Berlin hat diese Woche die Verwirklichung eines sozialpolitischen Meilensteins bekannt gegeben: Eltern müssen für die Betreuung ihrer Kinder in Kitas oder bei Tagesmüttern ab 1. August keine Beiträge mehr zahlen. Die rot-rot-grün regierte Hauptstadt ist damit Vorreiterin, denn in keinem anderen Bundesland gibt es bisher eine komplett beitragsfreie Kinderbetreuung.
Darüber mag sich die eine freuen, der andere wundern. Solcherlei soziale Wohltat ist schließlich mit hohen Kosten für das Gemeinwesen verbunden, was Berlin eigentlich vor ein Problem stellen sollte. Nicht umsonst lautet Klaus Wowereits berühmtes Diktum über die Millionenmetropole: „Arm, aber sexy.“
In Wahrheit ist Berlin aber gar nicht arm. Genauso wenig, wie ein Hartz-IV-Empfänger arm ist. Der Sozialexperte und CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn hat den Sachverhalt überzeugend erklärt: Hartz IV bedeutet nicht Armut, Hartz IV ist die Antwort auf Armut. Ähnlich verhält es sich in Berlin, mit einem kleinen Unterschied. Berlins Antwort auf Armut heißt Bayern.
Süddeutscher Fleiß und Leistungswille sorgen dafür, dass sich in Gestalt des Länderfinanzausgleichs jährlich ein warmer Geldregen über das klamme Nordland ergießt. Damit ist sichergestellt, dass die Berliner Verwaltung ein menschenwürdiges Leben führen kann, und die schutzbefohlene Bevölkerung bekommt auch ihren Teil der Beute ab, wie es sich gehört.
So kommt es, dass die Berliner Bürger ab August gar keine Kinderbetreuung mehr bezahlen, die bayerischen Bürger dafür doppelt. Mit ihren Steuern finanzieren sie die Berliner Kitas, aus der Privatschatulle die eigenen. Wer das möglicherweise ein bisschen ungerecht findet, dem sei mit allem Nachdruck entgegengehalten: Unsinn!
Die Bayern ham’s ja
Denn erstens gilt: Die Bayern ham‘s ja. Zweitens: Die Bayern wollen es so. Wäre es anders, hätten sie sich längst selbst eine rot-rot-grüne Regierung zurechtgewählt, die zuverlässig mehr Geld ausgibt, als sie hat. Drittens gehört zur Gerechtigkeit auch der soziale Ausgleich. Der äußert sich zum Beispiel im Grundsatz „Jedem nach seinen Fähigkeiten“, und die sind nun mal unterschiedlich verteilt. Bayern kann besser Geld verdienen, Berlin kann dafür besser Geld ausgeben. Wenn also Berlin das von Bayern verdiente Geld ausgibt, ist allen geholfen. Eine klassische Win-win-Situation.
Ewige Nörgler behaupten zwar, Berlin sei nicht nur schlecht im Geld-Verdienen, sondern auch im Geld-Ausgeben. Aber das ist falsch. Sicher, die Berliner Polizei ist chronisch unterbesetzt und die am schlechtesten bezahlte in ganz Deutschland. Nur, wer sagt denn, dass dies ein Versehen oder gar Versagen ist? Kriminalität kann man anders bekämpfen, als der Bevölkerung immer mehr erlebnishemmende Ordnungskräfte zuzumuten. Hier kommt der Sexy-Faktor Berlins ins Spiel, die Kreativität.
Nur ein Beispiel: Der Görlitzer Park in Kreuzberg ist einer der lästigen sogenannten Kriminalitätsschwerpunkte. Dafür fand der im Herbst 2016 inthronisierte rot-rot-grüne Senat eine elegante Lösung. Die von der Vorgängerregierung im Park eingeführte Null-Toleranz-Zone wurde abgeschafft. Seitdem können sich die dort freiberuflich in der Pharmabranche tätigen Schwarzafrikaner wieder ungestört der marktwirtschaftlichen Nachfragebedienung widmen. Außerdem ergeben sich erfreuliche Auswirkungen auf die Kriminalstatistik. Ergebnis: Der Wirtschaftsstandort Berlin ist gestärkt und die PR verbessert. Zwei Aufgaben mit einem kreativen Schlag erledigt. So geht sexy!
Ja, der Berliner Senat weiß, was er tut. Eine Weltmetropole muss anders handeln als ein Kaff in der bayerischen Provinz. Ich gebe zu, bevor ich ein Zweitleben in Berlin begann, war mein Horizont beschränkt. Ich hatte keine umfassende Vorstellung von den vielfältigen Aufgaben und Verantwortlichkeiten einer Hauptstadtregierung. Heute weiß ich mehr.
Entweder a) stricken oder b) Zeitung lesen oder c) beides
Zur Verdeutlichung eine Begebenheit aus dem persönlichen Erfahrungsschatz: Vor einigen Jahren beantragte unsere Hausverwaltung bei der zuständigen Behörde die Erlaubnis zum Rückschnitt der Innenhofbäume. Die hatten sich im Laufe der Jahre bis Dachkantenhöhe emporgearbeitet und bereiteten durch Verschattung besonders den Bewohnern der unteren Etagen erheblichen Kummer.
Die Bezirksverwaltung Friedrichshain-Kreuzberg kündigte eine Klärung der Umstände an. An einem bestimmten Termin sei der Zugang zu den Erdgeschosswohnungen sicherzustellen. Eine zuständige Mitarbeiterin werde eine Prüfung vornehmen und die dafür benötigten Gerätschaften mit sich führen. Den Versuchsablauf beschrieb die Behörde wie folgt: Die Fachkraft werde gegen zehn Uhr vormittags in einem zum Hinterhof gelegenen Raum ohne künstliche Beleuchtung entweder a) stricken oder b) Zeitung lesen oder c) beides. So werde zuverlässig ermittelt, ob hinreichender Bedarf für mehr natürliches Licht besteht.
Erst da wurde mir bewusst, mit welcher Achtsamkeit und Fürsorge die Berliner Verwaltung vorgeht, auch um zum Beispiel einen angemessenen Interessenausgleich zwischen Mensch und Natur zu finden. Eine Stadt wie Berlin muss sich eben um so vieles kümmern, es geht nicht immer nur um Polizei. Wenn es jetzt Freikita für alle statt Gehaltserhöhung für Polizisten gibt, dann sicherlich aus gutem Grund. Man muss es einmal klar sagen: Die Berliner Jammerbullen sollten sich nicht so anstellen und mehr über das große Ganze nachdenken.
Nebenbei lehrte mich die Baumschnittprüfung übrigens noch etwas. Nämlich, wie sich die Berliner Verwaltung die prototypische Ausgestaltung eines Hauptstadt-Arbeitstages um zehn Uhr vormittags vorstellt: stricken oder Zeitung lesen. Oder beides.