Erinnern wir uns noch an die goldenen 68er-Zeiten: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“ Einer der beliebtesten Sprüche damals, der – abgesehen von der lasziven Grundeinstellung – eines verdeutlichen sollte: Establishment? Pfui, das sind die anderen, Pfoten weg! Eine reichlich simple Weltanschauung war das. Heute würde man sagen: Populismus pur. Würde man? Nein. Alles ganz anders. Heute, da diejenigen, die damals das Establishment aufmischen wollten, nach ihrem Marsch durch die Institutionen und vor allem durch die Redaktionen inzwischen selbst das Establishment ausmachen, da klingt das ganz anders. Da gilt das Gegenteil.
Die Bertelsmann-Stiftung hat gerade eine Studie vorgelegt, deren Kernthese lautet: Ein Drittel der Deutschen frönt dem Populismus. Tendenz steigend. Die Kriterien? Die Autoren nennen da zum Beispiel diese: „Anti-Establishment“ und „Pro-Volkssouveränität“. Zusammengefasst klingt das bei Bertelsmann dann so: Dem „wahren Volk“ stünden „korrupte Eliten gegenüber“. Wer so denke, der denke populistisch. Gespenstisch.
Wenn es nur die Bertelsmann-Stiftung wäre. Doch es geht vielmehr insgesamt um das, was man früher vielleicht als die „politische Klasse“ bezeichnet hätte. Nicht das wirtschaftliche Establishment, die „Kapitalisten“, werden hier als Opfer von anstürmenden oder eben anwählenden Revolutionären dargestellt. Vielmehr fühlen sich diejenigen, die sich nach jenem genannten Marsch in den Regierungen, Medien und eben auch publizitätseifrigen, meinungsführenden Stiftungen jahrzehntelang im Besitz der Deutungshoheit sahen, in deren Erhalt bedroht. Die Gegenwaffe: Der Populismusvorwurf. Weil er so schön dehnbar und beliebig ist. Passt immer.
„Korrupte Eliten“ – ein Begriff, der einst für jeden, der sich links von der CDU positioniert hat, als in Stein gemeißelt galt. Das Feindbild par excellence. Heute, da die Union selbst in dieses Lager übergewechselt ist, und man sich dort seither gemeinsam gegenüber dem draußen vorgebliebenen Plebs auf der anderen Seite als einig elitär wähnt, da gilt der Begriff als Inbegriff von Verschwörungstheorie, als präfaschistisch populistische Formel. Dies jedenfalls spätestens, seit Donald Trump seinen Wahlkampf gegen die Eliten Washingtons führte, damit auch noch Erfolg hatte und jetzt die Angst umgeht, dass noch mehr von der Stimmung über den großen Teich zu uns herüberschwappt. Hilfe, die populistische Welle will den Eliten ans Leder!
Auf kluge Art für ein gesundes nationales Denken
Lesen wir einmal, was ein der Verschwörungstheorie gewiss unverdächtiger Philosoph und Politikwissenschaftler von der Harvard-Universität, der in Deutschland geborene Yascha Mounk (36), kürzlich in einem Interview der Süddeutschen Zeitung sagte:
„Die Rolle des Geldes in der Politik wird immer größer. Lobbyisten haben immer mehr Einfluss auf die Politik. Und die Politiker sind Teil einer Elite, die vom Großteil der Menschen relativ abgeschottet lebt. Gleichzeitig werden immer mehr Entscheidungen aus dem demokratischen Politikgeschäft herausgenommen. Die Rolle der Gerichte wird immer größer, auch der Einfluss der Zentralbanken, der internationalen Organisationen, und der Bürokratie – von der Europäischen Kommission in Brüssel bis hin zur Environmental Protection Agency in Washington – steigt. Zusammengenommen werden sehr viele wichtige Entscheidungen deshalb nicht mehr von gewählten Politikern gefällt. Das hat schon lange vor dem Aufkommen der Populisten die Demokratie in Teilen ausgehöhlt.“
Frage SZ: „Wir leben also auch in Deutschland gar nicht in einer liberalen Demokratie?“
Antwort Mounk: „Deutschland ist teilweise ein System von Recht ohne Demokratie, ein System des undemokratischen Liberalismus. Das liegt nicht nur an der Rolle des Geldes im politischen System – die zwar auch in Deutschland besorgniserregend ist, aber nicht annähernd in dem Maße wie in den USA. Hierzulande liegt es vor allem an den vielen bürokratischen Institutionen, die einen Großteil der Entscheidungen treffen. Die Macht des Bundestages ist in vielerlei Hinsicht eingegrenzt.“
(Ganz nebenbei ist dies ein sehr lesenswertes Interview, bei dem der sehr abgeschmackte und inflationär benutzte Begriff des „Querdenkers“ ausnahmsweise einmal sehr berechtigt ist. So spricht sich Mounk zum Beispiel auf kluge Art für ein gesundes nationales Denken aus, um den aggressiven Nationalismus zu bekämpfen).
Der Harvard-Professor Mounk, nichts als ein Populist, dem die Süddeutsche auch noch extra viel Raum, gewährt?
Okay, man könnte auch sagen: es hat sich im Grunde nichts geändert, und es ist eigentlich ganz einfach: Diejenigen, die im Besitz der Deutungshoheit sind, haben Angst um dieselbe und diffamieren diejenigen, die sie ihnen streitig machen wollen. Damals, vor 40 oder 50 Jahren, kam die Bedrohung und die Diffamierung des Establishments von links, von den „68ern“, um es etwas platt auszudrücken. Da lautete die Antwort der Etablierten: „Geht doch rüber!“. Heute, da die Bertelsmann-Stiftung, die sich im gesellschaftlichen und politischen Diskurs seit einiger Zeit mit teils fragwürdigen Studien auf die Seite des linken Establishments geschlagen hat, da lautet deren nicht minder grobschlächtige Antwort: „Populismus“.
Ist der Begriff „Volk“ bereits so angezählt?
Dass die Stiftung das Befürworten der „Volkssouveränität“ ebenfalls auf den Populismus-Index setzt, ist noch schwieriger nachvollziehbar, könnte sogar allen Demokraten ein wenig Angst machen. Geht die Stiftung vielleicht davon aus, dass der Begriff „Volk“ im Neudeutschen angesichts der chaotischen Zuwanderung bereits so angezählt ist, dass sich sämtliche Komposita damit von ganz allein negativ konnotieren? Offenbar. Dass laut Grundgesetz alle Staatsgewalt vom „Volk“ ausgeht, und dieses somit der „Souverän“ ist, das ist demnach Sprache von gestern. Inzwischen offenbar auch für die Bildungsinstitution Bertelsmann-Stiftung.
Bleibt noch die Frage, ob irgendjemand meint, dass auch nur einer der dingfest gemachten „Populisten“ von seiner Haltung gegen das Establishment und für die Volkssouveränität ablässt, weil er die Bertelsmann-Studie liest und sich ertappt fühlt? Wer das erreichen will, der hat ein hartes Stück Arbeit vor sich, kann ich da nur sagen. So oder so: Machen wir uns auf einiges gefasst, angesichts dessen, was hier dem gesellschaftlichen Diskurs als sprachliche Begleitung mit auf den Weg geschickt wird. Nichts ist unmöglich.