, ist: sie in Ruhe lassen. Meinen Besuch an dieser Grenze hinter mich bringen. Mein Herumstehen und Starren ins Unvermeidliche. Weggehen, damit sie zurück trotten können, durch Niemandsland, Hitze und Sonnenglut, sich wieder in den Schatten der road blocker legen, der vom Sand vergilbten Betonblöcke mitten auf dem Asphalt der unterbrochenen Fahrbahn. Die ihnen Schatten spenden, ein wenig Erleichterung. Ich habe sie dort gestört, indem ich am Rand des Niemandslandes aufgetaucht bin. Mehr, als das ich wieder verschwinde, erhoffen sie nicht von mir.

Uns umfängt vollkommene Stille. Heute ist „nichts los“, jedenfalls nicht an dieser Stelle der Grenze. Soweit das Auge reicht. Nur weit rechts im Bild ein paar Fontänen von weißem, aufgepeitschten Sand, die von Schüssen herrühren können, aber auch vom starken, böigen Wind dieses Vormittags, der unweit von hier, am Gestade des Mittelmeers, für guten Wellengang zum Surfen sorgen müsste. Bei dieser Hitze, sage ich zu meinem deutschen Besucher, haben nicht mal Hamas-Kämpfer Lust, ihre Steinschleudern und Feuerdrachen an die Grenze zu schleppen. Er lacht. Du meinst, die sind heute lieber am Strand?

Ja, und das sollten wir auch tun, antworte ich. Hier in der Nähe ist ein bewachter Strand mit einer Basis der Armee gleich nebenan, Süßwasser-Duschen und Strandcafé.

Wir fahren zum Kibutz Zikim, der nur drei Kilometer hinter der Gaza-Grenze liegt. Gegründet vor siebzig Jahren von rumänischen Einwanderern der linken Jugendorganisation Shomer HaZair. Später, nach der argentinischen Wirtschaftskrise, kamen Juden aus Südamerika hinzu. Der Kibuz ist bekannt für seine Mango- und Avocado-Plantagen. Unser Sohn hat in der Militärbasis, die gleich neben dem Kibuz liegt, einen Teil seines Wehrdienstes absolviert. Auf der kurzen Fahrt passieren wir ein Stück schwarze Steppe und die kahlen Gerippe verbrannter Bäume, Überreste eines der vielen Brände dieses Frühjahrs, ausgelöst durch die Feuerdrachen aus Gaza. Gleich danach, noch trauriger, eine Anpflanzung von Sonnenblumen, die aufgegeben wurden. Indem man die Bewässerung einstellte. Die schon meterhohen Pflanzen verwelkt, vertrocknet, zusammengebrochen. Das Niemandsland weitet sich aus. Man schafft Schutzzonen. Auf israelischem Gebiet.

Der Gaza-Streifen saugt Geld auf wie ein Schwamm

Und immer wieder am Horizont: der graue Beton-Koloss von Gaza City. Darüber der strahlend blaue Himmel, in den sich die scharfkantigen Steinklötze einschneiden wie die Felsen auf den Bildern von Segantini. Auf dem Weg zum Strand sprechen wir über die neuesten Projekte, dem Elend abzuhelfen. Eine große Meerwasser-Entsalzungsanlage soll gebaut werden, von israelischen Spezialisten, um die akute Wasserknappheit der 1,8 Millionen Menschen „im Streifen“ zu erleichtern. Das Geld dazu werde, wie es etwas ungefähr in den Berichten heißt, durch „international funding“ aufgebracht. Falls es nicht vorher veruntreut wird, sage ich. Mein deutscher Freund stimmt zu: Der Gaza-Streifen sauge Geld auf wie ein Schwamm. Und sei dennoch immer trocken. Die Meinungen der israelischen Bevölkerung zu dem Projekt sind ohnehin geteilt: Viele finden es absurd, dem Gegner in einem seit Jahren schwelenden Krieg auch noch die Infrastruktur zu liefern.

Wir nehmen ein leichtes Mittagessen im Speisesaal des Kibutz Zikim, um uns nicht unnötig zu beschweren an diesem heißen Tag, Salate, gebackene Auberginen, eingelegte Pilze. Dazu das klare, spritzige Wasser, das in den Karaffen auf den Tischen steht, eisgekühlt, mit ein paar Scheiben Zitrone. Wir sitzen fast eine Stunde, reden über Deutschland, die Dürre, die Flüchtlinge, die aufsteigende Partei von rechts. Der Saal hat sich geleert, kaum noch jemand an den langen Tafeln.

