Gute neue Bands sind zwar rar geworden, aber hin und wieder stößt man doch auf sie.
Ronnie D'Addario muss der stolzeste Vater im gesamten Musikuniversum sein. Bei zwei so prächtigen Söhnen, die unter dem Namen The Lemon Twigs seit 2016 fünf überaus beachtliche Alben vorgelegt haben und damit nicht nur in die Fußstapfen ihres alten Herrn, seines Zeichens Musiker und Songwriter aus Manhattan, getreten sind, sondern sogar noch ein paar Schippen draufgelegt haben. Ich höre ja immer wieder, dass es keine gute Musik mehr gebe. Aber wahrlich, ich sage euch: Es gibt gegenwärtig mehr gute Musik denn je! Man findet sie nur nicht mehr so leicht wie früher, wo sie einem in Radio und Fernsehen auf dem Silbertablett serviert wurde. Heute muss man seine Antennen schon nach allen Richtungen ausrichten und aktiv danach suchen.
Im Falle der Lemon Twigs habe ich den Tipp von einem – ich nenne ihn mal respektvoll – Bekannten bekommen. Ich lernte ihn 2018 durch eine gemeinsame Freundin beim E.L.O.-Konzert in München kennen. Wir tauschten Kontaktdaten aus und verabredeten uns bald darauf wieder in der Bayernmetropole zum Weißwurstfrühstück in der legendären Gaststätte Großmarkthalle.
Danach führte er mich zu den Plattenläden seines Vertrauens und schwärmte mir von P.F. Sloan, Jimmy Webb, Curt Boettcher, Emitt Rhodes und eben von Ronnie D'Addario und seinen beiden Söhnen, die sich The Lemon Twigs nennen, vor. Wir waren gerade dabei, uns anzufreunden, als er überraschend schwer erkrankte und nicht lange Zeit danach verstarb. Ich erfuhr davon aus dem Radio und habe erst dann realisiert, mit wem ich da unterwegs gewesen bin. Also, lieber Bernd, wenn du das hier irgendwie mitkriegst: Herzlichen Dank für den herrlichen Tag in München und die wunderbaren Lemon Twigs!
Kreativität und Abwechslungsreichtum
Brian und Michael D'Addario haben die Musik quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Schon als Kinder lernten sie, verschiedene Instrumente zu spielen und standen bei Broadway-Musicals auf der Bühne oder wirkten bei TV-Shows mit. Als sie ihr erstes Album mit eigenen Songs aufnahmen, waren sie gerade mal 15 und 17 Jahre alt. Auf ihrem Debüt „Do Hollywood“ aus dem Jahr 2016 spielen die beiden Multiinstrumentalisten so gut wie alle Instrumente selbst, was von Schlagzeug, Bass und Gitarre über Klavier und diverse Keyboards bis hin zu Violine, Cello und Trompete reicht. Und singen können die beiden natürlich auch noch. Und das Beste: Sie haben einen großartigen Humor und scheuen sich nicht davor, sich in ihren Videos selbst durch den Kakao zu ziehen.
Dazu sprüht ihre Musik vor Kreativität und Abwechslungsreichtum und ist so intelligent komponiert, dass sie sich durchaus mit den Allergrößten in Sachen Pop und Rock messen kann. Mal fühlt man sich an die Beatles erinnert, mal schnappt man eine Melodielinie auf, die Assoziationen zu Queen hervorruft, dann meint man wieder Einflüsse von Brian Wilson und den Beach Boys herauszuhören, nur um sich bald in den Gefilden der New York Dolls, Todd Rundgren, Mott the Hoople oder dem Glamrock der frühen Roxy Music wiederzufinden. Apropos: Mit Glamrock-Attitüden kennen sich die beiden auch sehr gut aus, wie sie im Video zu ihrer Single „The One“ von ihrem dritten Album „Songs for the General Public“ (2020) eindrucksvoll unter Beweis stellten.
Letztes Jahr brachten die zwei genial verrückten Brüder mit „Everything Harmony“ ihr, für mein Dafürhalten, bestes Album seit ihrem Debüt heraus. Auch wenn die Scheibe insgesamt ruhiger und braver ausgefallen ist, als die vorhergehenden, und nicht die überraschenden Wendungen ihres Erstlings aufweist, so stellt jeder einzelne Song des Albums doch eine Klasse für sich dar: mit exzellentem Songwriting, clever komponierten Melodielinien, ausgefeilten Arrangements und himmlischen Chorgesängen. Das muss ihnen erst einmal einer der Heutigen nachmachen. Es ist schier unfassbar, über welches Maß an Musikalität die beiden Youngster verfügen und wie gekonnt und souverän sie schon in jungen Jahren ihre Instrumente beherrschten. Gerade erst ist ihr neuestes Album „A Dream Is All We Know“ erschienen, mit dem sich das vielleicht talentierteste Geschwister-Duo seit den Carpenters ein weiteres Mal als einer der interessantesten Pop-Acts der Gegenwart empfiehlt. Oder wie ein Rezensent anlässlich ihrer neuen Scheibe bemerkte: „The only band that matters.“
YouTube-Link zu ihrer ersten Single „These Words“ von ihrem Debütalbum – ich sage nur: 15 und 17!
YouTube-Link zum durchgeknallten Video zu „The One“ von ihrem dritten Album
YouTube-Link zum Video zu „In My Head“ von ihrer vierten LP, in welchem die traditionsbewussten Brüder John Lennons Malibu-Beach-Interview von 1973 nachstellen
Hans Scheuerlein ist gelernter Musikalienfachverkäufer. Später glaubte er, noch Soziologie, Psychologie und Politik studieren zu müssen. Seine Leidenschaft gehörte aber immer der Musik.