Zwei Frauen in weißen Kitteln, die laut, über viele Meter miteinander russisch sprechen und die Tische abräumen. Bisher hatten wir nicht den Eindruck, dass sich irgendjemand im Kibutz Zikim für die nahe Gaza-Grenze interessiert. Der Kibutz hat weitreichende Geschäfte, neben den Mango-Plantagen gibt es eine große Molkerei und eine Fabrik für leichte Kunststoffe („integrierte Polyurethane“), die in Medizintechnologie und Luftfahrt eine Rolle spielen, und niemand von den eilig eintretenden, essenden, gleich darauf verschwundenen Mitarbeitern erweckte den Eindruck, überflüssige Zeit zu haben.

Doch die Frauen in Weiß winken uns zu, zeigen auf die Fenster des Speisesaals nach Süden, fragen: Wollt ihr Gaza sehen? Sie gehen davon aus, dass es uns als Ortsfremde interessieren muss: die drohende Nähe, die graue, unheimliche Kulisse Tag und Nacht am Horizont. Wir tun ihnen den Gefallen, stehen auf, starren nochmals auf die Fassaden, dunklen Fensterlöcher, spitzen Lanzen der Minarette. Seid ihr oft unter Beschuss? frage ich die Frauen. Und will wissen, wie viel Zeit sie dann haben, um in den miklat, den Schutzraum zu laufen. Fünfzehn Sekunden, sagt die eine. Kommt auf die Rakete an, die andere. Sie haben verschiedene Sorten. Und fügt hinzu: 2014 haben sie versucht, über den Strand einzudringen. Vom Meer aus. Da hatte ich das erste Mal Angst.

Das schnelle Aufstehen in der Nacht

Die andere nickt. Es ist so sinnlos..., sagt sie im Umdrehen, als sie zurück geht zu ihrem Eimer mit der Seifenlösung und den Lappen, um weiter die Tische abzuwischen. Schwer zu verstehen, denke ich auf dem Weg zum Auto, dass es außer unserer noch eine andere Logik gibt, eine Logik, wonach der Sinn des Menschenlebens darin besteht, anderen, weil sie anderen Glaubens sind, das Leben zur Hölle zu machen.

Bis 2005 war Gaza unter Kontrolle des israelischen Militärs. Und, von außen gesehen, relativ ruhig. Unser Sohn war mehrmals zum Reservedienst „im Streifen“, meine Frau hat dann Wochen lang kaum geschlafen. Manchmal, wenn wir mit ihm telefonierten, hörten wir das Tackern der Maschinenpistolen im Hintergrund oder das dunkle Wummern der Einschläge. Das war Jahre, bevor es auch in unserer Gegend Einschläge gab und Raketenalarm und das schnelle Aufstehen in der Nacht, um rasch in den Schutzraum zu kommen. Damals waren wir froh wie Tausend andere Eltern, als sich die Armee aus dem Streifen zurückzog und er nicht mehr dort hin musste.

Der Strand von Zikim liegt gleich hinter der Armee-Basis. Hier vom Meer aus einzudringen ist fast unmöglich, die fünf Hamas-Kämpfer, die es in jener Sommernacht 2014 versuchten, wurden schon beim Anlanden getötet. Alles ist gesichert, ganz vorschriftsmäßig: Der Wachturm mit den Rettungsschwimmern, der betonierte Parkplatz, die Sportgeräte, Süßwasser-Dusche, das Café mit der weiten hölzernen Terrasse.

Dort sitzen wir nach dem Bad und schlürfen Eiskaffee aus Plastikbechern. Eine steife Brise weht, der Wellengang ist hoch genug, um zu surfen, und vom Turm, über Lautsprecher, müssen immer wieder Leichtsinnige ermahnt werden. Ich erinnere mich, dass in der Zeitung von einer zweiten Aufgabe der neuen „Unterwasser-Befestigungsanlage“ die Rede war: „Gleichzeitig soll der Bau als Wellenbrecher den Strandbesuchern zugutekommen, die baden wollen. Geplant ist ein Brecher aus Beton, über Wasser Steinblöcke und Stacheldraht. Ein befestigter Zaun unter Wasser soll den Wellenbrecher umschließen.“

Man soll das Unangenehme immer mit dem Nützlichen verbinden.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Günter K. Schlamp / 13.08.2018

Danke für diese Reportage!  In “meiner” - wie lange noch? - FAZ erfahre ich dagegen nur von jeder neuen Verfehlung Nethanjahus, im öffentlich-rechtlichen TV gibt es die Pallywood-Inszenierungen zu sehen.

Frank Box / 13.08.2018

Ein sehr schöner Bericht! Soetwas würde ich hier gern öfter lesen. - Zu Gaza möcht ich sagen, dass der Abzug der schrecklichste Fehler war, den Israel in seiner jüngeren Geschichte gemacht hat. Ich prophezeie schon jetzt, dass man den Gaza-Streifen irgendwann ganz räumen muss! Dass wird nur unter Schmerzen geschehen, und Israel sehr viel Geld kosten. Denn freiwillig wird die Bevölkerung dort nur abziehen, wenn man ihnen im Westjoran-Land etwas Besseres bietet. Sobald Israel komplette Siedlungen mit Infrastuktur bereitstellt, werden die Menschen nach und nach dorthin umziehen. Irgendwann ist die Hamas dann in Gaza ganz allein. Nach kompletter Räumung durch das Militär steht Gaza dann wieder für israelische Siedler bereit. Die werden überwiegend aus dem Westjordanland kommen, und sind der Preis, den Israel an die palästinensische Automiebehörde für deren Mitarbeit zu zahlen hat.

Wilfried Cremer / 13.08.2018

Missstände bekämpft man. Ab einer gewissen Größe des Übels aber kippt diese Logik. Wichtigstes Beispiel: Der Islam, der Krebs, an dem die Menschheit leidet, besonders die armen Muslime.

Emmanuel Precht / 13.08.2018

...der Wellengang ist hoch genug… Der Ausdruck Seegang (fälschlich auch: Wellengang) bezeichnet im Allgemeinen eine unregelmäßige, statistisch verteilte Oberflächenerscheinung der Ozeane… [WIKI] Wellengang ist ein konstruktiver Bestandteil an der Bordwand eines im Wasser fahrenden Fahrzeugs. Es bezeichnet den Teil der Bordwand der aufgrund der Wellenbildung mal im mal außerhalb des Wassers sind. Ein anderer Ausdruck dafür ist der “Gang zwischen Wind und Wasser”. Wohlan…

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Chaim Noll / 25.03.2024 / 06:30 / 43

Die Juden-Selektion der deutschen Linken

Einige aus der NS-Zeit bekannte Methoden im Umgang mit Juden erfreuen sich zunehmender Beliebtheit bei deutschen Linken, besonders bei grünen Funktionsträgern. Betroffen sind israelische Staatsbürger,…/ mehr

Chaim Noll / 11.03.2024 / 06:15 / 68

Deutschlands Dunkel – das Licht der Linken

Sollte der „Kampf gegen Rechts“ sein Endziel erreichen, wird Deutschland das, wovon die Betreiber der Kampagne träumen: ein durchgängig linkes Land. Die sich „links“ nennen,…/ mehr

Chaim Noll / 02.03.2024 / 10:00 / 31

Ist Yuval Avraham ein „Antisemit“? Oder Claudia Roth? Oder ich?

Das Wort „Antisemitismus" taugt noch als Popanz im „Kampf gegen Rechts“, aber am eigentlichen Problem geht es glücklich vorbei. Fasziniert verfolge ich aus der Ferne…/ mehr

Chaim Noll / 27.01.2024 / 06:00 / 128

Der Faschismus von Links

Der stupide Aufruf eines Spiegel-Kolumnisten zur „gesellschaftlichen Ächtung“ von AfD-Wählern ist faschistoid, weil er auf die Ausgrenzung und Vernichtung Andersdenkender zielt.  Manchmal, wenn ich deutsche Medien lese,…/ mehr

Chaim Noll / 20.01.2024 / 06:00 / 46

Südafrika-Klage gegen Israel: Wer im Glashaus sitzt…

Vor dem Hintergrund des massenhaften Mordens im eigenen Land ist die Klage Südafrikas vor dem Gerichtshof in Den Haag nichts als eine Farce. Für viele…/ mehr

Chaim Noll / 06.01.2024 / 06:00 / 72

Deutschlands Pakt mit dem Terror

Westliche Staaten, allen voran Deutschland, pumpen seit Jahrzehnten üppige Summen Geldes in die Palästinensergebiete, ohne dass sich dort etwas Nennenswertes entwickelt hätte. Die Milliarden landen…/ mehr

Chaim Noll / 31.12.2023 / 12:00 / 32

Warum ich mich trotzdem auf 2024 freue

Der Autor lebt im Süden Israels, und nur wenige Kilometer von ihm entfernt ist Krieg. Welche Hoffnungen verbindet er mit dem Jahr 2024 für Israel…/ mehr

Chaim Noll / 10.12.2023 / 10:00 / 112

Was ist seit 2015 an deutschen Schulen geschehen?

In der neuesten Pisa-Studie, die vergangene Woche vorgestellt wurde, schneiden die deutschen Schüler so schlecht ab wie noch nie. Der Abstieg nahm nach 2015 dramatische…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com